Tag 440: In der Zwischenzeit

von Heiko Gärtner
22.03.2015 01:09 Uhr

Die Tage, in denen ich euch von den Ereignissen in Fukushima erzählte, waren in hier Italien weitgehend ereignislos. Hauptsächlich bestanden sie darin, durch eine immer gleiche Felder-Landschaft zu wandern und Hintergründe über Atomkraft und Familiensystheme herauszufinden. Trotzdem schaffte es das Universum uns mit kleinen Botschaften und schicksalshaften Anekdoten bei Laune zu halten. Und wenn es nur die Wahl des abendlichen Fernsehprogramms ist. Vor drei Tagen habe ich Angefangen, mich in die Thematik mit den Vertuschungen um die Atomkraft einzuarbeiten und Heiko hat am gleichen Tag mit den familiären Verstrickungen um die Vaterrolle begonnen. Nach Feierabend haben wir uns dann den fünften Teil von Stirb Langsam angeschaut und waren vollkommen perplex, als es bei diesem Film genau um diese beiden Themen in Kombination ging. Wie wahrscheinlich ist denn so etwas.

Tagsüber herrscht im Moment noch immer ein Gleichklang, wie er stärker kaum sein könnte. Die Landschaft bleibt gleich, das Essen ist fast immer das gleiche und auch die Begegnungen mit Menschen verlaufen fast immer auf die gleiche Art und Weise. Wirkliche Gespräche gibt es so gut wie nie. Nur das lustige Frage-Antwort-Spiel, dessen Spielregeln so begrenzt sind, dass sie sich komplett auf das Wo-Kommst-Du-Her-Wo-Gehst-Du-Hin beschränken. Jedes Mal, wenn wir uns von Menschen, die uns auf der Straße angesprochen haben, wieder verabschieden, kommt in uns die Frage auf, ob das Gespräch einem der Beteiligten irgendetwas gebracht hat. Und fast immer müssen wir verneinen. Wir haben nichts erfahren und auch nichts teilen können. Es gab keine herzliche Verbindung, nichts Lustiges und auch nichts Interessantes. Und die anderen sind nach dem Gespräch ebenfalls noch immer so schlau wie zuvor, denn meist beantworten sie sich ihre Fragen selbst oder fragen nur Dinge, die eh so offensichtlich sind, dass sie sie bereits selbst erkennen können. Früher waren bei solchen Gesprächen manchmal wenigstens noch Spenden für uns drin und hin und wieder waren sie sogar die Basis einer Übernachtungs- oder Essenseinladung. Doch hier haben wir schon längst jede Hoffnung aufgegeben, dass etwas derartiges dabei herauskommen könnte. Wenn uns in Frankreich oder Deutschland jemand gefragt hatte wo wir die Nacht verbringen würden, dann war das fast immer eine indirekte Einladung gewesen. Hier war die Reaktion auf unsere Antwort hingegen nur ein kühles Schulterzucken und ein: „Oh, naja, dann viel Glück bei der Suche!“

Auch was das Essen angelangt ist Italien schwieriger als jedes andere Land. Die kleinen Läden haben fast immer geschlossen, außer zu Zeiten an denen wir sie nicht brauchen. In Spanien haben wir die Siesta schon oft nicht verstanden, doch hier ist sie uns ein größeres Rätsel als je zuvor. Was macht es für einen Sinn, wenn in der Mittagszeit sämtliche Nahrungsmittelgeschäfte, Bars und Restaurants geschlossen haben, die Bauarbeiter jedoch weiter rum hantieren und Lärm verursachen. Sollte Siesta nicht eine Ruhe- und Entspannungshase sein, in der man die heißeste Tageszeig genießt? Ich weiß nicht wie ihr das seht, aber für mich gehört essen zu so einer Phase eher dazu als Lärm.

