Tag 582: Tag der Entscheidung – Teil 1

von Heiko Gärtner
12.08.2015 18:37 Uhr

Und, wie sah es aus? Gab es eine Entscheidung? Nicht wirklich. Paulina fühlte sich mit allem überfordert und konnte nur noch das Negative sehen. Plötzlich waren die vergangenen Tage nur noch Tage der Kritik, der Überforderung und der Schwere. All der Spaß, die Leichtigkeit und die Freude die wir erlebt hatten, waren wie weggewischt. Es schien wieder als hätte Paulinas Ego die Alleinherrschaft in ihrem System übernommen und sie konnte nicht anderes mehr wahrnehmen als Angriffe, Kritik, Beleidigungen und Verstoßungen. Sofort gerieten Heiko und sie wieder aneinander. Es folgten lange Schleifen aus Wut, Anschuldigungen, Rechtfertigungen, Trotz und ähnlichem. Doch wieder drehen wir uns nur im Kreis. Fragen wie: „Wie können wir es schaffen, dass wir gemeinsam in Frieden zusammenleben können? Was brauchen wir, damit wir uns wohl fühlen und wachsen können? Was ist nötig, damit es klappen kann?“ kamen nicht einmal mehr vor. Es ging nicht mehr um eine Lösungsfindung sondern nur noch darum recht zu behalten. An dieser Stelle kam nun noch ein weiterer Mechanismus bei Paulina hinzu, der aus dem alten Opferdenken bestand. Es war der Glaubenssatz, dass sie stets zu einem Opfer von Menschen wurde, die es einfach nicht gut mit ihr meinten. Nun wollte sie uns beweisen, dass wir diese bösen Menschen waren. Wie sollten wir uns aus der Situation nun wieder hinausmanövrieren?

Ihr erinnert euch bestimmt noch an die Situation, die Heiko und ich vor etwas über einem Jahr einmal in Spanien durchlebt hatten. Damals hatte mich Heiko nach einem Streit ebenfalls vor die Wahl gestellt, ob ich weiter mit ihm reisen oder lieber alleine zurecht kommen wollte. Es war eine Simulation gewesen, denn er hatte nie wirklich vorgehabt, mich in der Steppe auszusetzen, doch es hatte mir einiges gezeigt. Als wir nun unser Zelt abbauten wusste ich bereits, dass Heiko nun wieder zur gleichen Methodik greifen wollte. Es war ein Konzept aus der Gestalttherapie, das darin bestand, eine mögliche Entscheidung einmal komplett durchzuspielen um herauszufinden, ob sie sinnvoll war oder nicht. Da Paulina die Entscheidung ob sie bei uns bleiben wollte oder nicht, nicht alleine treffen konnte, nahmen wir sie also vorerst ab.

„Du hast zwanzig Minuten Zeit um deine Sachen zusammenzupacken!“ sagte Heiko bestimmt. Dann gehen wir entweder mit dir oder ohne dich. Wenn du nicht bereit bist, dann bleibst du hier an diesem Platz zurück und kannst sehen wo du bleibst! Wir machen das Spiel nicht mehr länger mit!“

Hätte sich Paulina die Situation wirklich einmal vor Augen geführt, wäre dies der Moment gewesen, in dem eigentlich eine echte Absicht in ihr hätte aufkommen müssen. Alleine war sie hier in der Pampa, abgeschnitten von jeglicher Art von öffentlichen Verkehrsmitteln und ohne einen Plan, wo sie war oder wo sie hin wollte, vollkommen verloren. Die Erfahrungen der letzten Zeit hatten gezeigt, dass sie bei dem Männer- und Frauen-Konzept, das hier herrschte, nicht lange überleben würde. Faktisch befand sie sich ohne uns in einer akuten Lebensgefahr und das wusste niemand besser als sie. Doch ihr Überlebenswille war nicht so stark, wie ihr Trotz und ihr Wunsch Recht zu behalten. Für sie war die Sache noch immer ein Spiel, das nichts mit dem Leben zu tun hatte. So begann sie nicht etwa damit, sich zu beeilen und zu schauen, dass sie das Zelt so zügig wie möglich abbaute, sondern wurde noch langsamer als sonst. Sie legte sich ins Zelt hinein und begann damit sich selbst zu bemitleiden. Eine Strategie, die zwar sehr gerne angewandt wird, auch von mir selbst, die aber niemanden wirklich weiter bringt.

