Tag 507: Tagebuch der Wildnis – Teil 4

von Heiko Gärtner
23.05.2015 02:11 Uhr

Dienstag 19. Mai 2015

Unser vierter Tag in Bosnien. Langsam verstehen wir das Land immer weniger. So etwas wie eine Infrastruktur gibt es hier nun überhaupt nicht mehr. In Italien hatten wir nicht geglaubt, dass es irgendwo auf der Welt noch schlechtere Straßen geben konnte. Nun wird uns gezeigt, wie falsch wir mit dieser Annahme lagen. Hier kann es sein, dass eine Hauptstraße plötzlich für ein paar Hundert Meter zu einer Kiespiste wird, weil der Hang abgerutscht ist und niemand einen neuen Asphalt aufgetragen hat. Tiefe Löcher in der Straße sind ebenso normal, wie Sträucher und andere Grünpflanzen, die sich ihr altes Gebiet zurückholen. Die einheimischen Autofahrer wissen, woran sie sind und wo sie wie ausweichen müssen. Für einen Fremden wäre eine unachtsame und zu schnelle Fahrt jedoch tödlich. Die Natur selbst ist hier atemberaubend. Bosnien ist ein durch und durch wildes Land, das fast nur aus großen Wäldern, rauen Felsen und reißenden Flüssen besteht. Gerade zelten wir in einer Moorgegend, die sich entlang eines Flusses erstreckt. Zuvor haben wir einen kleinen Canyon durchquert. Links von uns rauschte der Fluss dahin, der durch die letzten Regengüsse in Gebirge zu einem wahren Wildwasserfluss geworden ist. Das eigentliche Flussbett war nicht einmal mehr zu erkennen und die Wassermassen rauschten über die Felsen, Wiesen und Bäume dahin. Rechts des Weges erhoben sich immense Felsmassive, die fast ein bisschen Bedrohlich über unseren Köpfen emporragten.

Etwa eine Stunde zuvor waren wir mitten in ein heftiges Gewitter geraten. Glücklicher Weise konnten wir uns gerade noch rechtzeitig bei einem leerstehenden Haus unterstellen. Wir hatten die pechschwarzen Wolken bereits eine ganze Weile beobachtet und zunächst hatte es so ausgesehen, als würde es an uns vorüberziehen. Dann aber blieben die Wolken über der Stadt stehen und das Gewitter breitete sich sogar nach hinten, also gegen den Wind aus. So etwas hatten wir zuvor noch nicht erlebt. Auffällig war, dass wieder diese krakenartigen Schleierwolken zwischen den Gewitterwolken hervorlugten, die man immer bei den Chemtrail-Einsätzen sieht. Innerhalb weniger Minuten prasselte es vom Himmel, als wäre dort Regen-Schlussverkauf. Die Blitze zuckten zunächst mit einigem Abstand, dann immer näher kommend, was komisch war, da wir wie gesagt bereits hinter dem Zentrum des Gewitters saßen. Doch plötzlich waren wir mitten drin. Der Bass des Donners war nun so laut, dass er im Magen vibrierte. Kurze Zeit Später begann es sogar zu Hageln und das bei Temperaturen von fast 30 Grad im Schatten.

Als der Regen fast aufgehört hatte, für wieder einmal ein Polizeiauto an uns vorüber. Zunächst ignorierte es uns. Dann kam es zurück und auch diesmal schienen die Beamten kein Interesse an uns zu haben. Kurz bevor sie jedoch außer Sichtweite waren, hielten sie an, setzten zurück und stiegen tatsächlich aus. Wir waren von dieser Einsatzbereitschaft zutiefst beeindruckt, denn wir hatten nicht damit gerechnet, dass sich die Jungs wirklich in den Regen Wagen würden.

"Passport please!" Sagte der eine und für einen kurzen Moment glaubten wir, er könne wirklich Englisch sprechen. Doch er hatte mit diesem einen Satz bereits sein ganzes Können verschossen. Für das weitere Gespräch tief er seine Frau an und schaltete sie als Telefonjoker-Dolmetscher hinzu. Offensichtlich ist das hier eine gängige Praxis bei Polizisten. Diesmal wollten sie keine Anmeldung von uns, sondern wollten lediglich wissen, wo wir übernachten. Dann boten sie uns sogar an, uns zum Hotel zu führen. Wir lehnten ab und ließen ihnen durch seine Frau mitteilen, dass wir nach 9000km Wanderung wohl in der Lage waren unser Hotel selbst zu finden. Außerdem wollten wir vermeiden, dass die Polizisten zu viel über unsere Art des Reisens mitbekamen. Sie waren zwar sehr liebe Leute, aber da Wildes Zelten hier verboten ist, wollten wir ihnen nicht gleich auf die Nase binden, dass wir ohne Geld reisten.

