Tag 581: Krisengespräche - Teil 3

von Heiko Gärtner
12.08.2015 18:28 Uhr

Fortsetzung von Tag 580:

Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, versuchten wir es noch einmal. Diesmal mit noch einfacheren Worten und mit nur einem kleinen Teilaspekt. Doch es war zwecklos. Jedes unserer Worte kam bei ihr als Angriff an. Es war einfach so viel Selbsthass in ihr, dass sie in jedem Hinweis eine Beleidigung und in jedem Lösungsansatz eine Kritik hörte. es war ein bisschen, als wäre Paulina überhaupt nicht mehr zu hause und wurde nur noch durch den automatischen Anrufbeantworter ihres Egos vertreten. Dieser war dummerweise auf Gegenangriff, Abwehr und Rechtfertigung eingestellt. Einsicht und Verständnis hatten hingegen Hausverbot. Derartige Situationen hatte es auch vor ihrer Ankunft bereits häufig bei unseren Telefonaten gegeben. Wenn das passierte, dann war es eigentlich ein Zeichen, dass es besser war, das Gespräch zu beenden und zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. Denn von da an drehten wir uns nur noch im Kreis und kamen immer wieder bei den gleichen Punkten an. Was immer wir auch sagten, bei Paulina kam das Gefühl an, dass wir von ihr verlangten, augenblicklich perfekt zu sein und dass wir all ihre Fehler verurteilten. Doch genau das Gegenteil war ja der Fall. Wir wollten ihr begreiflich machen, dass es keine Fehler gibt, sondern dass es wichtig ist, den momentanen Zustand anzuerkennen und zu lieben um dann weiter wachsen zu können. Natürlich ist das keine leichte Sache und auch wir selbst haben damit ja immer noch Probleme. Ihr kennt ja die vielen Berichte von mir, in denen ich euch erzählt habe, was in mir gerade los ist und viele davon drehten sich um das Thema Selbsthass und um meine Unfähigkeit mich so anzunehmen wie ich war und bin. Auch jetzt bin ich lange noch nicht durch damit. Doch jetzt wo wir Paulina in den gleichen Schleifen sahen, verstanden wir zum einen uns selbst noch einmal sehr viel besser und hatten zum anderen das Gefühl, ihr einen Großteil der Zeit, die wir mit Selbstverweigerung verbracht haben, ersparen zu können. Es geht ja nicht darum, perfekt oder fehlerlos zu sein, sondern einfach die Bereitschaft aufzubringen, sich selbst zu betrachten, anzunehmen und dann in den Lernprozess zu gehen. Und hierin lag das Missverständnis, das wir so dringend auflösen wollten: Paulina glaubte, wir wollen von ihr, dass sie bereits alles gelernt hat und fühlte sich dadurch so unter Druck gesetzt, dass sie sich jeden Lernprozess verweigerte. Wir wollten nichts weiter als ein kleines Zeichen der Lernbereitschaft von ihr, dass uns das Gefühl gab, das wir gemeinsam als Herde wachsen können. Doch durch den Trotz und die Angst vor dem Versagen, war zumindest in diesem Moment die Lernbereitschaft einfach nicht vorhanden.

Schließlich gab es dann doch einen Punkt, den Paulina aus dem Gespräch mitnehmen konnte. Ihr wurde klar, dass ihr ihre eigene Selbstliebe weniger wert war, als die Liebe von anderen. Ein Punkt in dem ich mich übrigens ebenfalls sehr deutlich wieder sah.

Jeder Mensch benötigt Liebe um überleben zu können. Dass dies so ist zeigte bereits ein relativ grausames Experiment eines Französischen Königs vor einigen Jahrhunderten. Ich weiß leider nicht mehr welcher König das war und auch nicht wann das Experiment stattgefunden hat, aber es ist eines der wenigen Dinge, die mir aus der Schule noch im Gedächtnis geblieben sind. Der König wollte beweisen, dass Französisch die Ursprache der Menschen ist und dass jeder Mensch automatisch damit beginnen würde Französisch zu sprechen, wenn man ihn nicht bereits als kleines Kind mit anderen Sprachen vergiftete. Daher sperre er eine Gruppe Neugeborener in einen Raum, wo sie keinerlei Kontakt mit anderen Menschen hatten. Sie bekamen ausreichend zum Essen und zum Trinken aber keine Zuneigung und niemand durfte mit ihnen sprechen. Nach kurzer Zeit waren alle Probanden gestorben, obwohl alle Bedürfnisse, die wir als Lebenswichtig ansehen erfüllt wurden. So wie es uns nach Essen hungert und nach Wasser dürstet, hungern wir auch nach Liebe.

