Tag 570: Todesangstkonflikt – Teil 2

von Heiko Gärtner
25.07.2015 20:27 Uhr

Noch 1 Tag bis zu Tobias’ 2. Weltreisegeburtstag!

Fortsetzung von Tag 569:

Die andere Möglichkeit ist, dass wir nach unserem Tod einfach verschwinden. Wir sind weg, so als hätte es uns nie gegeben. Doch auch davor haben wir Angst. Wir wollen nicht einfach weg sein. Wir wollen unser Leben besitzen und auch behalten. Wir sind habgierig und wollen nichts, das wir als unser Eigentum betrachten, je wieder hergeben. Nicht unser Haus, nicht unseren Partner und schon gar nicht unser Leben. Selbst dann nicht, wenn wir es überhaupt nicht mehr mitbekommen.

Selbst wenn wir an mehrere Leben glauben, macht uns der Gedanke noch immer Angst, weil wir so sehr an die Idee von Schuld und Sühne gewöhnt sind, dass wir annehmen, im nächsten Leben bestraft zu werden. Vielleicht werden wir als mindere Kreatur wiedergeboren. Wenn es jedoch tatsächlich eine Wertigkeit in den Geschöpfen dieser Erde gibt, dann müssten sich wohl eher ungezogene Ameisen Sorgen machen, dass sie als Mensch wiedergeboren werden. Denn wir sind definitiv nicht die höchste Lebensform auf diesem Planeten. Aber eine solche Wertigkeit gibt es nicht. Jedes Wesen hat seine Aufgabe und seinen Sinn und ist genauso ein Teil Gottes wie jedes andere Geschöpf.

Fakt ist also, es gibt keinen rationalen Grund, den Tod zu fürchten, außer, dass wir das Gefühl haben, dieses Lebenskapitel noch nicht beendet zu haben. Elefanten und auch die Menschen in vielen Naturvölkern spüren irgendwann, wenn ihre Zeit gekommen ist und legen sich dann ganz bewusst zum Sterben nieder. Sie wissen, dass sie ihre Lebensaufgabe erfüllt haben, suchen sich einen besonderen Ort, an dem sie ihr Leben beenden wollen und hören dann einfach auf zu atmen. Es gibt keinen körperlichen Grund dafür wie bei uns und es ist auch kein trauriger Prozess. Einige Kulturen feiern sogar noch einmal eine fette Party zu ehren des Menschen, der sein Leben nun erfolgreich beendet hat. Warum sollte man da auch traurig sein? Ihr Leben war wie die Fahrt in einem schönen Auto, dass sie nun bis ans Ziel gebracht hat. Jetzt, da sie angekommen sind, können sie in Frieden aussteigen und das Auto, also ihren physischen Körper zurücklassen. Wir hingegen glauben, dass wir mit dem Auto sinnlos durch die Gegend fahren müssen, ohne zu wissen, wohin wir eigentlich wollen. Wir achten keine Verkehrsregeln, warten den Motor nicht und wundern uns dann, wenn das Gefährt irgendwann den Geist aufgibt und liegen bleibt. Dann plötzlich bekommen wir Angst, weil wir uns irgendwo in der Pampa befinden, wo wir eigentlich überhaupt nicht hinwollten. Wir glauben unser Leben vertan zu haben und können es daher nicht loslassen. Klar ist unser Körper nun verschlissen und kaum noch fahrtüchtig, aber wir glauben ihn noch immer zu brauchen, weil wir unser Ziel ja nicht erreicht haben.

Da es uns an Urvertrauen fehlt, leben wir also in einer permanenten Angst davor, Sterben zu können, bevor wir unser Ziel erreicht haben. Wir beziehen diese Angst nicht direkt auf den Tod, aber unbewusst schwingt es immer mit. „Wenn mich meine Eltern nicht mehr lieb haben, kümmern sie sich nicht mehr um mich und dann muss ich sterben!“ „Wenn ich mich verletze weil ich Mutig sein wollte, muss ich sterben.“ „Wenn mich mein Partner verlässt bekomme ich keine Liebe mehr und muss sterben!“

Dieses unterschwellige Gefühl führt dazu, dass wir ständig nach Sicherheit lechzen. Wir trauen uns nicht, frei zu schwimmen, sondern halten uns stets am Beckenrand fest. Auf diese Weise kommen wir jedoch nie richtig ins leben. Wir haben so eine Angst vor dem Tod, dass wir schließlich sterben, ohne je gelebt zu haben.