Doch wenn die kleinen Geschäfte wegfallen, dann bleiben als Alternative nur noch Supermärkte und Privatpersonen. Und letztere sind hier so verschlossen, dass man sich nicht einmal mehr traut, sie um etwas zu bitten. So kommt es, dass wir nun schon seit Tagen und Wochen einen Großteil unserer Nahrung selbst einkaufen müssen und somit also von den Reserven leben, die wir zuvor gespendet bekommen haben. Gleichzeitig kommen aber so gut wie keine neuen Spenden rein und das macht die ganze Sache langsam etwas komplex. Vor allem, weil die Nahrungspreise in Italien so unerhört hoch sind, dass man sie kaum noch überblicken kann. Billig sind vor allem Teigwaren, aber die fallen für uns ja raus. Bleiben also noch Reis und Tomatensauce. Frisches Gemüse ist hingegen ebenso unbezahlbar wie Fleisch oder Eier. Das perverse an der Sache ist jedoch, dass sich die Qualität der Waren dadurch ja kein bisschen Verändert. Die Hühnchenfilets stammen hier von den gleichen Hühnchen aus Massentierhaltung wie in Deutschland, sind aber dreimal so teuer. In Deutschland hingegen argumentiert die Hühnchenfleischindustrie damit, dass die Tiere nicht artgerechter gehalten werden können, weil sie dann zu teuer werden. Was macht denn das für einen Sinn? Wenn die Italiener mit ihrem deutlich geringeren Gehalt bereit sind den dreifachen Preis für schlechtes Fleisch auszugeben, wieso sollte man dann in Deutschland für das gleiche Geld kein gutes produzieren können?

Für uns ist das Ergebnis jedenfalls, dass wir inzwischen so gut wie jede nur erdenkbare Variation gekocht haben, die man mit Reis und Tomatensauce hinbekommen kann.