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Das Hotel hatte jedoch leider geschlossen und der Pfarrer war nicht da. Da die Stadt in erster Linie muslimisch war, fragten wir beim Imam nach einem Schlafplatz, doch auch hier hatten wir kein Glück. Also verließen wir die Stadt wieder und suchten uns einen Platz im Freien.

Die Unterschiede zwischen dem Land und den Städten sind hier enorm. Auf dem Land ist es das Paradies, in der Stadt ist es die Hölle. Hier spürt man, dass das Durchschnittsgehalt bei 170€ liegt. Alles wirkt wie in einem riesigen Slum, in dem es nicht viel mehr gibt, als eine Kneipenmeile, Fressbuden, Spielhöllen und Wohnblocks. Der Alkoholismus ist hier stärker als irgendwo sonst auf unserer Reise. Es ist kaum möglich, sich in den Städten aufzuhalten und sobald man hinein kommt, will man sofort wieder heraus.

Kaum hat man sie verlassen, kann man kaum glauben, das es hier überhaupt Städte geben soll. Auch von Armut ist dann nichts mehr zu sehen. Und hier Trift man dann auch wieder freundlichere Menschen, wie beispielsweise heute morgen den Mann, der uns auf ein Frühstück eingeladen hat. Auch in der Stadt sind die Menschen nicht unfreundlich. Wir bekamen sogar Bananen geschenkt von einem Obsthändler, obwohl wir gar nicht danach gefragt hatten. Doch durch die harte Mentalität und den vielen Alkohol wirken die Menschen einfach irgendwie unheimlich. Vielleicht muss man sich ja nur daran gewöhnen.

 

Mittwoch, 20. Mai 2015

 

Die Taktik vom Vortag schien ganz gut zu funktionieren, also probierten wir sie auch heute wieder. Nachdem wir unser Zelt abgebaut und unsere Sachen gepackt hatten, wanderten wir ein gutes Stück bis in den nächsten Ort und schauten uns dann nach einem Haus um, das so einladend wirkte, dass wir dort guten Gewissens nach etwas zu essen fragen konnten. Und unser Gefühl trügte uns nicht. Wir wurden von einem netten moslimischen Schlosser auf seine eingeladen und seine Frau brachte uns ein Frühstück. Es war definitiv das beste Frühstück, das wir bislang in Bosnien bekommen hatten. Es gab ein Omelette, Brot mit Majonäse und Wurst und dazu Hähnchen und Backofenkartoffeln, sowie eine große Portion mit Tomatenspälten. Für deutsche Verhältnisse zugegebenermaßen ein ungewöhnliches Frühstück aber es war ja auch eher ein Brunch. Der Schlosser erzählte uns, dass er während des Krieges einige Jahre in der Schweiz gelebt und dort auch Deutsch gelernt hatte. Es war eine gute Zeit gewesen, an die er noch gerne zurück dachte. Er selbst lebte hier ganz gut, da er sich mit seiner Werkstatt selbstständig gemacht hatte und in seinem Fach wirklich gut war. Er stellte Geländer und Zäune aus Edelstahl her. In Deutschland waren solche Arbeiten nahezu unbezahlbar und wir hatten uns schon etwas gewundert, dass fast alle reicher wirkenden Häuser so schöne Zäune hier hatten.

Beim Essen erzählte er uns noch einige interessante Fakten über das Land. Er bestätigte, dass das Durchschnittsgehalt hier zwischen 200 und 300 Euro im Monat lag. Was wir bislang jedoch noch nicht wussten war, dass es in Bosnien keinerlei Rente gab. Wer sein Leben hier verbracht hatte, der guckte im Alter mit dem Ofenrohr ins Gebirge. Kein Wunder also, dass die Rentner hier so griesgrämig waren und uns nichts geben wollten. Wie sollten sie auch, wenn sie selbst nur das hatten, was sie sich anbauten. Ein Platz in einem Altenheim kostete umgerechnet rund 500€ im Monat. Das war noch immer deutlich mehr, als die meisten hier überhaupt verdienten. Wie sollte dieses System funktionieren? Auch die Schule muss von den Eltern komplett selbst bezahlt werden, ebenso wie die Kindergärten, sofern es überhaupt welche gibt.

Auch der Schlosser bestätigte noch einmal das gleiche Problem, das uns auch der Hotelbesitzer in Novi Grad schon geschildert hatte. Die Menschen selbst hatten kein Problem untereinander. Es gab Moslem, Serben und Kroaten und das war schon immer so. Nur auf der politischen Ebene wurden hier Probleme und Streitigkeiten inszeniert, die niemand verstand. Das war auch der Grund, warum es mit dem Land nicht voranging und warum es anders als Kroatien und Slowenien nicht der EU beigetreten war. Um ein Mitgliedsstaat der Union zu werden muss man bestimmte Bedingungen erfüllen. Sobald aber eine politische Strömung die entsprechenden Gesetze durchsetzen will, sind die anderen beiden automatisch dagegen und verhindern es. So ist es mit allem.

Eine andere Schwierigkeit, die wir als sehr besorgniserregend empfanden war das, was er uns über die Bauern erzählte. Jeder baute seine Lebensmittel selbst an und es gab viele kleine Bauern, die von dem Verkauf ihrer Erzeugnisse lebten, so wie es früher überall der Fall war. Doch sie fanden so gut wie keine Abnehmer mehr. Sie konnten ihr Obst, Fleisch und Gemüse nicht verkaufen, weil es keine Käufer gab. Als wir erzählten, dass es in Deutschland noch vor einiger Zeit ähnlich war, dass dort aber nun eine Industriewirtschaft eingeführt wurde, durch die die Bauern zu modernen Sklaven wurden, war seine Reaktion vollkommen anders als erwartet. Wir hatten vermutet, dass ihn die Vorstellung abschrecken würde, dass ein Bauer durch die Großindustrie dazu gezwungen wurde, seine Nahrung zu Vergiften, seine Tiere zu Quälen und sich dazu verpflichtete, immer eine bestimmte Menge an Lebensmitteln abzuliefern. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Bauern in Bosnien waren bereits so kaputt, dass sie bereit waren für den großen Retter in Form der Lebensmittelindustrie, die ihnen sichere Abnahmen im Austausch gegen Selbstbestimmung, Freiheit und ihre Seele anbot. Wenn es kam wie es sich abzeichnete, dann war es mit der Ursprünglichkeit Bosniens bald vorbei, denn dann würden auch hier die Agrarwüsten entstehen, die den Rest von Europa so stark zeichneten.

Am Nachmittag kamen wir in ein weiteres kleines Dorf, das noch etwa 10km von der nächsten Stadt entfernt lag. In diese Stadt wollten wir auf keinen Fall, also bemühten wir uns hier etwas zu finden. Wir bekamen ein ehemaliges Geschäft von einem jungen Mann, der fließend Deutsch sprach. Es war eigentlich ein guter Raum, der jedoch vollkommen verdreckt und verfallen war. Als der Laden geschlossen wurde, hatte man auch das Wasser abgestellt und dadurch hatte sich der Gestank der Kanalisation seinen Weg durch die Toilette in die Räume gesucht. Strom gab es leider ebenfalls nicht, doch wir durften bei unserem Gastgeber die Laptops laden. Zunächst hatten wir vermutet, dass wir uns dazu in das Wohnzimmer oder auf die Terrasse setzen konnten, doch das war ein Irrtum. Gastfreundschaft war hier ein bisschen anders als in Slowenien oder Kroatien. Wir bekamen eine Steckdose in der Abstellkammer, die so dreckig war, dass ich überhaupt nicht wusste, wo ich die Computer hinlegen sollte. Der junge Mann war auf der einen Seite sehr nett und wollte auch wirklich helfen, auf der anderen Seite, schien es aber ähnlich wie in Spanien eine Art Gesetz zu geben, dass niemand ins Haus durfte. Auch unsere Wäsche konnten wir nicht waschen. Wir bekamen den Weg zu einem Wasserrohr beschrieben, das irgendwo im Garten unseres Nachtquartiers versteckt lag.

 

 

Spruch des Tages: Um klar zu sehen reicht oft ein Wechsel der Blickrichtung. (Antoine de Saint-Exupéry)

Höhenmeter: 40

Tagesetappe: 5 km

Gesamtstrecke: 9151,77 km

Wetter: Regen, den lieben langen Tag lang

Etappenziel: Hotel Tri Laterna, irgendwo in der Nähe des Dorfes, Donja Previja, Bosnien und Herzegowina

 

 

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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