Normalerweise ist die Liebe in unbegrenzter Menge vorhanden. Jedes Wesen im Universum liebt uns und auch unsere eigene Liebe ist unbegrenzt, so dass sie uns zum Überleben reicht. Da wir jedoch schon als kleine Kinder die Verbindung zur göttlichen Liebe verlieren, müssen wir uns andere Strategien überlegen um unser Überleben zu sichern. Diese hängen davon ab, welche Erfahrungen wir in unserer ersten Lebenszeit machen. Wenn wir begreifen, dass wir uns selbst die Liebe schenken können, die wir brauchen, dann neigen wir dazu, auf unsere eigene Herzensstimme zu hören. Wir erkennen, dass es wichtig für uns ist, für uns selbst zu sorgen und darauf zu achten, dass unsere Grenzen nicht übertreten werden. Lernen wir jedoch, dass wir vor allem durch die Liebe von anderen überleben, dann stufen wir diese als wertvoller ein, als unsere eigene Liebe. Dadurch ergibt sich ein Paradoxon, das uns das Leben nicht gerade einfach macht. Um uns selbst vor dem Liebesentzug zu schützen stellen wir die Bedürfnisse anderer über unsere eigenen. Lieber zerstören wir uns selbst, treten einen Schritt kürzer, nehmen uns zurück, opfern und auf, verbiegen uns und geben klein bei, ehe wir riskieren, die Liebe von anderen zu verlieren. Denn dieser Liebesverlust ist in unseren Augen schlimmer als die Selbstverstümmelung. Zumindest bis zu einem gewissen Maß. Wenn die Selbstzerstörung zu groß würde, so dass die Liebe, die wir dafür erhalten, den Schaden nicht mehr ausgleicht, dann stehen wir für uns ein. Davor nicht. Glaube ich also beispielsweise, dass ich durch Rauchen mehr Anerkennung und damit Liebe von meinen Mitmenschen bekomme, als mir das Rauchen selbst schadet, dann werde ich wahrscheinlich damit anfangen. Schätze ich den Schaden durch den Tabakrauch jedoch höher ein, dann lasse ich die Finger davon. Auf diese weise verfahren wir mit allen Dingen in unserem Leben. Die persönliche Einschätzung kann dabei ganz unterschiedlich hoch sein. Sogar regelmäßige Schläge oder Vergewaltigungen durch den Partner oder einen Elternteil können als weniger gefährlich eingestuft werden, als es der Verzicht auf die Liebe dieser Person wäre. Dies ist einer der Gründe, warum misshandelte Frauen so lange bei ihren Partnern bleiben.

Paulina erkannte an diesem Abend, dass auch ihre Bereitschaft zur Selbstmissachtung als Preis für die Liebe anderer relativ hoch war und das hierin eine Kernursache für viele ihrer Probleme lag. Dies war der Grund, warum sie sich so lange hatte verbiegen lassen und warum sie auch jetzt noch immer nicht frei sie selbst sein konnte.

Nachdem sie das erkannt hatte, war das Gespräch eigentlich beendet gewesen. Dies war der Punkt, dann dem sich plötzlich alles gelöst anfühlte. Ein Moment des Schweigens setzte ein und es war klar, dass hier eine gute Stelle für das „Gute Nacht“ war. Doch es kam nicht. Da Paulina sich im Moment viele Dinge nur schwer oder gar nicht merken konnte, hatte sie beschlossen, alle wichtigen Informationen sofort aufzuschreiben und so wäre es auch an diesem Punkt der richtige Zeitpunkt gewesen, sich zurückzuziehen und die Erkenntnis festzuhalten. Doch sie blieb liegen. Und so wie auch bei vielen Telefongesprächen zuvor führte dieses Zögern dazu, dass eine seltsame Stimmung aufkam und dass das Gespräch von neuem aufflammte. Nur war jetzt bereits die Luft raus und es gab gerade nichts weiter zu sagen. Da es außerdem schon sehr spät war und die ganze Situation ja nicht gerade unanstrengend verlaufen war, wollten Heiko und ich gerne noch eine Folge von Psych schauen, einer lustigen Krimiserie, die wir vor kurzem entdeckt hatten. Nun aber waren wir unsicher, was Paulina weitere Pläne waren, da sie sich ja nicht gerührt hatte.

