Tag 525: Stolz machen

von Heiko Gärtner
13.06.2015 21:43 Uhr

Unser Zimmer im Feuerwehrhaus lag in der obersten Etage. Dies hatte den Nachteil, dass es hier heiß war, wie in einem Hochofen, aber den Vorteil, dass man von hier aus eine schöne Aussicht auf die Kirche und die dahinterliegenden Berge hatte.

Gegen zehn Uhr abends begann ein Gewitter aufzuziehen und der Regen prasselte in dicken Tropfen vom Himmel. Hinter den Bergen flammten bereits die ersten Blitze auf und machten die Nacht für Sekundenbruchteile zum Tag. Die uralte, steinerne Kirche leuchtete dabei im fahlen Licht der Blitze auf und verlieh der ganzen Szene eine gespenstische Atmosphäre. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so lange irgendwo gesessen oder gestanden bin, um einem Gewitter zuzuschauen, aber mir wurde wieder bewusst, wie gerne ich das machte. Gewitter hatten auf ihre Art eine ungeheure Klarheit und waren gleichzeitig so epochal und beeindruckend. Die Luft war geladen und fühlte sich gleichzeitig vollkommen frisch und gereinigt an.

Kurz zuvor hatten wir ein Dreiergespräch mit Paulina über Skype geführt, bei dem mir auch innerlich noch einmal sehr viel klar geworden ist und so passte meine innere Stimmung sehr gut, zu der äußeren.

Die Frage hatte geheißen, was dazu geführt hatte, das wir alle in der Schule zu Außenseitern wurden. Heiko war der komische Kautz, den niemand wirklich verstand, Paulina war die Dicke Paulina, die aufgrund ihrer Figur gehänselt wurde und ich war der tollpatschige Opfer-Typ, der keine Vorlage für eine Mobbing-Attacke ausließ. Wie aber kam es dazu? Warum wurden Paulina und ich in der Schule beispielsweise beim Wählen im Sportunterricht tendenziell als letzte oder zumindest einer der Letzen gewählt, obwohl wir nicht wirklich schlecht waren, nur eben im Mittelfeld?

Es war nicht das gewesen, was wir gemacht hatten, sondern das was wir ausstrahlten und in anderer Form noch immer ausstrahlen. Und dies wiederum hat damit zu tun, dass wir jeder einen Hunger in uns trugen, der nicht gestillt werden konnte. Und auch wenn sich dieser Hunger bei jedem von uns vollkommen anders äußerte, so war der Kernschlüssel, also das Leckerli nach dem wir uns sehnten, doch in beiden Fällen das gleiche. Obwohl ich auf meinem Bett lag und Paulina daher nicht sehen konnte, machten wir bei den gleichen Fragen und Themen teilweise sogar die gleichen Gesten und hatten den gleichen Gesichtsausdruck.

Das Leckerli um dass es ging war Stolz. Oder besser gesagt, der Wunsch jemanden, vor allem aber unsere Eltern stolz zu machen. Warum ist das aber so ein Thema?

Jemanden stolz machen zu wollen bedeutet, dass man davon ausgeht, dass es ein Richtig und ein Falsch gibt. Es bedeutet auch, dass man davon ausgeht, dass man etwas leisten muss, damit man geliebt wird. Denn jemanden Stolz zu machen bedeutet im Endeffekt nichts anderes, als sich dessen Liebe zu erkaufen. Wenn man jedoch etwas leistet, um andere stolz zu machen, dann bedeutet dies, dass man in einen Wettstreit tritt, egal gegen wen oder was. Man muss sich behaupten, muss etwas außergewöhnliches machen, das sonst keiner tut. Oder man muss etwas außergewöhnlich gut machen, also besser als alle anderen. Dadurch erreicht man jedoch vor allem, dass man andere durch seine eigenen Taten degradieren will, da das Ziel ja ist, besser zu sein als der Rest. Wenn einem das gelingt, sorgt man damit automatisch dafür, dass andere nicht stolz sein können, sich schlecht und minderwertig fühlen. Wenn es einem aber nicht gelingt, ist man selbst derjenige, der sich klein, unbedeutend, minderwertig und irgendwie falsch fühlt. In jedem Fall aber, sorgt man für eine Disharmonie, die keine Zufriedenheit und keine Harmonie erzeugen kann. Kurz: Man verursacht damit Leid und Unzufriedenheit für sich selbst und für andere.