Denn letztlich sind es nicht die anderen, die unser Leben sicher oder gefährlich machen, sondern wir selbst. Stellt euch vor, ihr habt Sex mit einem Partner und genau in dem Moment, in dem es eigentlich zum Höhepunkt kommen sollte, erzählt er euch, dass er eine tödliche Geschlechtskrankheit hat. Könnt ihr euch einen dämlicheren Zeitpunkt für diese Nachricht vorstellen? Kurz vor dem Akt wäre es in Ordnung gewesen, denn dann hättet ihr darauf verzichten und euch für die Gesundheit entscheiden können. Anschließend wäre es auch noch vertretbar, denn dann kann man immerhin sagen, man hat zum Abschluss noch einmal richtig Spaß gehabt. Aber in dem Augenblick könnt ihr nichts mehr ändern und trotzdem versaut es euch die Stimmung. Genau das gleiche ist es mit der Angst, die exakt im Moment der Entscheidung auftaucht. Nach der Situation wäre es Ok gewesen. Wenn alles vorbei ist und man plötzlich realisiert, in was für einer Gefahr man eigentlich geschwebt ist, dann kann man gerne mit zitternden Knien zusammensinken. Die Gefahr ist nun vorbei und es macht keinen Unterschied mehr, ob man erleichtert oder von sich selbst entsetzt ist. Nach einer Weile wird es sich wieder einpendeln und man bekommt einen gesunden Abstand zu der ganzen Geschichte. Noch sinnvoller ist es jedoch, wenn man vor der Situation einen gesunden Respekt hat, der es einem ermöglicht, die Gefahr genau einzuschätzen und sich eine sinnvolle Strategie zu überlegen. Dies ist ohne jeden Zweifel wichtig und in vielen Situationen entscheidend. Blinde Wut hilft nicht, sondern führt viel eher ins Verderben. Blinder Mut ist nichts anderes als Naivität, daher ist ein respektvoller und wachsamer Umgang mit möglichen Gefahrenquellen durchaus wichtig. Doch wenn man einmal eine Strategie festgelegt hat und entschlossen ist, sie durchzuziehen, dann hat die Angst keine sinnvolle Funktion mehr. Im Gegenteil, man benötigt nun einen großen Teil der Kraft, um gegen die eigene Angst zu kämpfen und diese Kraft ist für die eigentliche Handlung nun nicht mehr verfügbar. Dadurch bringen wir uns dann erst recht in Gefahr, denn unsere Aufmerksamkeit ist nicht mehr nach außen auf die Situation sondern nach innen auf die eigene Angst gerichtet. Wir bremsen uns selbst aus uns sorgen so dafür, dass unsere Angst eine Bestätigung finden muss.

Genau dieses Gefühl kam in der Nacht in mir auf. Deutlicher hätte man es mir kaum vor Augen führen können. Vor allem, weil die Gefahr in diesem Fall hauptsächlich vom Nichtstun ausging. Das warten und das Gefühl, ein Opfer dieser nächtlichen Angriffe zu sein, führte nur dazu, dass die Männer immer weiter gingen. So lange, bis ihnen eine Grenze gezeigt wurde.

In dieser Nacht akzeptierten sie jedoch nicht einmal Heikos Grenze. Denn eine gute halbe Stunde später kamen sie erneut um laut zu hupen und zu schreien. Letztlich waren es dann aber nicht wir, die den Spuk beendeten, sondern die Sonne. Es war nun bereits kurz vor vier und es dämmerte leicht. Ohne den Schutz der Dunkelheit jedoch trauten sich die Störenfriede nicht mehr zu uns herüber. Vielleicht wussten sie auch, dass zuhause ihre Mama wartete und dass sie eine gehörige Tracht Prügel bekamen, wenn sie zu spät nach Hause kamen.

Wir zogen jedoch noch einmal eine andere Lehre aus der Situation. Zeltplätze mussten ab sofort so gewählt werden, dass derartige Belästigungen ausgeschlossen waren. Das bedeutete: Entweder wir müssen so versteckt liegen, dass uns überhaupt niemand mehr sieht, oder wir müssen so geschützt sein, dass uns niemand etwas tun kann, auch wenn wir gesehen werden. Die erste Variante war natürlich die bessere, aber auch deutlich schwieriger zu bewerkstelligen, da wir ja nun zwei Zelte, zwei Solarsegel und drei Wagen dabei hatten, von denen einer in allen Neonfarben leuchtete, die es gab. Die zweite Variante war eine völlig neue Taktik, die wir bislang eigentlich eher vermeiden wollten. Stadt öffentliche Plätze zu wählen, suchten wir uns nun gezielt Privatgrundstücke, die mit Stacheldraht eingezäunt waren. Natürlich war es möglich, dass uns hier der Besitzer vertrieb, doch die Wahrscheinlichkeit war gering. Fast immer konnte man mit den Menschen reden und um eine einzige Nacht bitten, bei der man vorsichtig war uns nichts kaputt machte. Erfahrungsgemäß schickte einen dabei niemand weg.