Im Zeitlupentempo packen wir unsere eigenen Sachen zusammen um ihr so viel Zeit wie möglich zu verschaffen. Die 20 Minuten werden zu eineinhalb Stunden, doch es ändert nicht das geringste. Am Ende sind unsere Wagen gepackt und Paulinas Zelt steht noch immer. Ihre Wut und ihr Trotz ist nur noch größer geworden. Sie wirft uns vor, dass wir sie nicht dabei haben wollen, ja niemals wirklich dabei haben wollten, dass sie nur hier ist, damit wir auf jemandem herumhacken und jemanden fertig machen können.

Traurig und verzweifelt stehen wir daneben. Wieder erklären wir, dass die Verurteilungen nicht von uns, sondern von ihr selbst kommen, dass nicht wir es sind, die sie runter machen, sondern dass sie ihren eigenen Vorwürfen nur unsere Stimmen gibt. Doch davon will sie nichts hören. Sie ist wie ein Ertrinkender, der zappelt, strampelt und aus lauter Panik jeden ertränkt, der sich ihm zu sehr nähert.

Schließlich können wir es nicht mehr hinauszögern. Wir verabschieden uns und gehen. Paulina bleibt zurück, das Gesicht tränenüberflutet. Heiko ist so aufgewühlt, dass er bereits beim ersten größeren Stein die Kontrolle über seinen Wagen verliert. Er kippt auf die Seite und landet in dem kleinen Bachlauf. Der Abschied mag simuliert sein, aber die Gefühle sind echt. Nicht nur bei Paulina, sondern auch bei uns.

Als wir die Straße erreichen, stellen wir die Wagen auf die Seite und warten. Wir sind völlig ratlos. Mit vielem hatten wir gerechnet, doch nicht damit, dass sie nicht einmal im Angesicht ihres Todes in der Lage sein würde, ihren Trotz loszulassen. Es war ihr wichtiger uns zu hassen und uns die Rolle der Bösen in die Schuhe zu schieben, als ihr Leben zu retten.

Heiko hielt keine halbe Minute aus, dann kehrte er um und ging zu ihr zurück. Ich machte uns dreien in der Zwischenzeit ein paar Frühstücksbrote. So angespannt die Situation auch war, essen mussten wir schließlich trotzdem.

Das Gespräch zwischen den beiden war auch diesmal nicht viel produktiver. Heiko half Paulina dabei, das Zelt abzubauen, wobei dann auch noch eine Zeltstange zerbrach, die am Abend zuvor nicht richtig zusammengesteckt worden war. Als mich die beiden erreichten hatte sich an der Stimmung noch immer nichts geändert. Es war klar, dass wir Paulina nicht hier im Nirgendwo zurücklassen konnten, doch wir hatten uns noch immer nicht entschieden, ob wir gemeinsam weiterziehen wollten. Paulina wusste es nicht und wir wussten es auch nicht.

Den ganzen Weg über versuchten wir eine Lösung zu finden, doch wir kamen einfach nicht weiter. Klar war, dass Paulina wollte, doch weder sie noch wir sahen einen Weg wie es klappen konnte. Doch das größte Problem war, dass wir es nicht einmal schafften, die entsprechenden Fragen überhaupt zu stellen. Es gab keine Konstruktivität, nur die immer gleichen Schleifen. Schließlich sagte Paulina einen Satz, der unser Schicksal endgültig zu besiegeln schien: „Wenn ich gewusst hätte wie es wird, dann wäre ich niemals gekommen!“ Noch eindeutiger hätte sie kaum sagen können, dass sie nicht bleiben wollte.

Mit einem Mal wurde mir etwas klar, was ich zuvor niemals verstanden hatte. Paulina hatte immer wieder betont, wie sehr sie hier sein und wie sehr sie ihre Wandlung durchleben WOLLTE. Gleichzeitig schien es jedoch so, als würde sie sich auch ganz bewusst dagegen sträuben. Sie selbst nannte es „Ich kann nicht!“ Aber das war nicht das Problem, denn sie besaß ja alle Voraussetzungen. Wenn sie aber sowohl wollte als auch konnte, wo lag dann der Hase begraben?

