Tag 431: Rimini

von Heiko Gärtner
11.03.2015 19:59 Uhr
Noch 4 Tage bis zu Heikos 2. Weltreisegeburtstag!

San Marino haben wir nun doch endgültig hinter uns gelassen. Diesmal ohne es zu merken. Irgendwann wurden die Nummernschilder der Republik San Marino immer seltener und die mit dem altbekannten I übernahmen die Vorherrschaft. Ein Grenzschild sahen wir jedoch nicht.

Auch die Hügel wurden nun zusehends flacher und die meiste Zeit führte uns der Weg bergab, bis wir schließlich die Meereshöhe erreicht hatten und mehr oder minder gerade nach Rimini einmarschieren konnten. Als wäre es ein physikalisches Naturgesetz, nahm mit dem Verschwinden der Berge der Verkehr wieder zu. Wie kamen wir Menschen eigentlich darauf, die größten Straßen immer dort hin zu bauen, wo man auch am besten wandern konnte? Für ein Auto machte es doch überhaupt keinen großen Unterschied, ob es einen Berg hinauf und hinunterfuhr. Klar, der Spritverbrauch änderte sich dadurch schon etwas, aber der Fahrer im Inneren gerät dabei nicht ins Schwitzen, so wie es ein Wanderer oder Fahrradfahrer tut, wenn er einen Berg hinauf muss. Dafür zerstört ein Wander- oder Fahrradweg keine ganzen Täler, anders als es eine Autobahn oder Schnellstraße macht. Doch auf diese Tatsachen wird beim Straßenbau niemals wert gelegt. Zumindest hier nicht. Ist es nicht verrückt, dass der Mensch, bei der Planung seiner eigenen Weltgestaltung überhaupt keine Rolle zu spielen scheint? Wir bauen die Straßen nicht damit es uns als Menschheit besser geht, sondern damit wir als Firmen mehr Profit machen, als Fahrer schneller vorankommen, als Bauunternehmen mehr arbeiten und als Staat mehr Steuern einnehmen können. Es ist fast, als kämen Menschen in diesem System überhaupt nicht vor.

Das gleiche Bild zeichnete sich auch in Rimini ab. Heiko hatte auch hier als Kind einmal Urlaub gemacht und hatte ebenso wie von San Marino noch einige verschwommene Bilder im Kopf. Ich kannte Rimini nur von einer uralten Post-Werbung, bei der einige Babys in einem Raum saßen und sie unterhielten als wären sie Erwachsene. Ein kleiner Junge hat dabei einem Mädchen von Rimini vorgeschwärmt und wollte es dahin ausführen. Ich habe keine Ahnung, warum ich mich an diese Werbung noch erinnere, aber irgendwie ist die offensichtlich hängen geblieben. Für mich war Rimini daher ein unbekannter, fast mysteriöser Ort irgendwo auf der Welt, der einen lustigen und gleichzeitig wohlklingenden Namen hatte. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal wirklich hierher reisen würde und erst recht nicht zu Fuß.