Heute sah es jedoch so aus, als wäre uns tatsächlich die erste Variante gelungen. Wir fanden einen Wald in der nähe eines kleinen Dorfes, in dem wir unsere Zelte so versteckt aufbauen konnten, dass sie fast unsichtbar wirkten. Außerdem hatte unser Platz nur von zwei Seiten eine Zufahrt, die beide nur für Traktoren und Allradfahrzeuge zugänglich waren. Die eine führte direkt mitten in den Wald und die andere in das kleine Dorf. Im Notfall konnten wir sie sogar mit einigen Baumstämmen blockieren, so dass niemand mehr mit dem Auto zu uns fahren konnte. Besser hätten wir es eigentlich nicht treffen können, vor allem, da das Dorf nahezu ausgestorben war, als wir es durchquerten. Wir wurden also nicht einmal beim Ankommen gesehen. Und zu guter Letzt hatten wir sogar noch zwei Wach-Kühe, die uns vor unliebsamen Besuchern beschützten. Aus irgendeinem Grund war in diesem Dorf zwar so gut wie alles eingezäunt, doch die Kühe liefen trotzdem frei herum.

Ganz unsichtbar bleiben konnten wir dann aber doch nicht, da wir ja nach Wasser und Essen fragen mussten. Im Garten eines Häuschens, etwas unterhalb an der Straße, saß ein älteres Pärchen auf einer Hollywoodschaukel. Sie wirkten recht freundlich und stellten damit gute Kandidaten dar, um nach Essen zu fragen. Heiko war oben am Zelt geblieben und Paulina und ich hatten uns auf die Suche gemacht. Die Frau lud uns sofort ein, Platz zu nehmen und brachte uns einen eisgekühlten Saft, noch ehe wir überhaupt sagen konnten, was wir wollten. Dann schließlich sprang sie auf und suchte alles zusammen, was sie an Essen auftreiben konnte. Sie grub Kartoffeln, Radieschen und Möhren aus, brachte uns Eier von ihren Hühnern, suchte nach der schönsten Zucchini und forderte ihren Mann auf und Johannisbeeren zu pflücken. Anschließend füllten wir gemeinsam sämtliche Wasserbehälter, die wir dabei hatten. Denn heute – so hatte Paulina beschlossen – war wieder einmal Waschtag.

Außer uns vier Menschen gab es im Garten noch eine kleine Katze. Sie hieß David uns war ein Findelkind, das der Mann vor ein paar Tagen von der Straße aufgeklaubt hatte. Seither durfte der Kater hier wohnen. Er war gerade einmal zwei oder drei Wochen alt und tollte wie ein junger Gott durch das Gras. Ich versuchte ihn zu fotografieren, aber da er jedes Mal sofort angesprungen kam um an der Kamera zu schnüffeln, war das nahezu unmöglich.

Schließlich verabschiedeten wir uns von dem Ehepaar und dem kleinen Kater und machten uns auf den Heimweg.

Damals, als wir unsere Ausrüstung für die Weltreise zusammengesucht hatten, hatten Heiko und ich großen Wert darauf gelegt, alles so funktional wie nur möglich zu machen. Deshalb hatten wir unsere Badezimmerartikel in einen Packsack gefüllt, den man auch als Outdoordusche verwenden konnte. Er hatte unten eine kleine Düse, die man öffnen konnte, so dass man mit Wasser berieselt wurde, wenn man ihn in einen Baum hing. In den vergangenen 560 Tagen haben wir ihn nie verwendet, doch heute hatte er seine Prämiere. Und ich muss sagen, dass es sogar richtig Spaß machte, sich darunter zu duschen. Obwohl das Wasser eiskalt war.

