Tag 579: Krisengespräche – Teil 1

von Heiko Gärtner
12.08.2015 18:14 Uhr

Bevor ich euch von den kommenden Ereignissen erzähle, möchte ich noch einmal deutlich betonen, dass ich die Dinge aus meiner persönlichen Sicht schildere, die keinen Anspruch auf Objektivität und Vollständigkeit erhebt. Das ist zwar schon immer so, aber diesmal ist es mir noch einmal besonders wichtig, weil es in vielen Punkten nicht um mich sondern um Paulina geht und weil es zum Teil recht heikle und gefühlsgeladene Situationen waren. Heiko wird vieles auch noch einmal aus seiner Perspektive beschreiben und vielleicht ist Paulina auch eines Tages bereit, von sich aus etwas zu erzählen. So lange müsst ihr erst einmal mit meiner Sicht vorlieb nehmen.

Beim Abendessen im Zelt kamen wir noch einmal auf verschiedene Themen von Paulina zusprechen. Bereits am Nachmittag hatten Heiko und Paulina ein längeres Gespräch geführt, bei dem es unter anderem um Paulinas Platz in unserer Herde gegangen war. Die Idee war eigentlich gewesen, dass Paulina nun auch einen Teil der Tagesberichte übernimmt und im Wechsel mit an den Texten für die Bücher schreibt. Doch bislang hatte sie noch nichts zu Papier gebracht. Ihre Unstrukturiertheit und ihre psychischen Schleifen waren so groß, dass sie gerade ihren Alltag bewältigen konnte. Doch etwas zu erschaffen schien nicht möglich zu sein. Gleichzeitig konnte sie das, was sie zur Gruppe beitrug, wie beispielsweise das Kochen, nicht als Schöpfungsprozess wahrnehmen. Sie kam sich selbst nutzlos vor und dieses innere Gefühl übertrug sich auch auf uns. Oft kam es vor, dass sie für ein oder zwei Stunden in ihrem Zelt verschwand und wir keine Ahnung hatten, was sie tat. Wenn sie dann am Abend bedauerte, wieder nichts geschafft zu haben, weil der Tag einfach zu stressig war, dann kam uns das nicht schlüssig vor. Gleichzeitig beschäftigten wir uns oft Stunden oder ganze Abende mit den psychischen Schwellen von Paulina, um ihr zu helfen, die Blockaden aufzulösen. Das machte zwar meist Spaß und brachte auch uns selbst bei unseren eigenen Themen sehr viel weiter, doch die Zeit die wir dafür verwendeten, ging von unserer Freizeit und von der Erschaffungszeit ab. Daher hätten wir uns gewünscht, dass wir an anderer Stelle etwas entlastet würden, um wieder einen Ausgleich zu schaffen. Doch das funktionierte noch nicht. Statt jeden zweiten Tagesbericht an Paulina abzugeben und so kontinuierlicher an meinen Recherchethemen dranbleiben zu können, wurden meine Berichte nun doppelt oder dreimal so lang. Was ja auch sehr spannend ist, denn alles worüber ich schreibe betrifft ja auch mich selbst. Dennoch hatten wir einen Punkt erreicht, an dem weder wir noch Paulina selbst erkennen konnten, wo ihr Platz in unserer Gruppe und was ihr Beitrag für die Allgemeinheit war.

Am Abend kamen nun weitere Themen hinzu. Heiko fiel auf, dass Paulina beim Essen noch weitaus mehr in sich hinein spachtelte als es wir beiden Männer taten. Und wir aßen wirklich wie die Scheunendrescher. Die Situation, die sich neulich beim Grillen ergeben hatte, wiederholte sich bei ihr fast täglich. Wann immer sie etwas zum Essen hatte, kam in ihr das Gefühl auf, dass es das letzte Mal sein könnte, dass es etwas gab. Der alte Verhungerungskonflikt schlug wieder zu und sie aß weit mehr als ihr selbst gut tat. Anschließend fühlte sie sich dann schlecht, weil ihr Bauch überfüllt war und sie sich kaum noch rühren konnte. Je größer dabei die Angst und der Hunger waren, desto stärker begann sie zu stopfen und desto weniger aß sie mit Genuss. Es war keine Wertschätzung für das Essen vorhanden, denn dafür hatte sie keine Zeit. Zu groß war die Angst, dass sie verhungern könnte. Auch Heiko und ich kannten diese Angst. Ich trug sie noch immer mit mir herum, wenngleich schon in einem bedeutend geringeren Maß als früher und als Paulina heute. Vor allem seit sie da war hatte ich das Gefühl, das ich die Angst vollkommen loslassen konnte. Ein bisschen war es, als hätte Paulina sie für mich übernommen, so dass ich sie nun nicht mehr brauchte. Es machte mir nicht einmal mehr etwas aus, wenn Essen übrig blieb, das wir dann wegwerfen mussten. Früher wäre das für mich unmöglich gewesen. Lieber überfraß ich mich, als dass ich das gute Essen in den Müll warf. Jetzt habe ich dieses Gefühl nicht mehr. Vielleicht auch, weil wir die Essenreste nun ins Freie kippen. Sie sind also nicht verloren sondern werden von anderen Wesen gefressen, die sicher auch ihren Spaß daran haben.

