Tag 430: Querfeldein

von Heiko Gärtner
11.03.2015 19:47 Uhr

 Noch 5 Tage bis zu Heikos 2. Weltreisegeburtstag!

Als wir gestern auf dem Gipfel des Berges von San Marino standen waren wir uns sicher: Dies war der letzte Tag, an dem wir durch die Berge gewandert sind. Der Blick nach vorne zeigte ein flaches, ja fast übertrieben platt wirkendes Land, das nahezu übergangslos ins Meer über ging. Diese Flachebene zog sich nach Norden bis zum Horizont hin. Bis wir in die Region von Triest kämen, dürften Höhenmeter also kein Thema mehr sein.

Doch weit gefehlt. Wenn man das Land nicht mehr von oben sondern aus der Frontperspektive betrachtete, dann war es durchaus noch hügelig. Wirklich hügelig sogar. Nie hätten wir gedacht, dass wir heute steilere und anstrengendere Weg meistern würden, als wir es gestern und vorgestern getan hatten.

Doch das war nur eine Herausforderung die wir zu bewältigen hatten. Die zweite war diese unsichtbare Schlinge, die San Marino um unsere Füße gewunden hatte. Es war das gleiche Netz, in dem wir uns bereits in Rom und auch an einigen anderen Orten verfangen hatten. Wie durch eine unsichtbare Macht wurden wir immer wieder davon abgehalten voranzukommen und San Marino hinter uns zu lassen. Wahrscheinlich sind wir heute so oft im Kreis gelaufen, dass wir nun jeden einzelnen Winkel des Zwergstaates gesehen haben. Immerhin können wir jetzt behaupten, dass wir die Besichtigung ernst genommen haben.

Bereits in den ersten Metern nach Verlassen des Klosters kamen wir von dem Weg ab, den ich eigentlich zuvor bei Google rausgesucht hatte. Wir standen also ohne Karte und Wegbeschreibung da und mussten frei nach Intuition und Sonnenstand wandern. Das dürfte ja eigentlich nicht so schwierig sein, denn das Land vor uns war flach und wir wollten einfach irgendwo ans Meer. So jedenfalls dachten wir heute Vormittag. Wenige Minuten später mussten wir jedoch feststellen, dass wir einer optischen Täuschung erlegen waren, was die Plattheit des Landes anbelangte. Zumindest im Umkreis von San Marino war der Erdboden in Urzeiten immer wieder tief abgerutscht oder zu großen Haufen aufgetürmt worden. Wer oder was dafür verantwortlich war, kann ich nicht sagen, aber wenn wir ihn erwischen, dann hätten wir nach dem heutigen Tag schon ein Wörtchen mit ihm zu bereden.

So schön San Marino auf der einen Seite auch war, es hatte den gleichen unsympathischen Hang wie Italien, seine Straßen einfach ins Nichts verlaufen zu lassen. Ich meine, wofür wurden Sackgassenschilder denn erfunden, wenn man sie nicht aufstellt? Und wenn man sie schon aufstellt, gehören sie dann nicht an den Anfang einer Straße? Was ist das für eine Machart, die Leute erst zweieinhalb Kilometer fahren zu lassen und dann ein Schild aufzustellen mit „Sackgasse in 450m“? Da kann man es sich doch auch gleich sparen! Wenn es zu diesem Zeitpunkt noch eine Alternativmöglichkeit geben würde, dann ist das ja OK, aber auf einer geraden Straße von der es keine einzige Abzweigung gibt? Das ist schon etwas unfair, findet ihr nicht?