Das Dilemma war nun aber, dass in mir der Glaubenssatz festgesetzt war, dass ich nur dann genügend Liebe zum Leben erhalte, wenn ich genügend leiste, damit die anderen stolz auf mich sind. Dummerweise verstanden meine Eltern darunter etwas vollkommen anderes, als meine Mitschüler und somit war der Zustand, dass ich alle stolz machte unerreichbar. Also war ich in einem ständigen Wechselspiel zwischen Hochgefühlen verbunden mit einem Überlegenheitsgefühl und zwischen Tiefpunkten verbunden mit Scham, Selbstverachtung, Selbstekel und Selbstzweifeln. Obwohl es nun bereits fast ein ganzes Jahr her ist, dass ich das letzte Mal mit meinen Eltern gesprochen habe, ist unbewusst noch immer dieser Wunsch in mir, dass ich sie stolz machen will. Trotz der großen Kluft, die nun zwischen uns herrscht, will ich ihnen noch immer beweisen, dass ich etwas gutes, etwas besonderes, etwas einzigartiges mache, da ich noch immer das Gefühl habe, nicht überleben zu können, wenn ich die damit verbundene Liebe nicht erhalte. Doch niemand kann sich besonders frei und leicht entfalten, wenn er sich die ganze Zeit in einer Todesangst befindet. Alles in mir ist so verkrampft auf dieses Stolzmachen ausgerichtet, dass es nicht klappen kann. Es ist wie in einer Prüfung, in der man so eine Angst hat, dass man alle Antworten vergisst, obwohl man sie eigentlich weiß. Und da meine Eltern als Personen nun nicht mehr in Reichweite sind, suche ich mir andere Menschen, Dinge oder Ideen als Stellvertreter. So kommt es oft vor, dass ich Heiko stolz machen will, oder euch Blogleser, sogar die Menschen, denen wir begegnen und die uns etwas zum essen oder einen Schlafplatz geben.

Aber sind wir wirklich das, was wir erreichen? Macht sich eine Hummel Gedanken darüber, ob sie ihr Volk stolz macht, wenn sie genügend Pollen sammelt? Macht sich eine Eichel, die von einem Eichhörnchen vergessen wurde, Gedanken darüber, ob sie als Baum wohl richtig wächst, so dass ihr Mutterbaum stolz auf sie ist?

Wohl kaum!

Leben in Zufriedenheit und Glückseligkeit ist ein Grundrecht, das jedes Wesen im Universum von Natur aus hat. Wir müssen nichts leisten, nichts erschaffen, nichts bewegen. Wir dürfen einfach sein. Genau so wie die Smaragdeidechse die gerade vor mir über den Boden huscht und sich nun in aller Ruhe einen Grashalm anschaut. Sie hat nicht das Gefühl, dass sie etwas erreichen muss. Sie ist einfach und damit trägt sich ganz automatisch ihren Teil zum Wohl des Universums bei. Allein schon deshalb, weil ich mich über ihre Anwesenheit freue und dadurch gleich ein wohliges, angenehmes Gefühl in mir verspüre.

In unserer Gesellschaft glauben wir immer, dass wir nur dann etwas wert sind, wenn wir etwas leisten. Wo kämen wir denn hin, wenn keiner mehr arbeiten würde und jeder nur noch tut, was ihm Freude bereitet? Was glaubt ihr, wohin wir kämen?

Wisst ihr was ich glaube? Ins Paradies! Was wäre, wenn alle Arbeiter in den Kunststofffabriken plötzlich kein giftiges Plastik mehr herstellen würden, wenn kein Mann mehr seinen Vater stolz machen und deshalb in den Krieg ziehen würde, wenn nur noch die Menschen kochen, heilen und Häuser bauen würden, die wirklich Freude dabei hätten? Glaubt ihr wirklich, das würde etwas verschlechtern?

Wir sind davon überzeugt, dass wir als Menschheit nur dadurch bestehen können, weil wir etwas leisten. Doch ein Wald ist auch nicht deshalb ein Wald, weil die Bäume jeden Tag zur Arbeit gehen. Jeder Baum ist einfach und durch sein bloßes Sein erschaffen sie eine Gemeinschaft, die als ganzes dann zum Wald wird. Nur durch ihr Sein erschaffen sie den Sauerstoff, der unsere Atmosphäre ausmacht. Nur durch ihr Sein bieten sie Nahrung, Wasser und Unterschlupf für Millionen von Tierarten. Ist es da nicht etwas vermessen zu sagen, sie seien nichts wert, weil sie nicht in die Arbeit gehen?

Wenn wir alle göttliche Wesen sind und jeder von uns ein Tropfen der Urquelle ist, aus der alles entspringt, dann können wir gar nicht nichts erschaffen. Wir selbst sind ein Teil der Schöpfung und damit sind auch wir Schöpfer. Mit jedem Atemzug stoßen wir CO2 aus, den die Pflanzen zum Leben brauchen. Jetzt in diesem Moment, in dem ich hier sitze, zapfen die Mücken mein Blut an, um damit ganze Heerscharen von Nachkommen zu erschaffen. Mit jedem unserer Gedanken und Gefühle verändern und formen wir diese Welt. Egal was wir tun, wir erschaffen automatisch und damit sind wir auch automatisch wertvoll.