Jetzt, wo ich hier bin, muss ich jedoch sagen, dass es auch keine Reise wert ist. Es gab schon viele Orte, die uns als besonders sehenswert angepriesen wurden und von denen wir dann eher endtäuscht wurden. Hier jedoch scheint es einfach überhaupt nichts zu geben, das einen Sommerurlaub auf irgendeine Weise rechtfertigen würde. Abgesehen natürlich, von einem Sandstrand und einer recht hohen Wahrscheinlichkeit dass sie Sonne scheint. Aber ist das allein wirklich Grund genug? Rund zwei Drittel der Erde sind von Meer bedeckt, was bedeutet, dass es unendlich viele Küsten und Strände gibt, was also lockt die Millionen von Sonnenurlauber ausgerechnet hier her. Auch Heiko konnte nicht mehr ganz nachvollziehen, was ihm als Kind hier gefallen hatte. Dies ist eben wieder der Vorteil von kleinen Kindern. Gib ihnen einen Strand, die Möglichkeit Burgen zu bauen und in den Wellen zu spielen und sie sind glücklich, egal, wie es um sie herum aussieht. Als Erwachsene schafft man das nicht mehr ganz so einfach. Dann nimmt man auch die gewaltigen Bettenburgen war, die sich dicht an dicht am Strand aneinanderreihen und die ihre langen Schatten in Richtung Meer werfen, so dass man von der Sonne kaum noch etwas abbekommt. Dann registriert man auch die vielen Autos, die wieder, wie auch an der Westküste, direkt an der Strandpromenade vorbei fahren. Dann schafft man es nicht mehr, über den Müll und die vielen Anzeichen des Verfalls hinwegzusehen, die überall präsent sind. Im Sommer mag das etwas anderes sein. Wenn man sich die kleinen, in durchnummerierte Parzellen eingeteilten Strandabschnitte mit tausenden anderer Touristen teilt und die Promenade so überfüllt ist, dass man den Boden nicht mehr sehen kann, dann fallen einem solche Details wahrscheinlich nicht mehr auf. Einfach deshalb, weil der Blick darauf versperrt wird. Aber jetzt im Winter zeigen die Häuser, die Buden, die Straßen, Gassen und Wege ihr wahres Gesicht. Die Farbe, die in der Hauptsaison über die rostigen Geländer und Schirmständer gepinselt wird, um zu kaschieren, wie kaputt sie bereits sind, ist längst schon wieder abgeblättert. Der Sand ist vom Strand bis weit auf die Straße hinausgeweht, doch jetzt außer der Saison kümmert sich niemand darum, ihn wieder wegzuräumen. Zwischen den Strandhütten sitzen nun die Obdachlosen und freuen sich darüber, dass sie in Ruhe ihr Bier trinken können. Wenigstens sie machen das Beste aus der Situation.

In einem Restaurant bekamen wir eine Schale mit Pommes und etwas gegrilltes und frittiertes Gemüse. Damit setzten wir uns an eine verlassene Imbissbude am Strand und streckten unsere Beine in die Sonne. Im Sommer musste genau hier an dieser Stelle auch die Hölle los sein, doch jetzt sah es aus, wie nach einem Armageddon. Von der Decke hingen einige Fetzten von einem samtenen Leopardenstoff, die an eine Holzleiste getackert waren. Die Leiste selbst war unter den vielen Krampen kaum noch zu sehen, was darauf hindeutete, dass jedes Jahr ein neuer Stoff darübergepappt wurde. Das erklärte auch den angsteinflößend schlechten Zustand der Decke. Man brauchte sie nicht reparieren, neu streichen, vom Rost und Schimmel befreien oder das aufgequollene Holz erneuern, wenn man einfach einen neuen Stoff davor hing, der alles verdeckte.

Auf unserem Weg am Strand entlang zählt Heiko im Kopf grob zusammen, wie viele Betten und Strandliegeplätze es hier geben muss. Er kommt auf rund 2 Millionen. Zwei Millionen Menschen, die gleichzeitig hier Urlaub machen können und die jede Woche wieder abreisen und neuen Platz machen. Es ist das reinste Sardinenfestival, wobei Sardinen in ihrer Dose wahrscheinlich noch mehr Platz haben. Bis vor kurzem haben wir wirklich noch gedacht, die Massentierhaltung in den Hühnchenfarmen sei Tierquälerei, doch verglichen mit dem hier haben die kleinen Federwesen sogar noch richtig viel Freiheit. Kein Wunder, dass es uns Menschen egal ist, wie die Nahrungsmittelindustrie mit den Tieren umgeht, wenn wir uns selbst freiwillig das gleiche antun und das ganze dann auch noch Urlaub nennen. Jedem Hotel ist ein Strandabschnitt zugeordnet, auf dem sich die Gäste niederzulegen haben. Als Familie, so erinnerte sich Heiko noch an seine Erfahrung aus der Kindheit, bekommt man dabei einen Sonnenschirm, zwei Liegen und zwei Stühle zugeteilt. Man kann sich also entscheiden, ob man seinen Kindern oder sich selbst die Entspannung gönnen will. Liegen für alle ist nicht drin, denn dafür ist nicht genug Platz. Wie aber will ich einen Urlaub genießen und zur Regeneration nutzen können, wenn ich dabei noch mehr eingepfercht werde und noch weniger Freiheiten, Ruhe und Zeit für mich habe als in meinem Berufsalltag? Der Vergleich mit der Massentierhaltung war kein Witz. Man kann andere nur so sehr lieben, wie man sich selbst liebt und wenn man bereit ist, sich selbst solch eine Selbstverstümmelung anzutun, wie will man sich dann um das Wohl anderer kümmern? Vor allem um das Wohl eines anonymen Stückchen Fleischs, dass gebraten auf unserem Teller liegt?