Da uns die Straßen nicht weiterhalfen entschieden wir uns, einfach querfeldein zu wandern. Wenn so dicht vor dem Meer ein Bach in eine Richtung floss, dann musste er doch irgendwann auch im Meer landen! Oder etwa nicht? Wir folgten den Talverläufen wateten durch kleine Bäche, staksten wie zwei Störche im Schlamm herum und kraxelten, wenn es nicht weiter ging wie zwei Bergziegen wieder den Hang hinauf. Irgendwann kamen wir dann in ein Tal, in dem es wieder eine Ortschaft und Wegweiser mit der Aufschrift „Rimini“ gab. Von jetzt an, sollte es also wirklich kein Problem mehr sein!

Erst hier stellten wir fest, dass wir uns noch immer innerhalb der Staatsgrenzen von San Marino befanden. In der folgenden halben Stunde verließen wir den Kleinstaat mindestens vier Mal, nur um dann wenige Meter weiter wieder zurück über die Grenze zu treten. Glücklicherweise gab es hier keinen Zoll mehr, sonst wäre das echt eine langatmige Prozedur gewesen. Das Problem bestand darin, dass die einzige direkte Straße, die aus San Marino hinausführte eine vierspurige Schnellstraße war, an der man unmöglich entlangwandern konnte. Und damit meine ich wirklich unmöglich! Wir haben es vier Mal versucht und jedes Mal wieder abgebrochen. Plötzlich hielt ein Mann vor uns, der gerne ein paar Fotos von uns machen wollte. Wir hatten nichts dagegen. Er war auf seine Art ein freundlicher Kerl, der jedoch die leicht unangenehme Art hatte, einem anderen Menschen nicht zuzuhören, sondern lieber zu raten, wie dieser seinen Satz wohl beenden würde. Er fragte uns nach unserer Reiseroute und noch ehe wir etwas darauf erwidern konnten, hatte er sich schon seine eigene zurechtgelegt. Wir nickten sie nur noch ab, denn ihn zu korrigieren wäre aussichtslos gewesen. Dann fragten wir ihn nach einem Alternativweg und er zählte ein paar Dörfer auf, durch die wir wandern könnten.

„Danke!“ sagte ich, und holte einen Zettel aus der Tasche, „könnten sie uns vielleicht aufschreiben, wie...“

„Ah,“ sagte er, „ihr wollt meinen Namen!“ Er schnappte sich den Zettel und Schrieb seinen Namen darauf.

„Ok,“ setzte ich erneut an, „das ist nett aber eigentlich wollten wir...“

„Richtig!“ lenkte er ein, „ihr habt vollkommen Recht! Der Name hilft euch ja gar nichts, ihr braucht natürlich auch meine Mail-Adresse! Wisst ihr, wenn ihr wirklich einmal um die Welt gewandert seit, dann müsst ihr mir schreiben und erzählen, wie es war! Und dann können wir ja einen regelmäßigen Mailaustausch pflegen.“

„Danke!“ sagte ich und holte zu einem dritten Anlauf aus: „Die Orte! Können sie uns bitte noch die Namen der Orte aufschreiben, durch die wir wandern müssen? Wir können sie uns unmöglich merken!“

Diesmal hatten wir Glück und er schrieb uns die Informationen auf, die wir brauchten. Als wir eine gute Stunde später den Ort erreichten, den er ganz oben auf die Liste geschrieben hatte, waren wir ungefähr hundert Meter oberhalb und hundert Meter westlich von einem Einkaufszentrum entfernt, an dem wir bereits zwei Stunden zuvor entlanggewandert sind. Wir hatten also einen Umweg von locker acht Kilometern und 250 Höhenmetern gemacht, nur um zum Ausgangsort zurückzukommen. Und noch immer waren wir in San Marino.

Völlig erschöpft legten wir uns auf einen Parkplatz neben der kleinen Kirche. Vielleicht hatten wir ja Glück und der Pfarrer tauchte irgendwann auf, während wir hier lagen. Und wenn nicht, dann wirkte der Parkplatz zum Übernachten auch recht einladend. Zumindest jetzt in dem Moment, in dem die Sonne noch schien. Vielleicht sollten wir einfach liegen bleiben, bis sie am Morgen wieder aufging.

Das mussten wir glücklicherweise nicht. Der Pfarrer kam und wir bekamen einen Raum in dem wir sogar eine Küche hatten. Zunächst war er jedoch noch von den Kommunionskindern belegt und da wir schon einmal da waren, wurden wir gleich noch zu Anschauungsobjekten für den Unterricht: „Seht ihr Kinder, die beiden jungen Männer hier sind Pilger, die auf ihrer Glaubensreise von Deutschland bis hier her gewandert sind. Alles zu Fuß, könnt ihr euch das vorstellen?“ Einige Kinder spielten im Handy, andere kicherten vor sich hin und wieder andere begannen wild damit zu winken und „Bongiorno!“ zu rufen. Das Interesse am Unterricht schien also im Allgemeinen nicht allzu hoch zu sein.

Die Unterrichtszeit der Kinder nutzten wir genauso, wie wir es auch in unserer eigenen Schulzeit hin und wieder gemacht hatten. Wir gingen einkaufen.

In Falciano selbst gab es nur einen einzigen Obsthändler, der uns aber nicht unterstützen wollte und so mussten wir den Berg hinab in die Stadt wandern. Dabei kamen wir in exakt jener Straße heraus, in der wir bereits am Mittag gewesen waren. Wir hatten einen Mann vor einem Café gefragt, ob es hier in der Nähe einen Pfarrer gab und er hatte uns den Weg zu einer Kirche hoch oben auf dem Berg beschrieben. Das war uns jedoch zu weit uns zu anstrengend gewesen, weshalb wir uns dagegen entschieden hatten. Hätten wir es doch nur besser gewusst.

Ein kleiner Gemüsehändler versorgte uns mit ausreichend Grünfutter, doch für weitere Zutaten mussten wir im naheliegenden Supermarkt etwas von unseren Spendengeldern opfern. Dabei fiel uns auf, dass sich das Angebot in San Marino deutlich von dem in Italien unterschied, obwohl es die gleiche Supermarktkette war. In Italien jedoch war die Auswahl an Lebensmitteln so verschwindend gering, dass man fast nicht mehr damit kochen konnte. Hier gab es hingegen alles, was man sich nur vorstellen konnte. Dafür allerdings auch zu Preisen, die einen Schwindelig machten. Spannend waren aber vor allem die Ungereimtheiten in der Preisfindung, die zeigten, wie sehr die Preisgestaltung eine Willkür der Industrie ist. So kosten 6 Eier beispielsweise 1,89€. Eine Flasche mit einem Liter reinem Eiweiß, in der rund fünfzig Eiger verarbeitet wurden, die dann auch noch von Schale und Eigelb getrennt werden mussten, kosteten nur etwas mehr als 3€. Wie konnte so etwas sein? Warum war ein Ei mit Schale mehr als das 16fache von bereits verarbeiteten Eiern wert? Seht ihr da eine logische Erklärung?

Auf dem Heimweg kamen wir an einem Kiosk vorbei, der die Tageszeitung in seinem Fenster ausgestellt hatte. Der Artikel auf der Titelseite lautete: „Wolf in Borgo Maggiore gesichtet!“ Borgo Maggiore, das war der Ort, in dem wir gestern übernachtet haben. Wir hatten ja bereits vermutet, dass es hier Wölfe gibt und Heiko war ja sogar schon über ihre Spuren gestolpert. Doch wenn sie sich bereits in den Städten blicken ließen, dann musste es noch weit mehr geben, als wir geglaubt hatten.

 

Spruch des Tage: Es fällt uns so schwer zu vertrauen, weil es anderen so schwer fällt zu lügen.

 

Höhenmeter: 620 m

Tagesetappe: 33 km

Gesamtstrecke: 7886,77 km

Wetter: größtenteils sonnig mit zügigem Wind

Etappenziel: Gemeindehaus, 47891 Falciano, San Marino

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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