Tag 578: Künstliche Verknappung

von Heiko Gärtner
01.08.2015 19:05 Uhr

Wir überspringen nun wieder einen Tag, denn über meinen Geburtstag habe ich ja bereits geschrieben. Zumindest über das meiste. Denn am Abend wurden wir dann von der Pfarrersfamilie wirklich noch zum Grillen eingeladen. Eigentlich nahmen wir daran eher ausversehen teil. Der Internetempfang funktionierte nur auf der Terrasse des Pfarrhauses und da ich für´s Einstellen der Berichte den ganzen Abend brauchte, wurde irgendwann einfach der Tisch um mich herum gedeckt. Plötzlich stand ein Teller mit Grillfleisch vor mir. Auch Paulina kam hinzu um mit unseren Gastgebern zu essen. Nur Heiko blieb in unserem kleinen Zimmerchen. Der Pfarrer, seine Frau und seine Kinder waren nicht die einzigen Anwesenden, denn wie üblich in dieser Region wurde die ganze Familie, bzw. der Freundeskreis eingeladen. Für den Heilungsprozess, den Heikos Ohren gerade durchmachten, war das dann doch etwas viel.

Am nächsten Morgen verließen wir Milici und folgten der Straße weiter in Richtung Norden. Nach einigen Kilometern kamen wir an einem Hühnermastbetrieb mit 9 Masthallen vorbei. Genau in diesem Moment befanden sich also 720.000 Hühner hinter den Mauern. Als wir ans Tor kamen fuhr gerade ein LKW vom Hof, der komplett mit Hühnerscheiße vollbeladen war. Wir hatten ja inzwischen schon einige solche Betriebe gesehen, doch der übertraf an Größe die bisherigen noch einmal bei weitem. Allein auf diesem Hof wurden jährlich ca. 7 Millionen Kilogramm Fleisch produziert. Die Bosnier hatten außer in den größeren Städten fast alle ihre eigenen Hühner. Für sie war ein solcher Großbetrieb also nicht nötig. Das meiste davon wurde also aller Wahrscheinlichkeit nach ins Ausland exportiert. Nach Deutschland vielleicht?

Spannend war auch, dass der Hühnermastbetrieb das gleiche Logo hatte, wie auch die Tankstellen und die Hotels in Milici. Alles gehörte also der gleichen Organisation und wenn mich nicht alles täuscht, dann handelt es sich beim Eigentümer um die Stadt selbst.

Ungefähr auf der hälfte der Strecke machten wir eine Pause im Park eines kleinen muslimischen Dorfes. Nach kurzer Zeit kam ein Mann auf uns zu und sprach uns auf Deutsch an. Anders als unsere Pausenbegegnungen der letzten Tage war diese Begegnung jedoch angenehm und bestand nicht nur aus den üblichen, lästigen Fragen und dem Fehlen jeglicher Freundlichkeit. Der Mann war wirklich interessiert und dabei auch noch sehr hilfreich. Er erzählte uns, dass angeblich aufgrund „der großen Trockenheit in diesem Jahr“ die Wasserversorgung stark eingeschränkt wurde. Viele der öffentlichen Quellen waren abgedreht oder stark gedrosselt worden, so dass man dort kein Wasser mehr zapfen konnte. Mir fiel ein, dass bereits im Hostel in Sarajevo ein Schild gehangen war, das darauf hinwies, dass in Sarajevo aufgrund von Wassermangel nachts zwischen 24:00 und 06:00 Uhr das Wasser abgedreht wurde. Das ergab doch keinen Sinn! Bosnien ist eines der größten Wasserreservate Europas und erst gestern hatte es geschüttet als gäbe es keinen Morgen mehr. Auch dem Mann kam die Sache nicht ganz logisch vor. Als wir kurz darauf weiterwanderten fiel uns tatsächlich auf, dass die meisten Quellen am Straßenrand nur noch tröpfelten oder ganz versiegt waren. Es waren gemauerte Becken mit Rohren aus denen das Wasser lief. Dahinter befanden sich jeweils Metallklappen, die wie eine Art Gullydeckel ein Loch im Boden verdeckten. Hier mussten sich die Rohrleitungen befinden, durch die das Wasser aus dem Felsen zur Quelle lief. Und hier befanden sich auch die Hähne, mit denen man den Zulauf auf und abdrehen konnte. Eine solche Quelle abzuschalten änderte am Lauf des Wassers nur sehr wenig, denn es floss ja weiterhin aus dem Felsen und landete im Fluss unterhalb der Straße. Ob es dabei nun abgezapft werden konnte oder nicht spielte keine Rolle. Die Wassersparaktionen machten also keinen Sinn. Es war eine künstliche Verknappung, um den Menschen ein Gefühl von Armut zu geben, weiter nichts. Vor nun genau einem Jahr hatten wir die Extremadura in Spanien durchquert. Ein Steppengebiet in dem es teilweise zwei Jahre lang nicht geregnet hatte. Und trotzdem wurde dort jedes Feld täglich bewässert und nirgendwo hatte es auch nur eine Frage gegeben, ob das Grundwasser reichen könnte. Wenn es dort keine Wasserknappheit gab, wieso sollte es sie dann hier geben? In einem Land, das so grün und fruchtbar war, wie kaum ein zweites auf dieser Welt.

