Tag 471: Wandern im Hobbitland

von Heiko Gärtner
24.04.2015 12:23 Uhr

„Mitkommen zu mir! Trinken Tee!“ sagte die alte Dame und ließ keinen Wiederspruch zu. Wir waren gerade einmal eineinhalb Kilometer weit gewandert und hatten den Wald, in dem wir gezeltet haben genau in diesem Moment hinter uns gelassen. Die Frau hatte uns erspäht, als wir über die kleine Brücke in den Ort gewandert waren und hatte uns sofort angesprochen. Eigentlich wollten wir nicht schon wieder eine Pause machen, denn wir hatten ja auch heute noch einiges an Wegstrecke vor uns. Doch ein Ablehnen war absolut unmöglich. Wir folgten der alten Frau in ihre Stube und nahmen in der Küche Platz. Alles erinnerte mich ein bisschen an die Wohnung meiner verstorbenen Großeltern. Auch ihre gleichzeitig ruppige und fürsorgliche Art. Sie setzte einen Eimer Wasser auf und fragte, ob wir auch ein paar Frühstückseier wollten. Wir waren natürlich nicht abgeneigt. Unsere Kommunikation fand hauptsächlich über die wenigen deutschen Worte der Frau und über unsere Vokabelzettel statt. Auf seine Art funktionierte das sogar recht gut. Sie stellte uns die Tassen Tee hin und schlug zwei Eier aus eigener Haltung in zwei Minipfännchen, die sie dann aufs Feuer stellte.

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„Da Zucker!“ erklärte sie und deutete auf die kaum übersehbare Zuckerdose, die den halben Tisch einnahm.

„Nein Danke!“ sagten wir, „wir essen keinen Zucker.“

Es dauerte rund fünf Minuten, bis wir sie überzeugen konnten, dass wir wirklich keinen wollten. Dann tranken wir den Tee und vielen fast um, vor lauter Süße. Sie hatte das Wasser bereits gezuckert, als sie es aufgesetzt hatte, ähnlich wie man Nudelwasser bereits salzt, bevor man die Nudeln hineingibt. Doch diese Grundsüße zählte offensichtlich nicht als gesüßter Tee. Aus Höflichkeit tranken wir die Tassen aus, auch wenn bereits jetzt schon unsere Pupillen zu Untertassen wurden. Später sollten wir diesen Höflichkeitszug noch einige Male bereuen, denn der Kreislauf war das süße Gift einfach nicht mehr gewohnt und hüpfte auf und nieder wie ein Laubfrosch.

„Oh, suchen Schlafplatz!“ sagte sie als sie sich unseren Vokabelzettel von oben bis unten durchgelesen hat.

„Können schlafen hier!“ meinte sie dann freudig.

Wir grinsten und erklärten ihr, dass wir uns über die Einladung riesig freuten, dass wir aber noch keinen Kilometer weit gekommen waren und daher noch einiges an Strecke machen wollten, bevor wir irgendwo einkehrten. War es nicht unglaublich, dass wir die Nacht im Freien keinen ganzen Kilometer von dieser freundlichen Dame entfernt verbracht hatten? Doch das konnten wir ja nicht ahnen.

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Eine gute halbe Stunde später verabschiedeten wir uns und zogen weiter. Bis dahin hatten wir nicht nur ihre ganze Familie, sondern auch fast das ganze Dorf kennengelernt, denn rund alle fünf Minuten kam jemand neues in die Küche. Die ersten kamen lediglich um die Dame zu besuchen. Später hatte sich unsere Anwesenheit wohl herumgesprochen und man wollte auch schauen, was da für Fremde in der Küche saßen.

Die Wanderung selbst übertraf die der Vortage noch einmal an Schönheit und Ursprünglichkeit der Natur. Es war, als würde man durchs Auenland wandern, nur dass die Hobbits hier deutlich größer waren und fast ausnahmslos Schuhe trugen. Als wir vor rund 16 Monaten aufbrachen hätten wir nicht gedacht, das ausgerechnet Slowenien das erste Land werden würde, in dem wir uns vorstellen konnten, dauerhaft zu wohnen. Es hatte bislang nicht einmal auf der Liste gestanden und war nun von Null gleich nach ganz oben gerutscht.

Der einzige Haken hier ist, dass wir noch keine offizielle Anlaufstelle für Schlafplätze gefunden haben. Hotels und Pensionen scheinen zwar eine recht zuverlässige Quelle zu sein, sind jedoch recht rar verteilt. Pfarrer findet man so gut wie nie und der einzige den wir bislang finden konnten, stellte sich als, nicht gerade zugänglich heraus. Auch Rathäuser gibt es in den kleinen Orten nicht und Pilgerherbergen findet man ebenso wenig. Abgesehen vom Zelten bleibt also nur die Alternative an den Privathäusern zu fragen. Doch auch hier gibt es einen kleinen Haken. Die Menschen sind sehr vorsichtig und zurückhaltend und sie brauchen ihre Zeit, um sich zu öffnen. Wenn sie von sich aus auf einen zukommen, dann kann man sich ihrer Hilfe fast sicher sein, doch das passiert auch nicht immer. Oder besser gesagt, wir schaffen es noch nicht, es immer so anzuziehen, dass es immer klappt. Wenn man hingegen irgendwo klingelt und direkt nach einem Schlafplatz fragt, lautet die Antwort meist nein. Nicht, weil sie nicht helfen wollen, sondern weil sie einfach misstrauisch gegenüber Fremden sind, die aus dem Nichts auftauchen und in ihrer Garage übernachten wollen.

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Am Abend beispielsweise fragte ich in einem Mini-Dorf mit vier Häusern wieder nach einer Küche. Wir hatten unser Zelt bereits aufgebaut, brauchten aber noch immer ein Abendessen. Die erste Frau, die ich traf war bereits recht alt und sprach weder andere Sprachen, noch konnte sie die Schrift auf meinem Zettel lesen. Die zweite rief ihre Nachbarin zur Hilfe, und die wiederum ihre Tochter.

„Are you lost?“ – „Haben Sie sich verlaufen?“ fragte die junge Frau, die gerade mit ihrem Vater beim Holzhacken war.

„Nur im Sprachenchaos“, antwortete ich und erklärte ihr, was ich brauchte.

Sie übersetzte für ihre Eltern und von nun an machte unsere Begegnung wieder die gleiche wundersame Wandlung durch, wie mein Kochbesuch am Vortag. Mit jedem Satz, den wir wechselten schwand die Skepsis. Zunächst boten sie mir einen Elektrokocher mit einem Verlängerungskabel an, damit wir im Garten kochen konnten. Dann durften wir zum Kochen in die Garage, die sich jedoch als zu vollgestellt entpuppte und schließlich meinte sie: „Ach, dass ist doch Blödsinn! Komm einfach in die Küche!“

Nach und nach wurde auch heute unser Gericht immer mehr mit Zutaten angereichert. Zunächst bekamen wir den Reis geschenkt, den ich ja eigentlich schon mitgebracht hatte. Doch die Mutter bestand darauf, dass ich ihren nutzte. Dann gab es eingelegte Bohnen, Essiggurken, eine Tomatensauce und einen Rote-Bete-Salat, sowie etwas Knoblauch.

Als ich anfing, die Knoblauchrauke zu zerschneiden, die wir am Nachmittag gesammelt hatten, schaute mich die ganze Familie mit großen Augen an.

„Was ist das denn?“ übersetzte die Tochter die Frage ihrer Mutter.

Ich erklärte es auf Englisch so gut ich konnte.

„Und du bist sicher, dass man das Essen kann?“ fragte sie besorgt. „Ist das nicht giftig?

„Nein!“ sagte ich, „ganz sicher, es ist sogar sehr lecker und außerdem noch gesund! Wollt ihr etwas probieren?“

Ich gab jedem ein Blatt und vorsichtig probierten sie das exotische Gewächs.

„Wo habt ihr dass her?“ wollten sie dann wissen, „habt ihr das von zuhause mitgebracht?“

„Nein!“ sagte ich und musste lachen, „Es wächst da vorne, neben eurem Garten!“

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Nachdem ich im weiteren Gespräch erzählt hatte, dass wir uns viel mit Pflanzen und auch mit Naturmedizin beschäftigten, baten sie mich um Rat für den Vater. Dieser hatte vor zwei Jahren einen üblen Hautausschlag bekommen. Das Medikament vom Arzt hatte diesen zwar unterdrückt, doch seither hatte er starke Gelenksschmerzen. Meine Vermutung war, dass es wahrscheinlich eine Vergiftung durch die Feinstaubpartikel war, denen er bei seiner täglichen Arbeit ununterbrochen ausgesetzt wurde. Viel raten konnte ich ihm zwar nicht, aber einige Entgiftungsmöglichkeiten aufzeigen.

Nachdem ich zum Zeltplatz zurückgekehrt war und gemeinsam mit Heiko gegessen hatte, setzte ich mich in eine kleine halboffene Hütte und begann zu schreiben. Bereits jetzt fallen die ersten Tropfen. Hoffen wir mal, dass es keine Überschwemmung wird, denn unser Zelt steht unglücklicher Weise in einer Mulde...

Spruch des Tages: Sei vorsichtig, wenn du von deiner Tür aus auf die Straße trittst, denn du weißt nie wohin sie dich führt. (Bilbo)

 

 

Höhenmeter: 350

Tagesetappe: 23 km

Gesamtstrecke: 8622,77 km

Wetter: sonnig, bewölkt

Etappenziel:

Zeltplatz auf einer Wiese

1303 Zagradec

Slowenien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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