Das ist es in etwa, was ich mit Gleichklang meine. Unterbrochen wird er nur durch die psychisch gestörten Hunde, die überall hinter den Gartenzäunen lauern. Sobald man auch nur in die Nähe einer Ortschaft kommt, fangen sie so laut an zu kläffen, dass man meint, sie würden sich selbst damit töten. Dabei ist es vollkommen egal, ob es sich um kleine, niedliche Schoßhunde oder um beeindruckend große Wach-, Kampf-, Jagd- oder Hütehunde handelt. Sobald sie einen Spaziergänger erblicken stürmen sie hervor, rennen gegen den Zaun und fangen lauthals an zu bellen. Der einzige Unterschied liegt dabei in der Tonhöhe. Wenn ein Herrchen oder Frauchen dabei in Rufweite steht, dann versucht es seinen kläffenden Köter meist mit einem zaghaften „Schhhtt“ zum Schweigen zu bringen, das von den Tieren demonstrativ überhört wird. Es ist kein ernstgemeintes „Stopp!“ und das spüren die Hunde genau. Doch warum kläffen sie? Je mehr Exemplare wir nun gesehen haben, desto mehr kommen wir dabei auf zwei Lösungen. Zum einen hat Hundebesitz hier leider nicht das geringste mit Tierliebe zu tun. Die Hunde sind hier nicht die besten Freunde der Menschen, sie sind Wachmaschinen, die man sich als Alarmanlage anschafft, weil man Angst hat, dass man ausgeraubt werden könnte. Liebe bekommen die Tiere selten und viele werden sogar in enge Zwinger eingepfercht. Ihre Rufe sind oft Schreie nach Liebe, Anerkennung und vor allem Freiheit. Doch das ist natürlich nur eine Seite. Gleichzeitig spiegeln sie uns auch unsere eigene Wut und Aggression, die noch immer in uns steckt und die wir noch nicht auflösen konnten. Vieles davon ist uralte Wut über Verletzungen, die wir aus den verschiedensten Gründen in unserer frühsten Kindheit erfahren haben. Anderes ist wahrscheinlich auch neue, also Wut über Dinge, Menschen und Ereignisse, die uns heute aufregen. So zum Beispiel die Dame von dem Altenheim, die uns gestern begegnete. Es hatte bereits den ganzen Tag geregnet und wir waren nass bis auf die Knochen. Außerdem war es eiskalt und windig, wir waren durchgefroren und unsere Füße fühlten sich bereits etwas taub an. Durch den Regen konnten wir unser Smartphone nicht richtig nutzen, auf dem jedoch unsere Karte mit der Wanderroute gespeichert war. Die moderne Technik hat ihre Vorteile und wir sind ihr wirklich dankbar für die tausenden von Kilometern, die wir auf diese Weise navigieren konnten. Doch sie hat eben auch ihre Schwächen und dazu gehört, dass ein Touchpad bei Regen einfach nicht mehr funktionstüchtig ist. Und so kam es, dass ich ein Bisschen zu sehr auf die Wege vertraut habe und so verpasste, dass wir längst nicht mehr in die richtige Richtung wanderten. Ich weiß nicht wie weit wir von unserem eigentlichen Ziel abgekommen sind, doch am Ende waren wir in einer vollkommen anderen Stadt. Mittendrinn haben wir sogar noch im strömenden Regen mit Heikos Vater und mit Hans telefoniert, die weitere Fragen wegen der neuen Deichseln hatten. Inzwischen was das Display zum Glück wieder so trocken, dass wir den Anruf entgegen nehmen konnten. An einer Haustür fragten wir nach einem Maßband und gaben die entsprechenden Werte durch. Das war das erste Mal, das wir komplett kalt gefroren waren. Das zweite Mal wie gesagt war, als wir Longastrino erreichten und hier nach einem Schlafplatz suchten. Wie immer war der Pfarrer nicht erreichbar. Doch zur Kirche gehörte auch ein Mini-Altenheim, das ebenfalls vom Pfarrer geleitet wurde und hier trafen wir die Frau, von der ich euch eigentlich erzählen wollte. Sie öffnete mir mit einem gespielt freundlichen Lächeln, meinte dann aber, dass sie leider nichts für uns tun könne. Der Pfarrer komme bestimmt irgendwann wieder, aber sie habe weder eine Nummern noch sonst eine Möglichkeit ihn zu kontaktieren. Wir müssten eben einfach in der Kirche auf seine Rückkehr warten.

„Es ist eiskalt, wir sind vollkommen durchnässt und kurz vorm erfrieren,“ erklärte ich ihr. „Wir können nicht in der Kirche warten, dazu ist es zu kalt. Könnten wir uns vielleicht so lange bis er kommt hier ins Warme setzen?“

Sie schüttelte den Kopf und meinte nur: „Nein! Das ist nicht in Ordnung! Das geht nicht! Ihr müsst in der Kirche warten!“

Dies war noch nicht das, was mich an der Frau wirklich ärgerte. Der Grund, warum ich wütend auf sie wurde war, dass sie mich nach draußen in die Kälte begleitete, wobei sie in der Tür stehen blieb, so dass sie es noch immer warm hatte. Dann begann sie ein Smalltalkgespräch, bei dem sie uns wie jeder hier über unsere Reise ausfragte, um nach ihrer Absage wieder Gutwetter zu erzeugen. Diese Scheinheiligkeit war es, die mich in diesem Moment so ankotzte, dass ich ihr am Liebsten gesagt hätte, sie solle sich ihr verdammtes Altenheim und ihre blöden Fragen in den Arsch stecken und sich zum Teufel scheren. Doch leider wusste ich nicht, wie gut ihr Verhältnis zum Pfarrer war und ich wollte nicht riskieren, dass wir auf der Straße schlafen müssen, weil ich die Pfarrersfreundin beleidigt habe. Später stellten wir fest, dass die Beziehung zwischen dem Pfarrer und der Frau auch nicht die Beste war. Denn zu unserem Glück tauchte er auf, bevor wir erfroren sind und lud uns sogar noch zum Abendessen ins Altenheim ein. (Es gab Reis mit Öl und anschließend in Öl ertränkte Kartoffeln.) Nachdem die Frau erfahren hatte, dass wir nun Gäste des Pfarrers waren, versuchte sie durch übertriebene und leider absolut unauthentisch wirkende Freundlichkeit ihre Abweisung von zuvor wieder gutzumachen. Doch weder Heiko noch mir gelang es, sie deshalb sympathischer zu finden. Irgendwo konnten wir sie verstehen und auch anerkennen, dass sie nicht böswillig, sondern nur aufgrund ihrer eigenen Glaubensmuster gehandelt hatte. Sie als ein göttliches Wesen zu lieben, das mochte möglich sein. Aber gernhaben konnten wir sie nicht.

