Tag 551: Kannibalismus

von Heiko Gärtner
05.07.2015 19:07 Uhr

Noch 10 Tage bis zum Treffen mit Paulina!

Dass die Straße nicht der beste Ort für die Zirpewesen ist, wurde uns am Morgen noch einmal deutlicher bewusst. Zu hunderten lagen sie zerquetscht und plattgewalzt auf der Straße, während ihre Artgenossen fleißig weiter hin und her hüpften. Moment! Nein, sie hüpften nicht einfach nur hin und her. Sie machten sich über die Leichen ihrer Freunde her und fraßen diese auf wie an einem All-you-can-eat-Buffet. Sie entpuppten sich als die reinsten Kannibalen und teilweise fraßen bis zu drei lebende Grillen an einer toten. Das war natürlich nicht besonders schlau, denn es hatte ja einen Grund, warum ihre Kumpanen gestorben waren. Kaum kam ein Auto vorbei war aus der einen Leiche ein ganzer Leichenhaufen geworden, der nun natürlich noch mehr Grillen anlockte, die sich über den reich gedeckten Tisch freuten. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das für ein Gemetzel gab! Gleichzeitig zeigte es natürlich auch, wie sehr die Wesen hier zur Plage geworden waren. Selbst uns fiel es schwer, ihnen auszuweichen, so dass wir sie nicht ständig platttraten oder überfuhren. Und wir waren wirklich langsam unterwegs. Es wunderte uns eh ein bisschen, warum wir uns so viel Mühe gaben, die Zirpen nicht zu töten, wo sie uns doch seit Tagen und Wochen ständig nervten. Erst als wir später in einen Wald kamen, verstummten sie plötzlich und waren dann vollkommen verschwunden.

Nachdem wir eine felsige Hügellandschaft durchquert hatten, kamen wir in ein flaches Tal, von dem ich erst dachte, es sei eine Art Canyon. Dann aber verschwand rechts der Berg und stattdessen fiel der Hang plötzlich gut 200m steil nach unten hin ab. Es war ein gigantisches, längliches Loch im Boden und in seiner Mitte befand sich ein strahlender, türkisblauer Bergsee. Um ihn herum befanden sich mehrere Liegewiesen mit Touristen darauf und dahinter hatte man ein kleines Dorf gebaut. So heiß wie es war wären wir allzu gerne ins Wasser gesprungen, doch die Erfrischung hätte wohl nicht lange angehalten, wenn wir danach gleich wieder 200m den Berg hinauf mussten.

So blieben wir lieber auf unserer Straße, die sich mehr oder weniger Eben am Berghang entlangschlängelte und kamen schließlich in ein Dorf, das auf der anderen Seite des Tales lag.

„Waow!“ rief Heiko plötzlich, als wir das Dorf fast erreicht hatten.

Ich folgte seinem Blick und schaute nach links wusste aber nicht, was er meinte.

„Nicht da! Da!“ rief er und zeigte auf eine Stelle mitten auf dem Feld.

„Waow!“ rief ich nun ebenfalls, als ich sah, was er meinte.

Auf dem Feld hatte sich ein Mini-Tornado gebildet, der das frischgemähte Gras erfasste und mit sich in die Höhe riss. Weder Heiko noch ich hatten je zuvor etwas derartiges gesehen. Damals in Spanien waren wir zwar selbst einmal mitten in einen kleinen Wirbelsturm geraden, doch der war winzig und hatte lediglich etwas Staub aufgewirbelt. Dieser hier hatte einen Durchmesser von vier oder fünf Metern und war gute 15-17m hoch. Das trockene Gras bildete dabei eine Art Wand wie bei einem Turm. Mit offenen Mündern standen wir da und schauten dem Sturm zu. Langsam wanderte er weiter auf ein kleines Waldstück zu. Dann löste er sich auf. Zwei Minuten dauerte das Spektakel, dann war der Spuk vorbei und nichts deutete darauf hin, dass je etwas passiert ist. Abgesehen von dem Gras natürlich das nun nicht mehr so geordnet in langen Reihen dalag.

Das Dorf hieß Borci und war fast vollkommen ausgestorben. Wir fanden jedoch eine schöne, schattige und ebene Wiese, auf der wir unser Zelt aufbauen konnten.

Die wenigen Häuser, die noch bewohnt waren reichten zum Glück aus, um uns mit genügend Nahrung für den Tag zu versorgen. Am Vortag hatten wir bereits all unsere Reserven verbraucht, mit Ausnahme eines pappigen, trockenen Brotes ohne Belag. Dementsprechend mau sah unser Speiseplan für diesen Tag aus, vor allem, weil es auf dem gesamten Weg keine einzige Siedlung gab. Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie sehr wir es nun genossen, uns im Schatten auf die Wiese zu setzen und erst einmal richtig zu schlemmen. Seit einigen Tagen hatten wir eh immer wieder ein leicht flaues Gefühl im Magen und wenn dieser dann auch noch komplett leer war, wurde es nicht besser. Während wir aßen bekamen wir zunächst Besuch von einer Schafsherde und einigen Kühen. Kurz darauf galoppierte dann eine Pferdemutter mit ihrem Fohlen an uns vorbei. Einfach so, ohne jeden Zaun, ohne jeden Begleiter und ohne jede Leine. Wir haben noch immer keine Ahnung, ob sie hier einfach wild lebten, ob sie ausgebüchst waren oder ob der Pferdehalter ihnen einfach viel Freizeit gönnte. Auf jeden Fall war es ein faszinierender Anblick.

