Tag 496: Das Reh

von Heiko Gärtner
17.05.2015 00:53 Uhr

Essen ist im Moment wieder einmal eine besondere Herausforderung. In den kleinen Ortschaften war es schwierig unseren Speiseplan einzuhalten, doch wir hatten zumindest immer so viel, dass wir gut davon satt werden konnten. In Sisak war es bereits problematischer. Hier gab es nun zwar Geschäfte doch konnte man an Lebensmitteln fast nichts kaufen. Wir hatten gedacht, die Supermärkte in Spanien seien abstrakt gewesen, doch gegen das hier waren sie buchstäblich Schlemmerparadiese. Der Lidl, den wir heute fanden bestand zu rund 60% aus Kleidung und Hygieneartikel. Das Essen schien mehr eine Begleiterscheinung zu sein. Und von dem was es an „Lebensmitteln“ gab, war knapp die Hälfte Süßigkeiten und Brot. Ein weiterer großer Anteil bestand aus Bier und anderen alkoholischen Getränken. Alle übrigen Lebensmittel passten in fünf Regale und alles war so teuer, dass einem fast übel wurde. Das einzige was wir uns kaufen konnten und wollten war Reis. Von Morgen an führte uns der Weg sieben Tage lang durch die Pampa. Es gab dann so gut wie nichts mehr und die Dörfer, die auf der Strecke lagen, sahen zumindest bei Google so klein aus, dass es wahrscheinlich nicht einmal mehr eine freiwillige Feuerwehr gab. Vielleicht hatten wir ja Glück und diese sieben Tage würden so entspannt wie nie zuvor, weil wir täglich auf tolle Menschen treffen, die uns einladen. Doch davon konnte man nicht ausgehen. Also bewaffneten wir uns lieber mit 4kg Reis. Wenn wir damit haushalten, kommen wir acht Tage lang damit durch, ohne groß Hunger leiden zu müssen. Auch wenn es vielleicht nicht gerade ein kulinarisches Highlight wird. In Sisak gestern hatten wir noch Glück, dass und der Feuerwehrmann am Vortag eine Salami und einen trockenen Käse mitgegeben hatte, der etwas an Schafskäse erinnerte. Zusammen mit dem Reis und einem Topf voll Gänseblümchenblüten konnten wir daraus eine Art Reissalat machen. Außerdem wurden wir am Mittag bereits von einem freundlichen Dönerbudenbesitzer mit einem großen Döner ohne Brot versorgt, so dass wir nur noch eine Mahlzeit selbst bereitstellen mussten. Heute jedoch sieht es schlechter aus. An Vorräten haben wir lediglich noch ein paar Äpfel und einen Rest Meerrettich. Ob wir daraus etwas Schmackhaftes zaubern können steht noch in den Sternen. Vor allem, da so ein dusseliger Landschaftsgärtner gerade sämtliche Wildkräuter im näheren Umkreis plattgemacht hat. Mit einem Freischneider!

Auf unserer Wanderung hierher kamen wir zunächst durch ein altes Industriegebiet, das einst aus der Ölindustrie bestanden haben musste, deren Quellen wir vor zwei Tagen entdeckt hatten. Einige der Raffinerien waren noch immer aktiv, doch das meiste war verlassen und fühlte sich sogar noch mehr nach einem Zombie-Land an, als die tote Industrie in Spanien. Denn hier hatte es ja einmal so etwas wie Leben gegeben.

Später kamen wir nicht umhin, an einer großen Hauptstraße entlangzuwandern. Gerade als wir eine Tankstelle passiert hatten, blieb Heiko plötzlich stehen.

„Tobi, ich brauche ein Messer!“ sagte er unvermittelt.

„Alles klar,“ antwortete ich leicht irritiert, „es ist hinten im Rucksack!“

Wir setzten die Wagen ab und nachdem Heiko das Messer aus meinem Rucksack geholt hatte, erkannte ich endlich, wofür er es brauchte. Hinter dem großen Straßenschild, das mir bislang die Sicht versperrt hatte, befand sich eine Straßenlaterne. Um diese Straßenlaterne war einiges an Plastikbändern und Folien gewickelt worden, zu welchem Zweck auch immer. Und in diesem Plastikwirrwarr hatte sich ein junges Reh verfangen. Sein Hals steckte in einer Schlinge aus milchig weißem Kunststoffe und es konnte sich einfach nicht befreien.

