Tag 488: Eine Frage der Mentalität
Wir verließen Marija Bistrica auf einer kleinen Straße, die deutlich weniger befahren war, als der Weg, der uns dorthin geführt hatte. Alle Paarhundert Meter standen Wegweiser für Fahrradrouten nach Marija Bistrica, die alle in irgendeine Richtung zeigten. Die einzelnen Routen waren durchnummeriert, doch keine Nummer tauchte mehr als zwei Mal auf. Wie sich dabei irgendjemand orientieren sollte war uns ein Rätsel, doch wir mussten uns ja auch zum Glück nicht daran orientieren. Irgendwie war es schade, dass man es hier versäumt hatte, eine Infrastruktur für Wander- und Radtouristen einzurichten. Es gab so viele schöne Möglichkeiten für kleine Wege, die man ohne Probleme bauen konnte und die Landschaft war ein absolutes Wanderparadies. Gerade, wenn man dann auch noch einen so wichtigen Pilgerort in der Region hatte, war es doch eine Verschwendung, dieses Potential nicht zu nutzen. Vor allem, wenn man auf diese Weise einfach und verträglich die Wirtschaft ankurbeln und einen Großteil der Armut beseitigen könnte. Aber jedem so wie er es für richtig hält.
Uns viel auf, dass sich die Systeme langsam wiederholten. Die Grundmentalität in Slowenien war der in Frankreich sehr ähnlich gewesen und daher konnte man dort auch auf die gleiche Weise unterwegs sein. Hier war die Mentalität eher wie die in Spanien, wenngleich wir noch immer nicht verstanden, wie das kommen konnte, wo Slowenien und Kroatien doch vor nicht einmal 20 Jahren ein und das selbe Land waren. Es schien fast ein bisschen, als hätte man die Miesepeter in die eine Ecke und die Lebensfrohen in die andere Ecke geschoben und dann eine Grenze dazwischen gebaut. Ich weiß, dass kann man so nicht sagen und es wird vielen Kroaten nicht gerecht. Doch viele andere geben sich wirklich alle Mühe, diesen Eindruck zu vermitteln. Ich kann nicht einmal genau sagen was es ist, aber hier hat man plötzlich nicht mehr das Gefühl, dass man an Haustüren klingeln und nach einer Küchenbenutzung fragen will. Vor allem in den ganz kleinen Dörfern ist es eher so, dass einem die Menschen ein bisschen Angst einjagen. Die grimmigen, starren Blicke, die sie uns zuwerfen, machen sie irgendwie unheimlich. Fast ein bisschen so, als befände man sich in einem dieser Horrorfilme, in denen die ganze Dorfgemeinde ein finsteres Geheimnis bewahrt, das den Fremden am Ende das Leben kostet. Zum Glück sind wir nicht in einem solchen Film. Doch wir scheinen auf die Einheimischen einen ähnlichen Eindruck zu machen, denn nachdem wir und am Nachmittag in einem kleinen Dorf nach einem Schlafplatz umgesehen hatten, wurden wir plötzlich von der Polizei verfolgt. Im Ort hatte er keine Polizeidienststelle gegeben, also musste einer der Einheimischen eine Streife gerufen haben, weil hier zwei komische Fremde im Dorf herumlungerten. Wir waren gerade in eine Nebenstraße abgebogen und hatten uns nach einem geeigneten Zeltplatz umgesehen, als wir plötzlich bemerkten, dass die Polizeistreife knapp fünfzig Meter hinter uns stehen blieb und uns beobachtete. Vor uns lag ein verlassener Sportplatz, der zum Campen ideal gewesen wäre, doch nun kam es uns nicht mehr ganz so schlau vor, hier unser Lager aufzuschlagen. Die Polizisten blieben stehen, solange auch wir an einem Fleck blieben. Als wir unsere Wanderung fortsetzten und damit das Dorf verließen, starteten sie ihren Motor und fuhren in die entgegengesetzte Richtung davon.