Bis zum Treffen mit Paulina sind es nun nur noch 10 Tage und so wurde es langsam Zeit, eine genaue Strecke bis zum Treffpunkt rauszusuchen. Weitere Sehenswürdigkeiten sind damit wohl erstmal aus dem Spiel. Jedenfalls die geplanten, denn wie mit diesem Tal hier wurden wir ja immer wieder von erstaunlichen Naturschönheiten überrascht, die wir nie vermutet hätten.

Um die Strecke raussuchen zu können setzte ich mich in die einzige Bar des Ortes. Dass es die einzige existierende Bar war, war auch der einzige Grund warum sie überhaupt noch existierte. Sie war einer von den Orten, wo einen der Schimmel schon beim Eintreten von der Decke ansprang und darum bettelte, dass man ihn mitnahm, weil er es hier nicht mehr aushielt. Aber Internet war Internet.

Während ich in der Bar saß, hatte Heiko auf der Wiese unser Solarsegel aufgebaut um so in Ruhe weiter an den Texten schreiben zu können. Lange dauerte die Ruhephase aber nicht. Zunächst kamen einige kleine Kinder, die neugierig schauten, was dieses komische, grüne Ding auf ihrer Wiese dort sollte. Anschließend kam ein Hund, der sich das Selbe fragte. Anders als die Kinder beließ er es jedoch nicht beim Schauen sondern nahm die Dinge auch praktisch unter die Lupe. Dabei entdeckte er meinen rechten Socken, der aus irgendeinem Grund führ ihn wohl appetitlich aussah. Er schnappte ihn und lief damit davon. Heiko bemerkte es zum Glück und schaffte es, ihm meine Fußkleider wieder abzuluchsen. Doch kaum hatte er das geschafft, brannte er auch schon mit meinem linken Socken durch. Diesmal kostete es Heiko etwas mehr Mühe, ihn wieder einzusammeln. Anschließend schlossen die beiden dann jedoch erst einmal Frieden. Jedenfalls bis zum Abend. Dann kam der Hund erneut vorbei um uns noch einmal unmissverständlich klar zu machen, dass dies hier sein Territorium war. Er löste das auf die für Hunde typische Art und pisste uns ans Zelt. Nicht unerfolgreich muss man sagen. Es dauerte bis zum nächsten Morgen, bis es wieder trocken war.

Beim Frühstück bekamen wir dann noch einmal Besuch von den beiden Pferden, die nun auch den Vater des Fohlens dabei hatten. Sie tollten eine Weile über die Wiese und verschwanden dann wieder im Wald.

Unser heutiger Weg führte uns über einen steilen Serpentinenpass gute 400 Höhenmeter den Berg hinab in ein anderes Tal. Hier befand sich die Stadt Konjic, die früher einmal eine wirklich schöne Stadt gewesen sein muss. Sie liegt direkt an einem Fluss und mitten in einem wunderschönen Tal und doch hat man es geschafft, den Ort so hässlich zu gestalten, wie nur irgendwie möglich. Mitten durch das Zentrum führt eine Hauptstraße und rings herum türmen sich halb verfallene Betonklötze aneinander, in denen ein Leben absolut unmöglich sein muss. Vor sich hinvegetieren mag funktionieren aber leben kann hier niemand.

Kurz bevor wir die Stadt erreichten kamen wir an einer kleinen Schlange vorbei, die tot am Straßenrand lag. Sie sah zwar nicht mehr so fit aus, ähnelte ansonsten aber der Schlange, die wir vor zwei Tagen im See gesehen hatten wie ein Ei dem anderen. Später fanden wir dann heraus, dass es sich dabei um eine Kreuzotter handelte. Die waren zwar nicht tödlich giftig, aber für eine wochenlange Schmerzattacke an der betroffenen Körperstelle reichte ihr Biss schon aus. Man sollte sich also gut umschauen, bevor man hier in kleinen Tümpeln baden geht.

Nach einer kurzen Stadtbesichtigung hatten wir uns eigentlich schon damit angefreundet, dass wir die Stadt wieder verlassen würden, um uns irgendwo außerhalb einen Zeltplatz zu suchen. Dann bekamen wir jedoch völlig unverhofft einen Platz im Motel Konjic, direkt neben dem Fluss. Der perfekte Ort um einmal wieder ein bisschen Körperpflege zu betreiben und um sich von den Anstrengungen der letzten Tage zu erholen.

Spruch des Tages: Fresst euch ruhig gegenseitig, dann wird es hier ruhiger!

Höhenmeter: 60 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 9922,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Motel Konjic, Mostarska bb, 88400 Konjic, Bosnien und Herzegowina
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare