Tag 429: San Marino

von Heiko Gärtner
11.03.2015 19:37 Uhr

Noch 6 Tage bis zu Heikos 2. Weltreisegeburtstag!

Vor vielen Jahren, als Heiko noch ein kleiner Junge war, hatte er San Marino das erste Mal mit seinen Eltern besucht. Damals war die Stadt für ihn eine einzige große Ritterburg gewesen, in der man lauter aufregende Dinge entdecken, mit Schwerter spielen und sich vorstellen konnte, wie es war, selbst ein mächtiger Raubritter mit einem schwarzen Ross zu sein. Diese Erinnerungen von damals hatten sich all die Jahre in seinem Kopf gehalten und bestanden darin noch immer fort. Bis heute.

Etwa dreißig Jahre später erreichten wir den kleinen Zwergstaat heute ein zweites Mal und nun bot sich Heiko die Gelegenheit, seine Erinnerungen aus der Kindheit mit der Wahrnehmung von heute abzugleichen. Es war fast, als wäre er nie hier gewesen. Bis wir am späten Nachmittag die Altstadt mit der Burg hoch oben auf dem Berggipfel erreichten, kam ihm fast nichts bekannt vor. War dies überhaupt das San Marino aus seiner Erinnerung? Oder gab es vielleicht doch mehr Zwergstaaten mit diesem Namen in Italien, als man allgemein annimmt? Erst als wir wieder oben auf den alten Mauern standen und die Klippen ins Tal hinunterblickten, das kehrte die Erinnerung zurück. Dies war wirklich die Burg, die der kleine Heiko damals erobert hatte. Nur hatte es zu dieser Zeit hier keine Autos und keine Baustellen gegeben. Jedenfalls nicht für ihn. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass San Marino vor 30 Jahren wirklich noch komplett ohne Verkehr gewesen ist, ist eher gering. Dafür sind unsere Fähigkeiten als Kinder, nur die Dinge wahrzunehmen, die wir wahrnehmen wollen, absolut verblüffend. Auch die unzähligen Souvenirshops, die sich entlang der Burgmauern aneinanderreihten, wie Perlen auf einer Schnur, kamen in Heikos Erinnerungen nicht vor. Das war mehr als nur verständlich, denn sie störten das Gesamtbild der mittelalterlichen Hochburg ungemein. Faszinierend war auch, was man hier alles kaufen konnte. Neben Ritter-, Elfen-, Feen-, Engel- und Dämonenfiguren gab es vor allem Waffen aller Art, sowohl als Spielzeuge, denn auch in Form von funktionierenden Tötungsgeräten. Mit dem Motto „Ritter“ ließ sich eben alles rechtfertigen. Das meiste von dem Krimskrams ließ sich nur deshalb verkaufen, weil es hier verkauft wurde. Würde man es im Ramschladen bei sich zu hause um die Ecke für ein Zehntel des Preises angeboten bekommen, würde man ihm nicht einmal eines Blickes würdigen. Auffällig war auch, dass alle Lädchen exakt die gleichen Waren anboten. Natürlich gab es unterschiedliche Ausrichtungen, aber überall wo man Ritterfiguren kaufen konnte, gab es die gleichen Figuren, überall wo Handtaschen angeboten wurden, wurden die gleichen Taschen angeboten und so weiter. Es war offensichtlich, dass alle zu einem einzigen Betreiber gehörten.