Noch heftiger wurde dieses Paradox, wenn man überlegte, dass der Fluss, der unterhalb der Straße durch den Ort führte nur wenige Kilometer früher in den Bergen entsprang und eigentlich auch reines, klares Trinkwasser führte, mit dem man in der Stunde den 5fachen Tagesbedarfs der ganzen Ortschaft decken konnte. Doch seit man den Hühnermastbetrieb gebaut hatte, war dieses Wasser natürlich wertlos. Das Abwasser mit all den Abfällen, den Antibiotika, den chemischen Futtermitteln und der gleichen mehr wurde in diesen Fluss geleitet. Dadurch konnte man das Wasser nicht einmal mehr zum Wäschewaschen gebrauchen.

Unser heutiges Tagesetappenziel hätte eigentlich Konjevici heißen sollen und bis wir das Dorf erreichten war ich eigentlich auch recht guter Dinge, dass wir dort einen Schlafplatz finden würden. Doch noch ehe wir die Kirche erreichten hörten wir schon, dass das heute nicht klappen würde. In Konjevici war heute Schützenfest. Und in diesem Fall stand das „Schütze“ eindeutig für Erschießungskommando.

Jeder von euch hat sicher schon einmal eine schlechte Party besucht, aber diese hier verdiente nicht einmal mehr die Bezeichnung „Fest“. Stellt euch ein winziges Dorf vor, dass genau an der Kreuzung zwischen zwei Hauptstraßen liegt. Diese Kreuzung ist der Austragungsort der Festlichkeit, was bedeutet dass man auf den kleinen Raum links und rechts der Straße rund zwanzig Buden, Festzelte und Fahrgeschäfte gequetscht hat. Stellt euch nun jede erdenkliche Musikrichtung vor, die für sich allein genommen schon dazu führt, dass man Aggressiv wird: Techno, Hardrock, Balkan-Schlager, Arabische Volksmusik, Gangster-Rap und der gleichen mehr. Dass unsere moderne Musik gegen unseren Herzrhythmus verläuft und daher im Körper zur Ausschüttung von Stresshormonen führt, will ich an dieser Stelle gar nicht groß breit treten. Denn die Sache war auch so schon schlimm genug. Stellt euch nun diese verschiedenen Musikrichtungen vor, wie sie alle gleichzeitig viel zu laut aus viel zu leistungsschwachen Boxen kommen, die alle gegeneinander gerichtet sind. Es gibt also keinen Platz mehr in diesem Ort, an dem man nur ein Musikstück hört, man hört immer alle gleichzeitig. Dabei habe ich vergessen zu erwähnen, dass die Rhythmen natürlich nicht abgestimmt sind, sondern versetzt laufen. Auch die einzelnen Klänge bauschen sich zu grausigen Tongemischen auf, für die man eigentlich einen Waffenschein benötigt. Das einzige, was von allen Seiten einigermaßen harmonisch zusammenspielte, waren die Störgeräusche der übersteuerten Lautsprecher. Wenn hier jede Party so aussah, dann war es kein Wunder, warum die Menschen schon zum Frühstück drei Becher Raki oder Slivovic tranken. Andererseits: Wenn man bedachte, dass die Menschen hier schon zum Frühstück drei Becher Raki oder Slivovic tranken, war es auch keine Wunder, dass die Partys hier so aussahen.

Für uns war jedenfalls klar, dass wir hier nicht bleiben konnten. Nicht nur dass uns dieser Musik-Kauderwelsch selbst so aggressiv gemacht hätte, dass wir irgendwann jede Box zertrümmert hätten, den Einheimischen ging es ja nicht anders. Nur waren sie dazu noch stockbetrunken und würden sich definitiv ein anderes Opfer zum Aggressionsabbau suchen als ihre Musikquellen. Das konnte man ihnen nicht verübeln, doch wir wollten auf jeden Fall vermeiden, die Rolle der lebenden Piñiata zu übernehmen.

Dummerweise führte unsere Straße nun wieder in einen schmaleren Canyon und war außerdem zu beiden Seiten für weitere zehn Kilometer eng bebaut. Wie also sollten wir hier ein Versteck für unser Lager finden?

An einigen Stellen führten kleinere Wege links und rechts in Nebentäler. Beim ersten Versuch in einem solchen Weg einen Platz zu finden, wurde Heiko gleich mit einem Luftgewehr begrüßt, das ein frustrierter Hauseigentümer auf ihn richtete. Offenbar hatte der Mann die selben Schlüsse in Bezug auf die Folgen der Ich-hasse-meine-Ohren-Party gezogen.

Ein Stück weiter hatten wir mehr Glück. Hier gab es ein paar stillgelegte Häuser, vor denen gerade gebaut wurde. Daneben befand sich ein kleiner Bach in dessen Bett man gerade noch wandern konnte. Hinter den Häusern und eingepfercht zwischen dem Bachlauf und einem Maisfeld gab es einen kleinen Schuttplatz, der von keiner Seite her einsehbar war. Er war so uneben, dass wir eine gute halbe Stunde darauf verwendeten, ihn einzuebnen, aber dann war er ein guter Schlafplatz. Nicht der beste, den wir je hatten, aber der beste, den wir hier bekommen konnten.

Spruch des Tages: Wo soll hier denn ein Wassermangel sein?

 

Höhenmeter: 80 m

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 10.254,77 km

Wetter: bewölkt aber trocken

Etappenziel: Hotel Restoran Odmor na Drini, Crvica bb, Bajina Bašta, Serbien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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