Tag 568: Flüchtlingslager

von Heiko Gärtner
25.07.2015 20:00 Uhr

Noch 3 Tage bis zu Tobias’ 2. Weltreisegeburtstag!

Das einzige, was uns in der Nacht im Wald ein bisschen belästigte, waren die vielen Insekten. Allein in unserem Zelt hatten sich gut und gerne 800 kleine Fliegeviecher versammelt und im Freien tollten sie wie verrückt um unsere Nasen. Kaum hatten wir den Topf mit Wasser für den Reis gefüllt, befand sich auch schon ein kleiner Mückenschwarm darüber, der ihn als neues Biotop anerkannt hatte. Doch wenn man einmal von den juckenden Stichen absah, war dieses Waldstück der ideale Schlafplatz gewesen. Wir hatten sowohl Ruhe als auch Schatten und blieben von nächtlichen Störenfrieden verschont.

All das führte dazu, dass wir am Morgen mehr als eineinhalb Stunden verschliefen. Offensichtlich waren die letzten Tage doch anstrengender gewesen als wir gedacht hatten und so holten sich unsere Körper nun den Schlaf nach, den sie brauchten. Paulina war bereits lange vor Heiko und mir wach, doch auch sie genoss die friedliche Waldstimmung. Nachdem sie jahrelang die laute Innenstadt von Nürnberg gewöhnt war, klangen die leisen Waldgeräusche und das Summen der Insektenmassen wie eine sanfte Melodie in ihren Ohren.

Der weitere Weg stand dem Schlafplatz um nichts nach. Wir wanderten mitten durch den Wald auf einem zum Teil sehr abenteuerlichen Forstweg, in den das Regenwasser an einigen Stellen eine tiefe Schlucht gewaschen hatte. Für Paulina war es das erste Off-Road-Abenteuer mit ihrem eigenen Wagen und obwohl es sehr anstrengend war und sie an einigen Stellen auch etwas nervös machte, genoss sie die spannende Strecke. Gegen Mittag erreichten wir dann wieder eine Teerstraße, die uns runter zur Hauptstraße führte. Hier sollte nach einer Kreuzung dann das Dorf kommen, in dem wir eigentlich übernachten wollten, doch wie sich herausstellte war das nicht ganz so einfach. Denn das Dorf bestand zum größten Teil überhaupt nicht aus Wohnhäusern, sondern aus einer durchaus bemerkenswerten Ansammlung an Institutionen. Das erste Gebäude war eine Psychiatrie, in der vorzugsweise Menschen betreut wurden, die die Folgen des Krieges nicht verkraftet hatten. Es war eine ähnliche Einrichtung wie die, die wir bereits einige Male hier in Bosnien gesehen hatten. Auffällig war hier jedoch, dass direkt daneben ein forensisches Untersuchungslabor lag. Es war nicht nur ein Labor von beachtlicher Größe, sondern auch das einzige, das wir in Bosnien bisher gesehen hatten. Wie kam es, dass sich diese beiden Institutionen mitten im Nichts auf einem versteckten Berghang direkt nebeneinander befanden?

Sofort musste Heiko an die Situation mit seinem verstorbenen Onkel Hans denken, der zu Zeiten des Dritten Reichs in eine psychiatrische Anstalt gekommen war in der Menschenversuche an den Patienten durchgeführt wurden. Was war, wenn diese Institution hier ebenfalls einem solchen Zweck diente? Dass Kriege dafür genutzt wurden, um einen geschützten und legitimierten Rahmen pharmazeutische Experimente an Menschen zu machen ist schließlich weder ein Geheimnis noch ein Einzelfall. Lag hier also vielleicht eine weitere Ursache für den Jugoslawienkrieg? Brauchte man vielleicht wieder einmal neue menschliche Versuchskaninchen? Auffällig war jedenfalls, dass sich keine hundert Meter hinter dem Labor ein Flüchtlingslager befand. Es bestand aus einer Aneinanderkettung von kleinen Holzbaracken und Blechhütten, die zum großen Teil noch immer bewohnt waren. Es war wirklich so, wie Marcel es uns in Medjugorje gesagt hatte. Die Flüchtlingslager sahen auch heute, also 20 Jahre nach Kriegsende noch immer so aus, als wäre der Krieg erst seit gestern vorbei.

Da die Ortschaft mit all ihren Geheimnissen zwar spannend aber nicht besonders einladend wirkte, zogen wir noch ein Stück weiter, um in der nächsten Stadt unser Glück zu versuchen. Doch in Bezug auf jedwede Art von Glück wurden wir bitter endtäuscht. Die Stadt war einer der grauenhaftesten Orte, durch die wir je gewandert sind. Ich könnte mich jetzt eine ganze Weile darüber auslassen, aber ich denke eine Sache trifft es ziemlich auf den Punkt: Wir waren hungrig, hatten jede Menge Appetit und es gab mehrere Dönerbuden am Straßenrand. Trotzdem fragten wir nicht einmal nach, weil wir uns so unwohl fühlten, dass wir es nicht wagten, lange genug stehen zu bleiben, um auf die Fertigstellung unseres Essens zu warten. Muss ich noch mehr dazu sagen?

Wir durchquerten die Stadt und klapperten dabei lediglich ein paar Gemüseläden ab, von denen uns die meisten jedoch absagten. Nicht einmal das war also erfolgreich. Wären wir einfach ohne stehen zu bleiben durchgegangen und hätten die letzten Häuser am Ortsausgang gefragt, wären wir deutlich besser dabei weggekommen.

Auf der anderen Seite der Stadt führte eine kleine Straße wieder hinaus ins offene Land. Hier suchten wir uns nach ein oder zwei Kilometern einen Zeltplatz am Wegesrand. Eigentlich hätten wir es besser wissen müssen, als so nahe einer so grausamen Stadt so offen zu Zelten. Doch alles wirkte so friedlich. Eine alte Frau hütete ihre Schafe, von denen eines in regelmäßigen Abständen rülpste. Ansonsten war es still. Wer hätte ahnen können, dass sich das bei Sonnenuntergang so fatal ändern würde? Ok, der Motorradfahrer mit dem abgesägten Auspuff und der schmierige Kerl mit seinem rostigen Golf, die beide bis zu unserer Kreuzung fuhren, gafften und dann wieder umkehrten, hätten eine Warnung sein können. Doch wir waren einfach zu kaputt vom Wandern um uns großartig Gedanken darüber zu machen. Ein fataler Fehler, den wir sicher nicht noch einmal machen werden.

Denn in der Nacht kehrten die Autofahrer mit ihren Freunden zurück, hupten, schrien, blendeten mit den Flutscheinwerfern und schlugen sogar mit der Hand gegen unsere Zelte. Es war die Jugendlichen-Variante des Terrors, den uns die Kinder vor ein paar Tagen geliefert hatten.

Spruch des Tages: Wenn mir das hier und die Hölle gehören würde, würde ich diesen Ort vermieten und in der Hölle wohnen (Ich weiß, den hatten wir schonmal, aber er passt einfach zu gut!)

 

Höhenmeter: 50 m

Tagesetappe: 8 km

Gesamtstrecke: 10.119,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz im Tal auf einer Schafswiese, Kram, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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