Doch auch wenn San Marino nicht mehr ganz der Erwartung von Heiko entsprach, war der kleine Stadtstaat einen Besuch wert. Vor allem um diese Jahreszeit, wenn die Stadt ruhig und fast verlassen daliegt und sich keine nie endenden Menschenmassen durch die schmalen Gassen drängen. Mit Ausnahme der City of London, einem kleinen Bankenstadtteil in der Londoner Innenstadt, der ebenfalls ein eigener Staat ist, haben wir mit San Marino nun die vier kleinsten Staaten Europas besichtigt: Den Vatikan, Monaco, San Marino und Andorra. Dabei muss ich sagen, dass mir San Marino von allen mit Abstand am besten gefallen hat. Klar mussten wir auch hier das letzte Stück an einer viel befahrenen Hauptstraße entlangwandern, doch verglichen mit Monaco und Andorra war das nicht der Rede wert. Auch konnte man den kleinen Staat anders als den Vatikan als solchen ernst nehmen. Klar ist auch San Marino nicht viel mehr als eine reine Touristenattraktion aber es gibt dennoch ein Eigenleben.

Lediglich unsere Ankunft in dem kleinen Zwergstaat war wieder einmal anspruchsvoller als geplant. In der Nacht hatte es so sehr gestürmt, dass wir fast nicht schlafen konnten. Der Wind riss an den Jalousien und verursachte damit einen Lärm, als hätte er die eine Hälfte des Gebäudes bereits eingerissen. Zwischen den Fenstern und Türen befanden sich Spalte von mehreren Millimetern. Trotz heruntergelassener Rollos und fest verschlossenen Fenstern wehte es immer wieder die Gardine ins Zimmer. Einige Male sprang sogar die Klotür auf, weil der Wind, der durchs geschlossene Badezimmerfenster hereindrückte einfach zu stark war.

Dementsprechend gerädert wälzten wir uns heute Morgen aus den Betten. Die anderen Gäste waren bereits wach und konnten es kaum erwarten, über uns herzufallen. Es waren wirklich liebe Leute, doch sie konnten schon etwas ansträngend sein, wenn sie einen beim Arbeiten oder beim Packen umringten und einem fast die Nasen an die Stirn drückten, um zu erfahren was wir so machten. Auch die immer gleichen Fragen sorgten dafür, dass das Entspannungslevel nach einiger Zeit rapide sank. Sie waren eben hier, weil sie geistige oder psychische Probleme hatten und die meisten von ihnen, waren nicht die schnellsten, was das Denken anbelangt. Trotzdem oder gerade deswegen zählten sie zu den offenherzigsten und interessiertesten Menschen, denen wir in Italien begegnet sind. Nur eben auch zu den anstrengendsten.

Der Sturm hatte glücklicherweise etwas nachgelassen und es kam sogar ein bisschen die Sonne durch. Die Wanderung war fast genauso anstrengend wie unsere Zimmernachbarn, da es permanent bergauf ging. Aber damit musste man wohl rechnen, wenn man einen Bergstaat besuchen wollte. Plötzlich gaben die Berge vor uns die Sicht auf San Marino und auf die unendlich weite Ebene dahinter frei. Seit wir begonnen hatten der Via Francigena zu folgen, konnten wir nun das erste Mal wieder das Meer sehen. Irgendwo da hinten lag Cattolica, der Urlaubsort, in dem Heiko als Kind mit seinen Eltern die Ferien verbracht hatte. Und davor ragte ein gewaltiger Felsen in den Himmel empor, auf dessen Spitze eine kleine Burg zu sehen war. Dies war San Marino.

Kurz darauf erreichten wir die ersten Nebenorte von San Marino und mit ihnen auch die erste Kirche. Es war ein gewaltiger, moderner Betonkomplex, in dem man locker eine ganze Armee unterbringen konnte, doch der Pfarrer war der Meinung, dass für Pilger hier kein Platz wäre. Stattdessen gab er uns die Adresse eines Klosters, in dem einige Schwestern lebten, die sich um Reisende kümmerten. Es lag jedoch auf der anderen Seite von San Marino und so mussten wir erst einmal außen um den großen Felsen herum. Eine Frau an einer Bushaltestelle beschrieb uns den Weg und deutete auf das Klostergebäude. Es war ebenfalls ein hochmoderner Betonkomplex, so wie es der Pfarrer beschrieben hatte. Der einzige Haken war nur, dass dieses Kloster rund zweihundert Höhenmeter unterhalb von San Marino im Tal lag. Für unsere Stadtbesichtigung also nicht gerade der ideale Ausgangsort.

Als wir das Kloster erreichten mussten wir jedoch feststellen, dass uns die Frau mit absoluter Überzeugung in die komplette Irre geführt hatte. Es war zwar ein Kloster, aber eben das falsche. Zunächst schien das jedoch nicht weiter tragisch, denn mit den Clarissa-Schwestern hatten wir ja bereits gute Erfahrungen gemacht. Eine junge Frau war gerade im Begriff die Nonnen zu besuchen und legte sogar noch ein gutes Wort für uns ein. Was sollte also schiefgehen? Die Nonne an der Tür, fragte uns, welche Art von Zimmer wir bräuchten, da es Einzelzimmer, Doppelzimmer, Zimmer mit Bad und Zimmer, bei denen man das Bad irgendwo auf dem Gang finden konnte gab. Dann wollte sie unsere Personalausweise haben und bat uns unsere Wagen zu einem Nebentor zu bringen. Als sie dort erschien war sie den Tränen nahe. Die Mutter Obere, die zuvor noch Ja gesagt hatte, hatte ihre Meinung nun geändert und wolle uns doch nicht aufnehmen. Sie könne da leider nichts machen. Wir müssten also doch weiter zu Schwester Norma, deren Kloster in vier Kilometern Entfernung oben auf dem Berg lag. Die Junge Frau verstand die Welt nicht mehr. Was sollte das denn jetzt? Das ganze Kloster war frei, die Nonne hatte bereits damit begonnen alles vorzubereiten und jetzt wurde uns abgesagt, weil der Obernonne der Pups quer stand? Vor ein paar Tagen hätte ich wahrscheinlich noch nichts weiter dazu gesagt. Klar hätte ich mich auch das schon darüber geärgert, aber jetzt wo ich gerade herausgefunden hatte, dass die Klarissen als eine ihrer drei Grundsätze die Gastfreundschaft fest in ihrem Orden verankert hatten, da fühlte es sich doch noch einmal anders an. Nur konnte man der Nonne, die uns gegenüberstand nicht einmal böse sein, denn sie konnte j nichts dafür. Der einzige Vorwurf den man ihr machen konnte war, dass sie sich einer solchen Obernonne unterordnete.

Die junge Frau hatte die Idee, den Pfarrer in der Kirche neben dem Kloster nach einem Platz zu fragen und begleitete uns dort hin. Doch der dicke griesgrämige Mann zuckte nur mit den Schultern und meinte: „Aha, und warum ist das mein Problem?“

Wir blieben nicht, bis er seine Rede zur Rechtfertigung beendet hatte, sondern machten uns wieder an den Anstieg. Auf halbem Wege kamen wir dann an einem alten Kloster vorbei, das den Namen Santa Maria trug. Bereits auf dem Hinweg hatten wir es gesehen und sowohl Heiko als auch ich hatten bei seinem Anblick das Gefühl gehabt, dass es ein guter Platz war. Nur dachten wir da noch, dass wir eine Verabredung hatten. Jetzt klingelten wir an der Tür und kurz darauf wurden wir von einem freundlichen und erfrischend unkomplizierten Mann zum Übernachten eingeladen. Er lebte als einziger in dem Kloster und unser Schlafraum war aufgrund mangelnder Belegschaft zu einem Zimmerpflanzenfriedhof umfunktioniert worden, aber das störte uns nicht weiter. Von hier aus hatten wir dann doch einen guten Ausganspunkt für unsere Stadterkundung.

Spruch des Tage: Nicht Menschen machen Reisen sondern Reisen macht Menschen!

 

Höhenmeter: 650 m

Tagesetappe: 27 km

Gesamtstrecke: 7853,77 km

Wetter: Kalter Wind, Wolken aber immer wieder auch Sonne

Etappenziel: Monasterio Santa Maria, 47893

San Marino, San Marino

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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