Es regnete noch die ganze Nacht durch, aber als wir in der Früh aufwachten, war es trocken. Nur unsere Kleidung war noch so nass wie am Vortag und so dauerte es fast den ganzen Tag, bis wir sie wieder trocken gelaufen hatten. Für den Geruch ist das natürlich nicht besonders förderlich gewesen. Das heißt, für den Geruch schon nur nicht für unsere Nasen. Bevor wir unser Tagesziel von heute erreichten mussten wir dann noch eine kleine Reparaturaktion einbauen. Bereits vor Rom war an Heikos Wagen eine Speiche gebrochen. In einem kleinen Fahrradladen hatten wir dafür einen Ersatz bekommen. Heute brach am gleichen Rad eine zweite. Zum Glück hatten wir noch immer einige in Reserve und konnten so gleich eine neue einbauen. Warum die Speichen brachen ist uns jedoch noch ein Rätsel. In all den Jahren, in denen wir mit dem Fahrrad durch die Gegend geheizt sind, hatten wir nie einen Speichenbruch. Und Heiko hat dabei sogar eine längere Downhillphase hinter sich, bei der er sein Rad mit Sprüngen von bis zu zwei Metern malträtierte.

Ein Highlight gab es dann aber doch noch! Und das ist sogar gleich so außergewöhnlich, dass es die ganze Phase der Ereignislosigkeit wieder aufwiegt. Gestern, als wir uns gerade vollkommen verirrt hatten und uns der Regen bis auf die Haut aufgeweicht hatte, hielt Heiko mich plötzlich am Arm zurück und deutete auf den Baum vor uns. Ich folgte seinem Zeichen und traute meinen Augen nicht. Keine zwei Meter von uns entfernt saß eine Waldohreule auf einem Ast und schaute uns an. Nie zuvor hatte ich solch ein Tier in freier Wildbahn gesehen und schon gar nicht aus solcher Nähe. Ein Auto fuhr vorbei, doch sie würdigte es nur eines kurzen Blickes und schaute dann wieder zu uns. Vorsichtig holte Heiko die Kamera aus dem Rucksack und machte ein paar Bilder. Zu unserer Überraschung blieb sie genau so lange sitzen, bis er damit fertig war. Dann flatterte sie lautlos auf und verschwand in den Bäumen. Waldohreulen gehören zu den wachsamsten Tieren überhaupt und sind normalerweise fast vollkommen unsichtbar. Ihnen zu begegnen ist also mehr als nur ungewöhnlich. Grund genug einmal nachzuschauen, welche Botschaft die Eulen uns mitteilen wollen. Wir staunten nicht schlecht. Waldohreulen tauchen meist dann auf, wenn man begonnen hat, sich für das sehen mit dem dritten Auge zu öffnen und wollen einen darauf hinweisen, diese Fähigkeit weiter auszubauen. Das ist doch mal eine gute Nachricht!

Spruch des Tages: Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen (Goethe)

 

Höhenmeter: 3

Tagesetappe: 20 km

Gesamtstrecke: 8079,77 km

Wetter: bewölkt aber trocken

Etappenziel: Gemeindehaus, 44011 Argenta, Italien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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