Heiko kannte das Gefühl am intensivsten von der Steinzeittour und von seiner Ausbildung zum Wildnismentor, als er für Monate im Wald lebte. Sein damaliger Mentor hatte ihm einmal gesagt, dass er sein Essen mit so viel Angst verschlinge, dass ihn diese Angst mehr Energie koste, als die Nahrung im je bringen konnte. Er fraß sich also hungrig. Und genau das gleiche machte Paulina auch gerade. Obwohl sie jeden Tag aufs neue erlebte, dass wir immer mehr als genug hatten, fehlte ihr doch das Vertrauen, dass es am Folgetag wieder so sein würde.

Ein zweiter Faktor ist ihr aus dem Gleichgewicht geratener Gerechtigkeitssinn. Aus irgendeinem Grund hat sie das Gefühl, dass wir alle drei komplett gleich sein müssen, wenn es um Nahrung oder ähnliches geht. Nicht gleichberechtigt, sondern gleich, wobei wir diese beiden Worte eh meist gleichsetzen. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie steckt in ihr das Gefühl verankert, zu kurz zu kommen, wenn sie nicht exakt genauso viel bekommt wie wir. Und dadurch wird jedes Essen zu einer Art Wettkampf für sie, den sie verliert, wenn sie vor uns mit dem Essen aufhört. Und schließlich kommt noch ein Thema hinzu. Das Thema der Ersatzbefriedigung. Seit sie ein Kind war hat Paulina häufig süßes oder leckeres Essen bekommen, wenn sie etwas gut gemacht hat. Essen wird von ihrem Organismus also mit Belohnung und damit mit einem Glücksmoment assoziiert. Dadurch bekommt die Nahrung nicht nur eine nährende sondern auch noch eine weitere Funktion, nämlich die Funktion eines künstlichen Highlights. Wenn ein Tiefgefühl, eine Trauer, eine Frustration oder der gleichen entsteht, also ein emotionales Hinweisschild dafür, dass etwas nicht stimmt, dann führt das in Paulina Fall nicht dazu, dass sie sich fragt, woher dieses Gefühl kommt und warum es da ist, sondern dazu, dass sie den unangenehmen Zustand mit Hilfe von einem Nahrungshighlight schnellstmöglich beenden will. Ein Muster, das übrigens sehr viele Menschen haben. Vor allem in Bezug auf Süßigkeiten gibt es dabei ein Phänomen, das die Sache besonders heikel macht. Das ist übrigens auch eine Sache, die ich schon längst mal beschrieben haben wollte. Man kommt hier aber auch zu nichts. Naja, ich werde das ausführlich nachholen, wenn ich einen Artikel über Zucker und über die sogenannte glykemische Last schreibe. In allen Einzelheiten wäre es jetzt wieder etwas zu lang, daher hier nur eine kurze Übersicht. Zuckerartige Nährstoffe werden je nach ihrer Art vom Körper sehr unterschiedlich abgebaut. Der Zucker, der in reifen Früchten enthalten ist, braucht beispielsweise sehr lange, bis er vom Körper aufgeschlüsselt wurde. Er gibt seine Energie also über einen größeren Zeitraum gleichmäßig ab. Industrieller Zucker und einige andere Zuckerarten auch, werden hingegen sofort und sehr schnell aufgeschlüsselt. Damit kann unser Körper jedoch nicht richtig umgehen und muss eine Art Ausnahmeprogramm starten. Im Klartext: Zucker wird von unserem Körper nicht als Lebensmittel sondern als Gift wahrgenommen, das ihn in eine Art Schockzustand versetzt. Um an diesem Schockzustand nicht zu sterben werden hohe Mengen an Insulin und Adrenalin ausgeschüttet, ähnlich wie in anderen Extremsituationen. Für unseren Organismus ist es also das gleiche, ob wir im Free-Solo 300 Meter über dem Boden an einem Felsen hängen, von einem wahnsinnigen Irren mit einer Schrotflinte verfolgt werden oder eine Tafel Schokolade essen. Jedes Mal stellt er sich auf einen Überlebenskampf ein, mobilisiert alle Energiereserven, schärft unsere Aufmerksamkeit und unsere Sinne, wird wach und versucht einen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Da wir im Falle des Zuckers jedoch gleichzeitig die Gefahr als bewältigt ansehen, weil sie ja im Außen nicht existiert, schüttet unser Gehirn sofort die Glückshormone aus, die stets nach der Überwindung einer Gefahr freigesetzt werden. Ähnlich wie Kaffee, Alkohol und andere Drogen wirkt sich der Zucker also direkt auf unsere Körperfunktionen aus und da sich unser Körper nach einiger Zeit daran gewöhnt, werden wir davon abhängig. Da wir wie alle Wesen nach Glückseligkeit streben, jedoch wie fast alle Menschen keine Ahnung haben, wie wir sie erreichen sollen, versuchen wir stets unser Leben mit Glücksmomenten voll zu stopfen. Doch zwischen Glück und Glückseligkeit gibt es einen gewaltigen Unterschied. Ein Glücksmoment ist ein Highlight-Moment, also ein kurzes Aufflammen von positiven Emotionen. Wir bekommen es, meist dann, wenn wir gerade eine Herausforderung gemeistert haben, also nach sportlicher Aktivität, nach einer bestandenen Prüfung, nach einer erwiderten Liebeserklärung oder eben wenn wir gerade einen Zuckerschock überlebt haben. Dieses Glücksgefühl kann aber kein Dauerzustand werden, denn dann müssten wir uns permanent in Gefahr begeben. Es wäre ein Zustand endlosen Stresses mit permanent erhöhtem Pulsschlag. Das kann nicht gut gehen. Glückseligkeit hingegen ist ein Zustand inneren Friedens, also ein Gleichklang mit uns selbst, in dem wir vollkommen im gegenwärtigen Augenblick sind und vollkommen in uns ruhen. Da sich die Glücksmomente jedoch sehr ähnlich anfühlen und da wir uns fast alle in einem permanenten Krieg mit uns selbst befinden, versuchen wir die Glückseligkeit damit zu erreichen, dass wir so viele Glücksmomente wie möglich aneinander reihen. Die Folge ist, dass wir adrenalinsüchtig werden. Eine Sucht die sich sowohl im Verlangen nach immer größeren und gefährlicheren Nervenkitzeln aber auch nach Essen, Kinofilmen oder anderen Ersatzbefriedigungen äußern kann. Denn das spannende ist, dass es egal ist, ob wir die Gefahr selbst überstehen oder ob wir sie uns nur vorstellen, weil wir uns beispielsweise in den Held eines Actionfilms hineinversetzen.

