Tag 553: Anders oder gleich?

von Heiko Gärtner
11.07.2015 16:41 Uhr

 Noch 8 Tage bis zum Treffen mit Paulina!

Von unserem Garagendorf aus waren es noch etwa drei Kilometer bis in die nächste Ortschaft und von dort noch einmal gute fünf bis in ein weiteres kleines Dorf. Dieses war das letzte vor der Durststrecke über den Berg. Wir mussten hier also noch einmal ordentlich auftanken, sowohl Wasser als auch Nahrung und dann so weit wie möglich in den Canyon hineinlaufen, so dass wir die Strecke auf zwei Tage aufteilen konnten. Im ersten Ort waren wir damit nur begrenzt erfolgreich. Wir bekamen eine Art Frühstück in Form eines trockenen Bürreks und eine Tüte mit Gemüse. Alle anderen lehnten uns ab. Wieder hatten wir das Gefühl, dass es wenig mit uns zu tun hatte, sondern viel mehr mit einer allgemeinen Angst- und Misstrauensstimmung. Eine Frau winkte und lächelte uns freundlich zu, als wir auf der Straße an ihrem Haus vorbeigingen. Als wir sie daraufhin jedoch ansprachen und nach etwas Brot fragten, wich sich erschrocken zurück und machte uns unmissverständlich klar, dass sie unter keinen Umständen mit uns sprechen würde, egal was wir auch von ihr wollten.

Selbst die Familie, die uns das Gemüse schenkte, war zunächst sehr skeptisch und wollte mich nicht einmal in ihren Garten lassen, ohne dass ich zuvor meinen Ausweis zeigte. Als ich die Frau nach dem Grund fragte, wurde ihr ihre eigene Angst peinlich. Sie stammelte einen Moment und sagte dann verlegen: „Mein Mann dort ist Polizist, genau wie sein Kumpel!“

Das stimmte zwar hatte aber nichts mit der Ausweispflicht in ihrem Garten zu tun, denn die beiden Männer waren von ihrer Bitte ebenso irritiert wie ich und ihnen war die Situation sogar noch peinlicher als der Frau.

In dem Moment, in dem ich den Garten betreten hatte, kam der Sohn der beiden auf mich zu. Er war etwa zwei oder drei Jahre alt und anders als seine Eltern hatte er keine Angst vor Fremden. Das erste das er tat war, mit eine Weintraube zu schenken. Sie war noch nicht reif und man konnte nicht allzu viel damit anfangen, aber es war eine nette Geste. Dann holte er sein kleines Tretfahrrad auf dessen Gepäckträger sich eine Art Kofferraum befand. Hier bewahrte er allerlei sinnvollen Krimskrams auf, wie beispielsweise zerbrochene Duftbäumchen mit denen man unangenehme Gerüche im Auto anders unangenehm einfärben konnte. Was immer er auch fand, er schenkte es mir und ich nahm es dankbar an, um es ihm kurz darauf zurückzugeben. Wir machten dieses Spiel eine ganze Weile, während seine Eltern überlegten, ob es wohl moralisch vertretbar sei, mir ein paar Zwiebeln und Gurken aus dem Garten mitzugeben.

„Organic Food!“ sagte die Frau schließlich, nachdem sie sich doch zu einem Ja durchgerungen und einige Gartenfrüchte zusammengesucht hatte. Leider schloss das nicht die Verwendung von chemischen Giftstoffen und Düngemitteln aus, wie wir später feststellten. Denn die Gurken waren so voll davon, dass sie sogar die Zunge taub machten.

Im nächsten Ort hatten wir etwas mehr Glück. Hier bekamen wir nicht nur von dem kleinen Supermarkt eine Tüte mit Brot und anderen Lebensmitteln, wir wurden auch gleich von dem Barbesitzer auf einen Tee eingeladen, während er unsere Wasservorräte auffüllte. Eine Nichte sprach fließend Englisch und gesellte sich zu uns. So kam es, dass wir die heißeste Zeit des Tages auf der schattigen Barterrasse verbrachten, Orangensaft und Früchtetee schlürften und frischgemachtes Bürrek aßen. Frisch und noch warm war es etwas vollkommen anderes und nun konnte man auch verstehen, warum es hier so beliebt war.