Irgendwo in der Nähe der Innenstadt konnten wir einen Schlafplatz in einem Cappucciner-Kloster auftreiben und von dort aus unsere Erkundungstouren machen. Doch selbst hinter den dicken Klostermauern hörte man den Verkehr noch immer so laut als wäre man mitten auf der Straße. Dazu erzeugten sie jedoch noch eine Art Überschall, ein dumpfes Brummen, dass wie ein verpolter Subhoover klingt. Nicht gerade ideale Voraussetzungen, um als Mönch in der Stille zu Gott zu finden. Wie krass muss es dann erst in den teuren Hotels sein, die ebenfalls direkt an dieser Straße gebaut wurden und die dünnere Wände und Fenster haben? Kann es wirklich Sinn der Sache sein, dass man nach einem Sommerurlaub, der eigentlich Entspannung bringen soll mit einem permanenten Dröhnen im Schädel wieder heimfährt?

Vom Strand aus wanderten wir ins Stadtzentrum, oder besser gesagt, in die Richtung, die mit „Stadtzentrum“ ausgeschrieben war. Denn ein richtiges Zentrum konnten wir lange Zeit nicht finden. Irgendwann standen wir auf einem eckigen Platz mit einigen Geschäften und Kirchen um uns herum und akzeptierten ihn als Mittelpunkt der Stadt. Als sehenswert empfanden wir ihn nicht. Abgesehen von einem Obdachlosen, der seelenruhig vor einer Kirche in der Sonne auf dem Gehsteig schließ, gab es nichts Interessantes. In jeder anderen Stadt auf dem Weg wäre es nicht einmal eine Erwähnung wert gewesen. Auch das erklärte also nicht, was all die Menschen hier her lockte.

Schließlich setzten wir uns vor einen kleinen Supermarkt und machten das, was auch der Obdachlose vor der Kirche getan hatte. Wir sonnten uns und genossen das Leben. Am Strand war es dafür leider etwas zu laut gewesen und auch der Wind war zu stark. Dafür hatten wir dort jedoch einen kleinen Steg gefunden, auf dem man bis weit ins Meer hineinlaufen konnte. Eigentlich durfte man es nicht, aber die Absperrung war nicht besonders hoch. Der Steg bestand komplett aus Eisengitter und so kam es, dass die vom Wind aufgepeitschte See ihre Wellen immer wieder zu uns nach oben spritzen ließ, so dass wir schnell hochspringen oder uns auf das Geländer retten mussten. Es stimmte also doch nicht ganz! Auch wir waren noch in der Lage, alles andere um uns herum zu vergessen und uns über das Spiel mit den Wellen zu freuen.

Jetzt vor dem Supermarkt begannen wir eine neue Leidenschaft zu entdecken. Paulina war bereits bei ihrem ersten Besuch bei uns ein begeisterter Fan von Seifenblasen gewesen und hatte sich in diesem Gebiet bereits zu einer richtigen Künstlerin entwickelt. Auch uns hatte sie damit angesteckt und als wir gestern durch Zufall zwei kleine Fläschchen mit Seifenblasenlotion gefunden hatten, konnten wir nicht widerstehen. Jetzt war die perfekte Gelegenheit um unser neues Spielzeug auszuprobieren. Dabei faszinierten wir nicht nur uns, sondern auch die Passanten und bekamen zunächst 6€ und dann eine Tüte mit Bananen, Birnen, Karotten und Tomaten geschenkt. So ließ sich das Leben aushalten! Man machte etwas, das einem selber Freude bereitete und das das innere Kind zum jubeln brachte und gleichzeitig verdiente man sich damit noch sein Abendessen.

Spruch des Tages: Unser Planet braucht keine weiteren Erfolgsleute. Der Planet braucht mit Bestimmtheit mehr Friedensstifter, Heiler, Bewahrer, Geschichtenerzähler und Liebende aller Art. (Dalei Lama)

 

Höhenmeter: 120 m

Tagesetappe: 30 km

Gesamtstrecke: 7916,77 km

Wetter: Sonnig mit zügigem Wind

Etappenziel: Kloster der Cappuccini-Brüder, 47921 Rimini, Italien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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