Heiko klappte das Messer aus und näherte sich vorsichtig dem verängstigten Tier an. Als das Reh Heiko erblickte, hielt sie ihn zunächst für eine Bedrohung und geriet in Panik. Sie versuchte aufzuspringen und wegzulaufen, verfing sich aber nur noch mehr und wurde wieder zu Boden gerissen. Angsterfüllt stieß sie einen lauten Schrei aus, der mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte und mich bis ins Mark erschaudern ließ. Sie hörte sich nicht an wie ein Reh, sie schrie eher wie ein kleines Kind.

Heiko sprach beruhigend auf sie ein und näherte sich ihr, in der Hocke um nicht mehr so bedrohlich zu wirken. Dann legte er seine Hand auf ihr Fell und schnitt das Plastik durch, dass um ihren Hals lag. Wieder erschrak sie und schrie erneut. Sie versuchte zu fliehen, stürzte jedoch sofort wieder zu Boden und blieb dann erschöpft liegen.

„Hast du dich noch einmal verfangen?“ fragte Heiko und untersuchte die Rehdame auf weitere Schlingfallen. Er schnitt eine Brombeerranke und ein weiteres Kunststoffgeflecht durch. Dann war das Reh endgültig befreit.

Doch weglaufen konnte sie nicht. Sie lag zusammengesunken am Boden und hechelte panisch. Wir versuchten sie zu beruhigen und Heiko füllte ihr etwas Wasser in ein Stück Plastikfolie, für den Fall, dass sie Durst hatte. Trinken wollte sie aber auch nicht.

„Wir können sie doch nicht hier liegen lassen!“ sagte Heiko besorgt. „Direkt neben der Hauptstraße und in der prallen Sonne ist das viel zu gefährlich!“

Wir warteten bis sie sich etwas erholt hatte und ihr Atem ruhiger geworden war. Dann versuchte Heiko ihr auf die Beine zu helfen, damit sie zurück in den Wald gehen konnte. Sie hatte sich inzwischen an uns gewöhnt und wusste nun, dass wir keine Gefahr für sie darstellten. Als Heiko seine Hände um ihren Bauch legte, lies sie sich bereitwillig anheben. Sie versuchte einen Stand zu finden, brach jedoch sofort wieder zusammen.

„Glaubst du, sie hat sich ein Bein gebrochen?“ fragte ich. Ihre Hinterläufe hatten irgendwie merkwürdige verkrampft ausgesehen, als sie versuchte, sich darauf zu stellen. So als hätte sie Schmerzen. Vorsichtig tasteten wir ihre Beine ab, konnten jedoch keine Schwellungen ober Bruchstellen ertasten. Auch gab sie keine Zeichen, dass sie einen Schmerz verspürte, als wir sie berührten. Das war es also wahrscheinlich nicht. Am Rücken hatte sie eine große Fleischwunde, die sie sich wahrscheinlich bei ihrem Versuch zugezogen hatte, sich aus der Gefangenschaft zu befreien. Heiko tastete ihre Wirbelsäule ab, um herauszufinden, ob sie sich hier vielleicht eine größere Verletzung zugezogen hatte. Doch auch dies schien nicht der Fall zu sein. Vorsichtig versuchten wir ihr noch ein weiteres Mal auf die Beine zu helfen, doch diesmal endete er sogar noch kläglicher als zuvor. Hätte Heiko ihr nicht beim Hinlegen die Beine unter dem Körper sortiert, hätte sie sich dieses Mal wohl wirklich etwas gebrochen. Aufstehen konnte sie also nicht, das stand schon einmal fest. Doch was machten wir nun mit ihr? Sie war zu groß und zu schwer, um sie auf unseren Wagen zu legen, wie wir es damals mit dem kleinen Kätzchen in Spanien gemacht hatten.

Wir beschlossen uns aufzuteilen. Heiko blieb bei unserer kleinen Bambi und ich lief hinüber zur Tankstelle um Hilfe zu holen. Irgendwie musste man doch einen Tierarzt oder einen Förster oder ein Pflegeheim auftreiben können, dass der kleinen Half. Einer der Tankwarte sprach Deutsch und ließ sich von mir die Situation erklären. Er rief einen Freund an, der wiederum einen Freund anrufen und dann zurückrufen wollte. Irgendetwas wurde also unternommen, doch besonders vielversprechend klang es nicht.

Ich gab Bescheid, dass ich wieder nach draußen gehen würde und dort auf die Rückmeldung wartete.

Heiko hatte sich in der Zwischenzeit so gut um die kleine gekümmert, wie er es eben konnte. Er hatte ihr einen Apfel kleingeschnitten und hingelegt, sie gestreichelt und versucht, ihr Mut, Kraft und Energie zu spenden. Doch als ich ankam war bereits fast alle Lebenskraft aus ihr gewichen. Sie atmete Flach, hatte die Augen weit aufgerissen und den Kopf seltsam nach oben gedreht. Sie war nicht in einer Kraftsammel- und Erholungsphase. Sie lag im Sterben.

Wenige Sekunden später war sie tot. Ich wollte es zunächst nicht glauben und fühlte noch einmal an der Brust und am Hals nach. Doch es änderte nichts. Auch Heiko prüfte noch einmal ihre Lebenszeichen. Dann tat er etwas, das mir zu diesem Zeitpunkt absolut skurril erschien. Er nahm einen kleinen Zweig und steckte ihm den Reh in den Mund.

Ich verstand nicht, was er damit bezwecken wollte und vermutete erst, er wolle schauen, ob es vielleicht doch noch reagiert. Doch er ließ den Zweig einfach stecken.

„Ich glaube, sie frisst nicht mehr!“ sagte ich und fühlte mich dabei etwas komisch, weil ich mir nun sicher war, dass die Sache mit den Zweig eine Art makabrer Witz war. Für einen Moment von äußerster Insensibilität glaubte ich, Heiko würde Lachen und obwohl mir der Tod der kleinen sehr Nahe ging und ich eine tiefe Trauer spürte, musste ich für einige Sekunden grinsen.

Dann bemerkte ich, dass Heiko nicht lachte, sondern weinte. Er hatte Tränen in den Augen und das, was ich für Lachen gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein Schluchzen gewesen. Er wandte sich ab und ging zurück zur Straße. Einen Moment lang blieb ich noch neben dem Körper des toten Rehs sitzen. Meine Hand lag noch immer auf seiner Hüfte und streichelte sein Fell, so als wollte ich sie beruhigen. Die Geste mit dem Zweig im Mund verstand ich noch immer nicht und da ich fand, dass es skurril aussah, legte ich ihn wieder zur Seite. Erst als wir die Hauptstraße wieder verlassen hatten, erfuhr ich von Heiko, dass dies eine alte, traditionelle Geste war, um einem Reh die letzte Ehre zu erweisen. Ähnlich wie man einem Menschen nach seinem Tod die Augen schließt, gibt man einem Reh seinen letzten Bissen mit auf die Reise in die jenseitige Welt. Ich schämte mich dafür, dass ich dem armen Tier diesen letzten Bissen durch meine Unwissenheit wieder weggenommen hatte und war froh, dass Heiko ihr zumindest noch den Apfel hingelegt hatte.

Bevor wir den Platz verließen kehrte ich noch einmal in die Tankstelle zurück, um bescheid zu geben, dass das Reh nun verstorben war und das wir weiterziehen würden.

„Sie ist tot!“ sagte ich mit zitternder Stimme, wie jemand der einem guten Freund mitteilen muss, dass dessen Sohn gestorben war. Für mich fühlte es sich auch wirklich nach einer traurigen Botschaft an. Umso mehr war ich erschrocken, dass der Tankwart mit solch einer Kälte darauf reagierte.

„Alles klar!“ meinte er nur, „Später kommt dann ein Tierarzt, der räumt es dann schon weg!“

Dass es kein Zufall ist, dass wir ausgerechnet heute die Sterbebegleiter eines Rehs wurden, dass sich in einem Netz der Zivilisation verfangen hat, stand sowohl für Heiko als auch für mich außer Frage. Vor allem, da wir gestern Abend ein mehr als einstündiges Ritual gemacht haben, bei dem es um die Auflösung uralter Verstrickungen in Heikos Leben ging. Doch die Einzelheiten dazu wird er euch morgen selbst erzählen.

Spruch des Tages: Mache, dass ich danach trachte zu trösten, statt getröstet zu werden, zu verstehen, statt verstanden zu werden, zu lieben, statt geliebt zu werden. Denn wir können nur empfangen, wenn wir geben. (Franz von Assisi)

 

Höhenmeter: 80

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 8965,77 km

Wetter: sonnig und warm

Etappenziel: Pfarrhaus, 44250 Petrinja, Kroatien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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