Doch auch wenn uns die Menschen zur Zeit nicht mehr ganz so sympathisch sind, die Tiere sind immer für eine spannende Begegnung zu haben. Heute trafen wir auf eine Ringelnatter, die leicht benommen auf der Straße lag. Vorsichtig hoben wir sie auf und setzten sie auf der Wiese ab, damit sie nicht überfahren wurde. Wir wussten nicht, was mit ihr los war, denn sie hatte keine äußerlichen Verletzungen. Nur eines ihrer Augen war trübe und offensichtlich blind. Dennoch konnte sie sich kaum auf ihren nicht vorhandenen Beinen halten und ließ ständig den Kopf hängen. Wir versuchten sie ein bisschen aufzumuntern und am Ende konnte sie sogar wieder vor sich hinschlängeln.
Ringelnattern sind die Schutztiere für das innere Kind und sie tauchen besonders dann zum Schutz auf, wenn man sich gerade in einer Wandlungsphase befindet.
Da wir in unserem Polizisten-Verfolgungs-Horrorfilm-Ort keinen Schlafplatz gefunden hatten, liefen wir noch rund 6km weiter bis in die nächstgrößere Ortschaft, wo wir den Pfarrer um Rat fragten. Er sprach Deutsch und unser Eingangsgespräch lief etwa folgendermaßen ab:
Ding-Dong
Einige Sekunden des Wartens. Dann: Tür öffnet sich.
Pfarrer: „Dobar Dan!“
Ich: „Dobar Dan! Govorite Engleski, Njemacki ili Spanjolski?“
Pfarrer: „Ja, ich spreche Deutsch! Was gibt’s?“
Ich: „Ich hätte da eine Frage. Wir sind zwei Pilger und wandern für fünf Jahre um die Welt. Gerade sind wir auf dem Weg nach Medzogorije. Wir reisen komplett ohne Geld und bräuchten einen Schlafplatz für diese Nacht. Wir haben Luftmatratzen und Schlafsäcke und bräuchten nur einen kleinen Raum, sonst nichts.“
Pfarrer: „Ok, aber warum?“
Ich: „Wiebitte?“
Pfarrer: „Warum ihr machen das? Das ist Gefährlich! Es ist nicht gut so zu reisen. Neulich hier war eine Reisegruppe von Deutschland und sie auch gewollt nach Medjogorije. Erzählen von Pilgerreise und dass sei Reise mit Gott! Aber ist gefährlich reisen nach Medjogoroije. Ist nichts mit Gott! Das liegt in Bosnien und da ist Krieg und Gefahr!“
Ich: „Äh!“ Ich war mir sicher, dass der Krieg in Bosnien längst vorbei war, aber in diesem Moment kam ich nicht dazu, noch einmal nachzuhaken. Erst am Abend erfuhr ich, dass auch der Pfarrer davon überzeugt war, dass die Gefahr weit geringer war, als er es zu diesem Zeitpunkt meinte.
Pfarrer: „Woher kommst du?“
Ich: „Aus Deutschland?“
Pfarrer: „Wo aus Deutschland?“
Ich: „Ursprünglich aus Hannover, aber...“
Pfarrer: „Hannover? Ist das nicht in Polen?“
Ich: „Nein, in Norddeutschland.“
Pfarrer: „Ok! Da wohnen aber nicht viele Katholiken!“
Ich: „Nein, das stimmt!“
Pfarrer: „Kannst du dich ausweisen?“
Ich: „Ja, sicher!“ Ich hole den Reisepass aus meinem Rucksack und zeige ihn vor.
Pfarrer, schaut auf den Ausweis und meint: „Krüger also! Das ist ein deutscher Name, das stimmt!“
Ich: Habe keine Ahnung, was ich darauf antworten soll und grinse nur.
Pfarrer: „Ich habe Raum für euch, aber ohne Bett und Badezimmer! Nur Raum!“
Ich: „kein Problem, das ist genau das was wir brauchen!“
Wir gehen in Richtung Gemeinderaum.