Nun aber zurück zu Paulina. Wie jeder andere Mensch auch, versuchte sie ihr Leben so glücklich wie möglich zu gestalten. Eine Strategie war dabei der Genuss von Süßigkeiten, wenn es ihr einmal nicht besonders gut ging. Beispielsweise, weil sie gerade frustriert war, dass sie nichts erschaffen konnte. Wenn keine Süßigkeiten da waren, dann funktionierte es auch, wenn sie sich etwas anderes zu Gemüte führte. Dabei hielt der Glückszustand jedoch nur so lange an, wie sie etwas im Mund hatte. Es war also wichtig, das Essen möglichst in die Länge zu ziehen um den Glücksmoment so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig bedeutete dieser Glücksmoment für den Körper aber auch Stress, da der Zucker ja einen Todesangstkonflikt auslöste. In ihrem Kopf wurden diese beiden Umstände also miteinander verknüpft. Das Ergebnis war folgender Glaubenssatz: Nur wenn ich mich in einer gefühlten Gefahr und in einem Stresszustand befinde, kann ich glücklich sein. Das erklärte natürlich auch, warum sie so sehr dazu neigte, sich selbst in den Burnout zu treiben um dann überhaupt nichts mehr auf die Reihe zu bekommen. Statt der glückseligen, friedlichen Baseline, die sie sich eigentlich erschaffen wollte, erschuf sie sich ein Karussell aus glücklichen, aber energieraubenden Hochmomenten und erholsamen Auszeiten, in denen sie aber in ein Loch fiel und depressiv wurde.

Dies jedenfalls waren die Schlüsse auf die wir an diesem Abend kamen.

Doch das war nicht das einzige Thema um das es ging.

Fortsetzung folgt ....

Spruch des Tages: Am unverständlichsten reden die Leute daher, denen die Sprache zu nichts anderem dient, als sich verständlich zu machen. (Karl Kraus)

 

Höhenmeter: 430 m

Tagesetappe: 11 km

Gesamtstrecke: 10.265,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz auf einer Alm, Pakline, Serbien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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