Der Barbesitzer war nicht nur der Onkel des Mädchens, das sich als Hristina vorstellte, sondern auch der Bruder des Mannes, der den Autowaschservice im Ort besaß. Theoretisch war er damit auch der Chef von Hristina, doch da sie damit beschäftigt war, sich mit uns zu unterhalten, musste er sich alleine um alle drei Wagen kümmern, die heute vorbei kamen. Der letzte davon gehörte einer Familie, die nach Amerika ausgewandert war und nur noch zu Besuch hierher zurückkehrte. Während die beiden Brüder im Bosnienkrieg gekämpft und dabei einige seelische wie körperliche Wunden davongetragen hatten, war dem Amerikaner dieses Schicksal erspart geblieben. Als Jugendlicher war er zwar in der kroatischen Armee, doch kurz bevor der Krieg ausbrach hatte sein Vater ihn dazu bewogen, seinen Dienst du quittieren. Der alte Mann hatte gespürt, dass es nicht mehr lange gutgehen würde und er wollte nicht, dass seinem Sohn etwas passiert. Daher war der Sohn dann mit seiner Frau in die Staaten gezogen und kurz darauf brach der Krieg aus. Auch diese drei Männer hatten den Sinn des Krieges nicht verstanden. Vor dem Krieg hatte die Bar dem Vater der Brüder gehört und trotz der Abgeschiedenheit hatten ganze Busladungen hier rast gemacht. Es waren Menschen aller Nationen und aller Glaubensrichtungen und niemand hatte sich darum gekümmert. Die selben Menschen, die hier gemeinsam bei einem Bier oder einem Kaffee zusammensaßen um sich Anekdoten zu erzählen, mussten wenig später durch die Wälder rennen und sich gegenseitig erschießen. Was machte das für einen Sinn?

„Das kuriose ist dabei eigentlich der Unterschied zwischen Amerika und Jugoslawien,“ meinte der Amerikaner, nachdem er uns noch einen Orangensaft ausgegeben hatte, „in Amerika leben lauter unterschiedliche Menschen aus aller Herren Länder und alle wollen irgendwie gleich sein. Hier in Jugoslawien leben lauter Menschen mit gleichem Ursprung und gleicher Geschichte und sie wollen um jeden Preis verschieden sein! Das ist doch paradox oder nicht? Seht ihr darin einen Sinn?“

Die Sinnfrage stand bei den anderen beiden Männern jedoch weniger im Vordergrund. Ihnen ging es eher um die Frage, wie man den Krieg vergessen konnte. Die Schmerzen der Schrotsplitter, die die Männer in Arme und Beine bekommen hatten waren noch immer da. „Nach dem 5. Bier wird es besser!“ meinte der Barbesitzer lachend, „und nach dem 15. Merkt man gar nichts mehr!“ Dabei sah man ihm jedoch an, dass es nicht in erster Linie um den körperlichen Schmerz ging, sondern eher um das was seine Seele hatte erleiden müssen.

Die vier erzählten uns auch von einer Jagdhütte, die elf Kilometer hinter dem Ort im Canyon lag und die immer geöffnet war. Dort könnten wir die Nacht verbringen, wenn wir wollten.

Doch als wir schließlich in den Canyon zogen war schon recht bald klar, dass wir sie heute nicht mehr erreichen würden. Dafür waren wir bereits zu kaputt. Als wir eine Stelle am Fluss fanden, die breit genug war, um ein Zelt darauf zu bauen, nahmen wir diese Gelegenheit dankbar war.

Spruch des Tages: Wer versteht die Menschen? Die einen sind verschieden und wollen unbedingt gleich sein, die anderen sind gleich und wollen unbedingt verschieden sein.

Höhenmeter: 370 m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 9957,77 km

Wetter: sonnig und noch ein bisschen heißer als gestern

Etappenziel: Zeltplatz mitten im Canyon, irgendwo hinter Parsovici, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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