Tag 504: Tagebuch der Wildnis – Teil 1

von Heiko Gärtner
23.05.2015 01:32 Uhr

Die vergangen Tage waren etwas ungewöhnlich. Wir haben viel Zeit mit Wandern und im Zelt verbracht und hatten wenig Zeit für Berichte und alles, was wir sonst normalerweise so machen. Daher haben wir die Berichte für die letzten Tage etwas zusammengefasst und eine Art Tagebuch im Tagebuch geschrieben. Hier also die Ereignisse der letzten Tage...

 

Mittwoch, 13. Mai:

Es geht los. Wir sind nun wirklich im Nirvana angekommen. Und diesmal sage ich das nicht nur einfach so, weil wir durch weites Land kommen, das menschenleer wirkt. Diesmal ist es wirklich menschenleer. Heute waren die Ortschaften durch die wir kamen sogar noch relativ groß und wenn ich Ortschaften in der Mehrzahl schreibe, dann meine ich damit genau zwei. In beiden gab es nichts an Infrastruktur, außer einem Minilädchen mit obligatorischem Alkoholikertreffpunkt vor der Tür.

Wir erreichten die Hochebene durch einen seichten Canyon, der sich langsam aber sicher nach oben schraubte. Dann öffnete sich das Tal und gab den Blick auf das frei, was die nächsten drei Wochen unsere Heimat werden würde. Sieben Tage werden wir nun durch die Berge laufen, bis wir unsere erste Stadt in Bosnien erreichen. Dann folgt nach zwei Tagen die zweite Stadt und dann wandern wir noch einmal 14 Tage durchs Niemandsland, bis wir an die Küste kommen. Auf der Karte machte das bereits ein mulmiges Gefühl, doch jetzt in live wurde die Sache erst richtig interessant. Das Problem war nicht eigentlich die dünne Besiedlung, sondern viel mehr die Sprachbarriere. Kroatisch war einfach unglaublich schwer zu lernen und da hier fast nur noch ältere Menschen lebten, die keine andere Sprache sprachen wurde es umso wichtiger. Die Einheimischen waren Fremden gegenüber eh schon skeptisch. Wenn diese dann nicht einmal richtig sagen konnten, was sie wollten, dann hatte man kaum eine Chance, vom Feind zum Maskottchen zu werden. Doch zumindest was das Essen anbelangt, lief es heute gar nicht schlecht. Wir bekamen einige Zwiebeln und ein paar Äpfel geschenkt zusammen mit unserem Reis und einigen Wildkräutern konnten wir damit das gleiche Gericht machen, wie gestern. Wo wir gerade dabei sind: Es schmeckte übrigens wirklich so scheußlich, wie wir es befürchtet hatten. Unsere Fähigkeiten im Bereich der Wildküche ohne besondere Zutaten sind also durchaus ausbaufähig.

Eine alte Frau, die verblüffenderweise fließend Deutsch sprach und mich mit einem freundlichen „Grüß Gott!“ begrüßte, erzählte mir, dass es hinter einer Bergkuppe eine kleine Pension geben sollte. „Hinter dem Friedhof, das grüngelbe Haus. Eher gelb als grün.“

Die Besitzerin der Pension mähte gerade Rasen und sprach zum Glück ein paar Worte Englisch. Ihre Pension hatte geschlossen und ein Zimmer konnte, bzw. wollte sie uns daher nicht anbieten. Doch wir durften im Garten eines Nachbarhauses, das nach ihren Angaben ebenfalls ihr gehört, zelten. Hier gibt es auch eine Art Gartenhäuschen mit Tischen und Strom, was eigentlich alles ist, was wir brauchen. Denn so können wir die Computer und vor allem das Handy laden, ohne das wir navigationstechnisch ziemlich aufgeschmissen wären.

Doch es ist wieder einmal absolut faszinierend, wie wir Menschen es schaffen, uns selbst aus dem Paradies zu verbannen, das unsere Erde eigentlich ist. Wir befinden uns nun in einem Gebiet von ungefähr der Größe des Saarlandes, das sich in absoluter Harmonie und im Frieden mit sich selbst befindet. Und kaum tauchen mal irgendwo drei oder vier Häuser auf, beginnen die Menschen sofort damit, den Einklang durch Traktoren, Rasenmäher und in Zwinger gesperrte Hunde zu zerstören, so dass sie die Schönheit in der sie leben nicht mehr wahrnehmen können. Das Land hier ist so Fruchtbar, dass die Brennnesseln fast übermannshoch werden und man das Gefühl hat, man könne aus einem einzigen Blatt einen Spinat kochen, der für eine ganze Mahlzeit reicht. Es ist absolut unmöglich, dass hier Armut herrscht, denn es gibt mehr als genug für jeden und gleichzeitig kaum Menschen. Und doch glaubt jeder Arm zu sein und hart arbeiten zu müssen, damit er überhaupt überleben kann. Worin bestand jetzt noch einmal der Vorteil einer Hochkultur?

Donnerstag 14. Mai

Ohne dass wir besonders darauf geachtet hatten, hatten wir unser Zelt intuitiv genau an der Stelle im Garten unserer Gastgeberin aufgebaut, die am Morgen vom Schatten überdeckt wurde. So wurden wir nicht wie befürchtet bereits um 6:00 in der Früh gegrillt, sondern konnten mehr oder weniger tief bis um 9:00 Uhr schlafen. Dann bauten wir unser Lager ab und starteten mit unserer Wanderung.

Außerhalb des Schattens war es dann aber sogar noch heißer als am Vortag. Zu den Temperaturen in der Extremadura fehlte nun nicht mehr viel.

Mir fiel ein, dass ich vor zehn Jahren bei meinem Aufenthalt in Serbien viele Gespräche mit unterschiedlichen Menschen geführt hatte, bei dem es um die Frage nach der Moral des Menschen ging. Fast alle Serben vertraten damals die Einstellung, dass es gute und böse Menschen auf dieser Welt gab und dass man an dieser Einteilung auch nichts ändern konnte. Gute Menschen halfen einander während man den Kontakt zu den bösen besser vermied. Ob es diese Weltanschauung in Kroatien auch gab? Ein bisschen sah es so aus und es passte zu unseren Erfahrungen mit dem Maskottchen-Sein. Auch wenn das Schwarz-Weiß-Denken auf uns ein bisschen abstrakt wirkte, so war es für uns als Wanderer jedoch wichtig das Konzept zu verstehen. Und es zeigte sich tatsächlich dass es funktionierte. Als wir in einem kleinen Ort an einem Haus vorbeikamen, in dem einige Kinder spielten, ein Mann auf einer Bank saß und eine Frau einer anderen die Haare färbte, hielten wir an um nach etwas zu Essen zu fragen. Die Sprache war noch immer ein schwieriges Thema, aber mit unserem Handy-Übersetzer, einigen Brocken Kroatisch und den wenigen Worten Englisch der jüngeren Frau kamen wir ganz gut zurecht. Und tatsächlich begann die Familie uns zu mögen. Einfach mit etwas Wegzehrung kamen wir jedoch nicht davon. Wir wurden eingeladen, uns im Garten niederzulassen und bekamen eine Brotzeit mit Salami, Schinken, Kartoffeln, Brot und Frühlingszwiebeln. Zuvor hatten wir noch befürchtet, dass wir in der dünnbesiedelten Gegend hier vielleicht verhungern würden. Nun waren wir so voll, dass wir fast platzten. An einen Nahrungsplan war natürlich nicht zu denken. Die Menschen teilten gerne, doch sie konnten natürlich nur das teilen, was sie hatten und das waren in erster Linie das Schweinefleisch aus eigener Schlachtung und das Brot, das sie selbst gebacken hatten. Doch vielleicht war dies auf seine Art ja sogar gesünder, als jedes Gemüse aus dem Supermarkt.

Die beiden Frauen fragten uns dann nach dem Weg, den wir einschlagen wollten. Als sie hörten, dass wir auf dem Weg nach Bosnien waren, machten sie sich sogar Sorgen um uns, weil sie der Meinung waren, dass wir auf unserem Weg nicht weiterkamen, bzw. in dieser Richtung kaum einen Schlafplatz finden würden. Doch wie sich herausstellte waren ihre Sorgen unbegründet. Bereits zwei Kilometer weiter kamen wir an einer Außenstelle der Fakultät für Agrarwissenschaften von Zagreb vorbei. Hier fand gerade ein Seminar zum Thema Jagd und Fischerei statt und der Dozent hatte nichts dagegen, dass wir hier übernachteten. Wenn wir im Haus schlafen wollten, mussten wir allerdings bis nach 21:00 Uhr warten und bereits um 4:00 Uhr wieder aufstehen, da die Studenten zu dieser Zeit in den Wald mussten. Das Haus war voller Jagdwaffen und damit durften sie uns natürlich nicht alleine lassen. Wir entschieden uns also für die Variante von gestern. Wir zelteten im Garten und konnten die Dusche und den Strom des Hauses nutzen.

 

Spruch des Tages: Willkommen im Niemandsland

 

Höhenmeter: 230

Tagesetappe: 25 km

Gesamtstrecke: 9110,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz im Sumpf, irgendwo hinter der Stadt, 79260 Sanski Most, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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