Jetzt erst wurde mir bewusst, dass es einen Unterschied zwischen Wille und Bereitschaft gab. Und dieser Unterschied war absolut entscheidend. Er war der Grund dafür, warum wir uns eine Gesellschaft erschaffen haben, die kein Paradies ist.

Jeder Mensch will im Paradies leben. Wir alle wollen möglichst viel Glückseligkeit in unserem Leben haben. Doch kaum einer ist bereit dazu, sich diesen Wunsch auch zu erfüllen.

Nehmen wir einmal ein Beispiel: Auch die Menschen im Mittelalter wollten fliegen, genau wie die Menschen heute. Der Wille war damals nicht kleiner als heute, doch es fehlte damals die Bereitschaft. Es fehlte an der Vorbereitung, an den Vorraussetzungen, wie beispielsweise am elektrischen Strom, an Motoren, an den Kenntnissen über die Physik und so weiter. Theoretisch wäre jeder Mensch auch damals schon in der Lage gewesen ein Flugzeug zu bauen, denn wir Menschen sind seitdem ja nicht geschickter oder intelligenter geworden. Wir haben nur andere Vorraussetzungen geschaffen, also eine Vorbereitung getroffen. Wir waren bereit.

Ein anderes Beispiel. Jeder von uns hat schon einmal einen Künstler gesehen, der ihn fasziniert und begeistert hat und der in ihm den Gedanken auslöste: „Waow! Das will ich auch können!“ Der Wille war also da und er war vielleicht sogar extrem stark. Vielleicht war er sogar so stark, dass ihr euch auch das entsprechende Equipment, gekauft habt um diese Kunstform zu lernen. Aber dann kommt der Punkt, an dem sich uns die Frage stellt, ob wir auch die Bereitschaft haben. Sind wir wirklich bereit, täglich mehrere Stunden an Zeit zu investieren, um die Kunst zu erlernen? Haben wir diese Zeit neben unseren übrigen Alltagsaufgaben überhaupt zur Verfügung? Und wenn ja, sind wir bereit sie in dieses Training zu investieren? Oder gehen wir stattdessen lieber ins Kino? Und wenn wir dazu bereit sind, sind wir dann darauf vorbereitet? Haben wir die körperlichen, mentalen und geistigen Vorraussetzungen? Oder fehlt es uns vielleicht an Grundkenntnissen, die dafür notwendig sind?

Das Paulina das Leben als frei ziehende, schöpferische und heilende Nomadin leben wollte stand außer Frage. Doch war sie auch bereit dafür? Besaß sie die Bereitschaft, sich ihren Ängsten zu stellen und auch dranzubleiben, wenn es einmal hart und vielleicht deprimierend war. War sie wirklich bereit, auf ihre Alltagsablenkungen, ihre Hygienestandards und den Komfort zu verzichten? War sie bereit, das alte Leben loszulassen und sich für etwas neues zu öffnen? Und war sie bereit anzunehmen, dass sie viele ungünstige Verhaltensweisen angenommen hatte, die sie noch einmal neu lernen musste, wenn sie draußen überleben wollte?

Die Fragen konnte sie im Moment selbst nicht beantworten. Sie wusste nur dass sie wollte, aber nicht ob sie bereit war. Und dies brachte uns ein weiteres Mal zurück in die alten Schleifen. Es gab ja an sich nur eine einzige Entscheidung zu treffen: Bleiben wir zusammen oder trennen sich unsere Wege?

Wenn diese Entscheidung getroffen war, dann stellten sich weitere Fragen, je nachdem wie die Antwort ausgefallen war. Wenn nicht, wie kann Paulina dann sicher wieder nach hause kommen? Wenn ja, wie können wir dann konstruktiv und harmonisch in guter Stimmung zusammen leben? Doch keine dieser beiden Fragen kam auf den Tisch. Das einzige, was im Raum stand und uns den ganzen Weg begleitete waren Rechtfertigungen, Anschuldigungen und Trotzreaktionen.

Fortsetzung folgt ...

 

 

Spruch des Tages: Immer wenn etwas schönes aus deinem Leben verschwindet, ist etwas besseres längst auf dem Weg zu dir.

 

Höhenmeter: 210 m

Tagesetappe: 10,5 km

Gesamtstrecke: 10.286,27 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz in einem Kiefernhain, nahe Šljivovica, Serbien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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