Frisch gereinigt machten wir uns an die Arbeit. Immerhin gab es viel zu berichten, wie ihr vielleicht schon gemerkt habt. Da nun bereits der vierte Tag in Folge ohne einen Indoorschlafplatz war, gingen unsere Stromreserven langsam zur Neige. Also mussten wir über die Solarsegel so viel erwirtschaften, wie nur möglich war und dafür war ein Wald natürlich nur mäßig geeignet. Dies war der Grund, weshalb wir letztlich doch entdeckt wurden. Ich saß am Ortsrand auf einer Wiese und schrieb, als ich plötzlich von einem Mann und einer Frau angesprochen wurde. Ich versuchte zu erklären, was wir hier machten und wurde von dem Mann sofort nach meinem Reisepass gefragt. Später erfuhr ich dann, dass er Polizist war und dass die Frage daher eine Art Reflex war, den er nicht kontrollieren konnte. Sie hatten nichts gegen unsere Anwesenheit, ließen sich aber auch nicht davon abbringen, sich mit uns zu unterhalten, was zwar nett, aber nicht unbedingt unser Ziel war. Das die beiden kein Englisch sprachen, holten sie ihren Sohn hinzu, der für uns übersetzte. Plötzlich waren nicht nur die Menschen anwesend, sondern auch die beiden Wachkühe, zwei Hunde und eine ganze Schafsherde. Ich habe noch immer keine Ahnung wo die alle her kamen, doch ich fühlte mich nun etwas bedrängt. Vor allem deshalb, weil die Solarsegel noch immer auf dem Boden herumlagen und sicher nicht besonders gut auf Huftritte oder Hundeurin reagierten. Mit Hilfe des Jungen packte ich alles zusammen und folgte der Familie auf eine umzäunte Grünfläche.

„Hier ist es sicherer“, meinte der Junge, „denn hier kommen die Kühe nicht hin.“

Dafür krochen die Ziegen unter dem Zaun hindurch und auch die Hunde folgten uns ungehindert. Was die Kühe anbelangte, da hatte er aber Recht. Stattdessen tauchte später ein großer schwarzer Hengst auf, der wohl der eigentliche Besitzer dieser Wiese war. Besonders sicher war dieser Platz damit dann auch wieder nicht und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich direkt neben die Segel zu setzen und Wache zu halten. Paulina war nun ebenfalls mit dem Duschen fertig und übernahm die Gespräche mit den Nachbarn, so dass ich weiterschreiben konnte. Dabei wurde sie gleich wieder vor die nächste Herausforderung gestellt, denn die Frau bot ihr nicht nur jede Menge Kekse, sondern gleich auch noch eine große Schüssel Eis an. Härter kann man es als frisch gebackener Einsteiger in ein ernährungsbewusstes Leben kaum bekommen. Da will man gerade mit dem Zuckergefutter aufhören und ist sich selbst noch nicht so sicher, ob man es damit wirklich ernst meint und schon bekommt man eine Verführung nach der nächsten. Von allen Seiten schallt es: „Nicht vielleicht doch ein kleines bisschen Eiscreme? Oder wenigstens ein Keks?“ „Komm schon, so ein bisschen schadet doch niemandem!“ Und sogar das Eis selbst schaut einen mit großem Hundeblick an und flüstert ununterbrochen und verführerisch: „Vernasch mich!“

Wusstet ihr, dass der Grund warum sich nur so wenige Menschen bewusst ernähren nicht darin liegt, dass sie das Bewusstsein nicht besitzen und auch nicht darin, dass sie nicht auf die ungesunden Dinge verzichten können? Die Hauptursache ist der gesellschaftliche Druck. Der Gruppenzwang wenn man genau sein will. Eltern warnen ihre Kinder immer davor, wenn es dabei ums Rauchen, Trinken oder andere Drogen nehmen geht. Doch dass das gleiche Prinzip bei jedem gemeinsamen Essen zuschlägt ist eigentlich nur Veganern, Rohköstlern und Zucker-Abstinenzlern bewusst.

Heute jedoch blieb Paulina hart und schaffte es der Versuchung zu wiederstehen. Dafür wurde sie dann auch mit saftigen Pfirsichen und einer wirklich fetten Wassermelone belohnt.

Spruch des Tages: Dein Leben ist eine Reflexion deiner Entscheidungen, die du getroffen hast. Willst du andere Ergebnisse, wirst du andere Entscheidungen treffen müssen. Dein Leben verändert sich nicht, weil du etwas anderes erwartest, sondern nur, weil du dich veränderst. (Santana)

 

Höhenmeter: 120 m

Tagesetappe: 14 km

Gesamtstrecke: 10.143,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz im Wald, nahe Odzak, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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