Pfarrer: „Was du arbeiten? Hast du Ausbildung?“
Ich: „Ja, ich habe Pädagogik studiert und...“
Pfarrer: „Aber du nicht nur kannst wandern! Was arbeiten?“
Ich: „Wir schreiben Bücher!“
Pfarrer: „Kann nicht sein! Dazu bist du zu jung!“
Ich: „So jung bin ich gar nicht mehr!“
Wir waren nun am Gemeindesaal angekommen und er zeigte mir den Raum, den wir bewohnen durften. Dabei versuchte ich, ihm so gut es ging zu erklären, was wir genau machten. Doch dadurch dass er fast immer mit einer neuen Frage dazwischenfunkte, wenn ich zu etwas ansetzte, gestaltete sich die Sache etwas schwierig.
„Hast du Hunger?“ fragte er schließlich.
Ich: „Ja, mit Essen sieht es bei uns noch etwas mau aus.“
Pfarrer: „Hast du Geld?“
Ich: „Nein! Wir reisen ohne!“
Pfarrer: „Wie willst du essen kaufen, wenn du kein Geld hast? Heute ist Montag, da ist meine Köchin nicht da. Ich kann euch also nichts geben. Müsst ihr also etwas kaufen. Hier du hast 100 Kuna. Das sind etwa 13€. Dann du kannst kaufen ein Sandwich im Supermarkt.“
Wir verabschiedeten uns und ich holte Heiko um unseren neuen Schlafplatz zu beziehen. Dann machten wir uns auf die Suche nach einem Abendessen und auf dem Rückweg trafen wir den Pfarrer vor seiner Tür. Er lud uns zu sich ein und bot uns Säfte und Kaffee an. Die größte Herausforderung des Abends war es, ihn davon zu überzeugen, dass wir keinen Alkohol tranken.
„Überhaupt keinen?“ fragte er ungläubig, nachdem wir versucht hatten, seinen selbstgebrannten Pflaumenschnaps abzulehnen, „Das ist aber nicht gesund!“
Einen winzigen Tropfen mussten wir dann doch probieren. Mein letzter Schluck Alkohol war bereits gut vier Jahre her und ich spürte sofort, wie mir das Zeug in den Kopf schoss. Mehr als ein Nippen war also nicht drin.
Später besuchten wir den Pfarrer dann noch ein weiteres Mal.
Denn gerade als wir unser Abendessen fertiggekocht hatten, erschien er in unserer Tür und lud uns zum Essen in sein eigenes Haus ein. Er hatte keine Kosten und Mühen gescheut um uns ordentlich aufzutischen. Kurz nachdem wir eingetroffen waren, klingelte es erneut und ein junger Mann mit typischem „Bringdienst-Cappy“ auf dem Kopf erschien in der Tür. Er brachte eine große Schüssel Salat und eine frisch zubereitete Steakplatte aus einem nahegelegenen Restaurant. Die Platte bestand aus einem riesigen Berg an Pommes, der komplett mit einer großen Auswahl an Steaks, Frikadellen und Koteletts zugedeckt waren.
„Esst nur, ich bin ja nicht gewandert, sondern ihr!“ meinte der Pfarrer und lehnte sich zurück. Er verspeiste eines der Steaks und eine Portion Salat und der ganze Rest war für uns. Wir hauten rein wie die Scheunendrescher, doch es war unmöglich, alles zu verputzen. Hätten wir am Ende auch nur eine weitere Pommes gegessen, wären wir geplatzt. Essenseinladungen waren hier also wieder etwas ganz anderes als in Spanien oder Italien.
Spruch des Tages: Es ist alles eine Frage der Mentalität.
Höhenmeter: 240
Tagesetappe: 19 km
Gesamtstrecke: 8833,77 km
Wetter: sonnig, leicht bewölkt und schwülwarm
Etappenziel: Pfarrhaus, 10380 Sveti Ivan Zelina, Kroatien