„Möchtest du noch mitschauen, oder möchtest du rüber in dein Zelt gehen um dir Notizen zu machen?“ fragte Heiko.

„Eigentlich würde ich gerne mitschauen!“ sagte Paulina, war sich jedoch unsicher, ob das wirklich eine gute Idee war.

„Ok,“ sagte ich, fügte jedoch hinzu: „du musst dir nur sicher sein, dass du nicht alles wieder vergisst, bis der Film vorbei ist.“

Sie zögerte noch einen weiteren Moment, sprang dann wütend auf und fauchte trotzig: „Dann geh ich halt, wenn ihr mich nicht da haben wollt!“

Ich weiß nicht warum und im Nachhinein wusste sie es auch nicht mehr so genau, aber sie nahm unsere Bedenken als einen eindeutigen Rauswurf war. Sofort brach die komplette Gefühlskette wieder los. Wut, Trotz, die Angst davor nicht geliebt zu werden, als das sprudelte aus ihr hervor. Doch dieses Mal war es zu viel für uns. Wir konnten in diesem Moment einfach nicht mehr damit umgehen. Paulina selbst hatte so wenig Hoffnung, dass sie jemals vorankommen würde, dass auch wir die komplette Hoffnung verloren. Unsere Ratlosigkeit wurde so groß, dass wir einfach nicht mehr wussten, was wir machen sollten. Würde es von nun an jede Nacht so weiter gehen? Würden wir uns endlos im Kreis immer und immer wieder um die gleichen Themen drehen? Würden wir uns immer wieder aufs neue über Punkte streiten, an denen es eigentlich nichts zu streiten gab? Wohin sollte das führen? Heiko sah seine eigene Gesundheit und den Frieden in unserer Herde bedroht und wurde so sauer, dass er am liebsten sofort eine endgültige Grenze setzen wollte. Es kam einfach zu viel zusammen. Es gab so viele Dinge, die nicht passten, so viel, das nicht funktionierte und das Kraft, Zeit und Energie kostete. Und so wie es aussah, würde sich das niemals ändern. War das wirklich das Zusammenleben, das wir uns vorgestellt hatten? Halfen wir uns zu dritt als Gruppe? Oder hingen wir nur an einer Idee fest, die niemals funktionieren konnte?

Es war uns allen dreien klar gewesen, dass die erste Zeit nicht einfach werden würde, dass es Krisen und Einstellungsphasen geben musste und dass viele Probleme und Themen auftauchen würden. Das war auch vollkommen in Ordnung und es gehörte dazu. Daran konnten wir ja schließlich wachsen und das wollten wir ja auch. Doch jetzt in diesem Moment sah es nicht so aus, als wäre ein Wachstum überhaupt möglich. Es schien, als hätte Paulina überhaupt nicht vor, jemals irgendetwas zu ändern. Das war natürlich nicht richtig, denn sie wollte ja mehr als jeder andere. Doch gleichzeitig hatte sie auch so eine Angst davor, dass sie wie gelähmt war. Es war das alte Prinzip, dass ich auch von mir selbst nur zu gut kannte: Sie wollte nichts lernen, sie wollte bereits gelernt haben.

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An diesem Punkt jedoch, war sich keiner von uns mehr sicher, ob es eine gute Idee war, noch weiter zusammen zu bleiben. Es war von vornherein klar gewesen, dass wir nur so lange zusammenbleiben würden, wie es für jeden von uns funktionierte. War dies nun also der Punkt, an dem wir uns wieder trennen sollten.

Heiko versuchte Paulina zur Rede zu stellen, damit wir eine klare Entscheidung bekamen mit der wir dann arbeiten konnten. Doch sie versuchte nur, sich so gut wie möglich aus der Situation zu entziehen. Wieder war es die Angst, die aus ihr sprach. Es folgte eine hitzige Diskussion, an deren Ende eigentlich kein Ergebnis folgte. Schließlich gingen wir schlafen, ohne dass wir ein gutes Gefühl hatten oder dass eine Entscheidung gefällt wurde. Diese sollte dann am nächsten Morgen folgen.

Spruch des Tages: Kinder verfügen über zwei Superkräfte, welche die meisten als Erwachsene verloren haben: Die bedingungslose Liebe und das völlige Fehlen von Vorurteilen.

 

Höhenmeter: 120 m

Tagesetappe: 10 km

Gesamtstrecke: 10.275,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz auf einer Wiese, nahe Raduša, Serbien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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