Wenn gleichzeitig alles aus Liebe besteht und Liebe in allem ist, dann hat auch alles, was passiert seinen Sinn. Das bedeutet nicht, dass wir ihn immer verstehen und dass wir uns damit immer wohl fühlen. Aber alles, was je in unserem Leben geschieht, dient dazu, dass sich die Liebe ausbreiten kann. Das heißt auch, dass es keine Fehler geben kann und damit auch nichts, für das man sich schämen muss. Natürlich können Handlungen Schmerz, Leid und Krankheit verursachen, doch auch diese sind nur Boten, die uns zeigen wollen, wie wir uns entwickeln können. Natürlich ist es angenehmer, wenn wir diese Boten nicht brauchen und auch ohne sie wachsen können, aber wenn wir sie benötigen ist das ebenfalls vollkommen in Ordnung. Sie sind ähnlich wie ein Baumbeschnitt, der zwar erst einen Schmerz verursacht, dann aber dazu führt, dass der Baum sich verjüngt und kräftiger wird. Durch unsere Schwächen, Krankheiten und Unfälle, können unsere Gaben wachsen. Heikos Tinnitus ist ein Weg um Hellhörigkeit zu erlangen, Paulina Probleme mit ihrem Körpergefühl weisen sie zur Feinfühligkeit hin und meine Kurzsichtigkeit ist ein Wegweiser zur Hellsichtigkeit. So hat jede Krankheit ihren Sinn und ist wichtig.

Als ich das verstanden hatte, kam plötzlich ein Gefühl der Leichtigkeit in mir auf. Mir wurde klar, dass ich einfach sein konnte, ohne etwas Besonderes leisten oder erreichen zu müssen. Ich musste niemanden Stolz machen. Ich durfte einfach ich sein, so wie ich war.

Für einen Baum ist es keine Anstrengung zu wachsen und größer zu werden und genauso leicht kann auch unser eigenes Wachstum funktionieren. Wir aber glauben, dass es anstrengend sein muss, eben eine Arbeit und so ziehen wir an unseren eigenen Armen und Beinen, damit sie sich schneller entfalten, so dass wir die besten, größten und stärksten werden. Doch so kann es natürlich nicht funktionieren. Auf diese Weise ziehen wir nur immer wieder Situationen in unser Leben, die uns zeigen, dass diese Anstrengung uns nicht weiterbringt. Nur wenn wir mit Freude wachsen wollen, können wir auch wachsen. Wenn wir glauben, dafür kämpfen zu müssen, um uns oder andere stolz zu machen, dann kann es nicht funktionieren und das einzige, was wir damit erreichen ist noch mehr Kampf.

Als wir das Thema noch einmal durchgingen, kam mir ein Bild, das die ganze Sache recht gut veranschaulicht. Es ist ein bisschen, als würden wir unser ganzes Leben gegen eine Wand laufen, weil wir beweisen wollen, dass wir stark genug sind, um sie umzuwerfen. Wir glauben, dies sei der einzige Weg, um weiter zu kommen. Wenn wir verstehen, dass das Leben kein Kampf ist, weil eh alles Liebe ist und wir allein durch unser Sein unseren Teil zur Welt beitragen, dann ist es, als würde uns jemand auf die Schulter tippen und zeigen, dass wir uns einfach umdrehen und in die andere Richtung gehen können. Die Richtung zu ändern ist an und für sich kinderleicht, denn es ist nichts weiter als eine kleine Drehung um die eigene Achse. Ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was wir an Anstrengung bislang unternommen haben, um die Wand einzurennen. Aber wir haben uns so daran gewöhnt, dass wir gegen diese Wand laufen müssen, dass unser Verstand mit der Idee, dass er damit aufhören kann, vollkommen überfordert ist. Er glaubt nicht, dass es so einfach gehen kann. Und wenn er es dann doch zulässt, dann sucht er sich so schnell wie möglich eine neue Wand. Es geht dann vielleicht nicht mehr darum, die Eltern stolz zu machen, in dem man besonders viel erreicht. Stattdessen sucht man sich dann neue Autoritäten und neue Ziele.

„Nachdem ich das verstanden habe,“ meinte Heiko, „kam bei mir das Gefühl auf, dass ich möglichst schnell neue Bewusstseinsebenen erreichen wollte. Es dauerte eine Weile bis mir klar wurde, dass ich damit wieder jemanden Stolz machen wollte. In diesem Fall Gott. Ich habe also die Schöpferkraft wieder personifiziert und ein Wesen daraus gemacht, dass dem ich beweisen wollte, wie schnell ich mich entwickeln kann. Ihr solltet also Obacht geben, dass euch das nicht auch so passiert.“

Was passiert, wenn wir uns nun wirklich dazu entschließen, niemanden mehr stolz machen oder beeindrucken zu müssen, nichts mehr leisten, arbeiten oder erschaffen zu müssen, sondern uns selbst erlauben, einfach nach unserem Herzen zu leben, einfach wir selbst zu sein, die Dinge zu tun, die wir aus vollem Herzen und mit voller Liebe tun können, das Leben genießen und unsere innere Lebensfreude nach außen strahlen? Wir selbst würden zu einer Quelle von Liebe und Lebensfreude. Was also könnte dem Universum mehr dienen? Was könnte mehr beitragen? Wie könnte man hilfreicher sein?

Spruch des Tages: Ich muss niemanden stolz machen!

 

Höhenmeter: 260m

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 9501,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Kleiner, versteckter Garten am Fluss, kurz hinter 21310 Omiš, Kroatien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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