Tag 596: Das Feuer im Herzen – Teil 2

von Heiko Gärtner
11.09.2015 15:43 Uhr

Fortsetzung von Tag 595:

Natürlich konnte man ihr daraus keinen Vorwurf machen, denn sie hatte ja alles getan was sie tun konnte. Sie war ja nicht absichtlich so unvorbereitet bei uns angekommen, sondern nur deshalb, weil sie immer wieder ausgeknockt wurde. Sie hatte sich ein Jahr lang immer wieder im Kreis gedreht und versucht, sich irgendwie aus den Klemmen ihres Verstandes und ihrer Angst zu befreien. Sie war wie eine Wahnsinnige gegen die Strömung eines rauschenden Gebirgsbaches angeschwommen und hatte all ihre Energie dafür verbraucht, nur auf dem gleichen Stand zu bleiben und sich nicht von den Wellen der Negativität mitreißen zu lassen, die ihr Herzensfeuer gänzlich ersticken wollten. Es gab mehr als nur gute Gründe dafür, warum sie so bei uns eintraf, wie sie bei uns eintraf. Doch leider änderte das nichts. Ein Mensch, der aus einem guten Grund nicht schwimmen gelernt hatte, ertrank genauso wie einer, der es einfach nur aus Faulheit und Desinteresse nicht konnte. So gut und verständlich die Gründe auch waren, das Ergebnis blieb das selbe. Wenn ich stets vorhatte, eine Kampfkunst zu erlernen, aber immer davon abgehalten wurde, dann werde ich in einem Zweikampf verdroschen wie eine lahme Fliege, egal wie wichtig die Gründe auch waren, die mich vom Training abhielten.

In Paulinas Fall kam die Retourkutsche für das unvorbereitet sein bereits bevor sie uns überhaupt traf. An der bosnischen Grenze achtete sie nicht darauf, dass der Beamte ihr keinen Stempel in den Pass gegeben hatte und machte sich auf diese Weise zu einem illegalen Einwanderer in diesem Land. Schlimmer noch. Sie achtete darauf, bemerkte, dass der Stempel nicht drin war, stellte aber keine Fragen, weil sie nicht wusste, dass sie hier einen brauchte. Hätten wir nicht so ein unverschämtes Glück gehabt, wäre unsere gemeinsame Reise schon viel früher beendet gewesen. Von da an ging es dann so weiter. Angefangen beim Übergepäck, dass sie weder ziehen noch loslassen konnte, über das fehlende Schuhwerk, viele fehlende Ausrüstungsgegenstände bis hin zum Fehlen sämtlicher Kenntnisse über das Leben als Reisende. Es war ihr unmöglich, ihren Wagen zu reparieren, wenn etwas daran kaputt ging, selbst dann, wenn es nur ein Platten war. Sobald wir außer Sichtweite waren, war sie orientierungslos, da sie nicht mit einer Karte umgehen konnte, schon gar nicht in einem Gebiet wie diesem. Jedes Mal, wenn sie soweit zurück fiel, dass sie uns aus den Augen verlor, entstand dadurch ein enormes Risiko. Zum einen weil sie sich verlaufen konnte, was einige Male auch tatsächlich passierte, zum anderen, weil sie im Falle einer Verletzung oder einer Panne nichts selbst unternehmen konnte. Und genau hier begann die Sabotage des Verstandes. Denn all diese Dinge waren zwar nicht besonders hilfreich, mussten aber nicht unbedingt zu einem Problem werden. Es war ja durchaus möglich, vieles davon auf der Reise zu lernen, während man den Risiken, die man noch nicht beherrschte, erst einmal aus dem Weg ging. Paulina hatte ihr eigenes Smartphone bei sich, auf das man genauso gut das Kartenmaterial ziehen konnte, wie auf unseres. Einige Einweisungen im Kartenlesen hätten gereicht und sie hätte zumindest auf den leichteren Strecken navigieren können. Doch in der ganzen Zeit in der sie bei uns war, gab es immer irgendwelche guten Grüne, um genau das nicht zu tun, so dass in diesen Bereichen kein lernen stattfinden konnte. Stattdessen geschahen lauter Dinge, die das Zusammenleben erschwerten. Sobald ein Berg kam, fiel sie kilometerweit zurück, soweit, dass wir teilweise mehrere Stunden warten mussten, bis sie uns wieder eingeholt hatte. Das lag zum Teil an der fehlenden Kondition, war aber in erster Linie eine Manipulation ihres Verstandes. Denn als an einigen Tagen die Absicht bestand, bei uns zu bleiben, konnte sie relativ locker Schritt halten. Ein bisschen zurückfallen wäre auch normal gewesen und hätte niemandem etwas ausgemacht, aber auf einer Strecke von 6km mehr als eine Stunde länger zu laufen als wir, das kam uns irgendwann schon spanisch vor. Solange es Sommer war, war das kein großes Problem, doch auch jetzt gab es schon Situationen, in denen dadurch eine größere Gefahr auch für uns ausging. So mussten wir beispielsweise oft direkt an Kreuzungen warten, da wir nicht riskieren konnten, dass Paulina in die falsche Richtung abbog. Doch nicht immer gab es an diesen Kreuzungen Plätze, die im Schatten lagen, so dass wir uns nicht selten mitten in die pralle Sonne setzen mussten. Was aber wäre, wenn nicht die Hitze, sondern die Kälte das Problem gewesen wäre? Heiko hatte im Winter schon des öfteren 30-45min warten müssen, bis ich von der Schlafplatzsuche zurückgekehrt war. Das war das absolute Limit gewesen und einige Male hatte ich ihn mit zitternden Händen und blauen Lippen angetroffen. Mehrmals am Tag solche Pausen einlegen zu müssen um anschließend weiter zu laufen, konnte uns bei schlechtem Wetter wirklich in die Bredouille bringen.

Der zweite Punkt, der immer wieder zu einem Streitthema wurde, war die Sache mit der Produktivität. Als festes Mitglied der Gruppe ging es auch darum, die Gruppenidee weiter zu tragen und zu unterstützen. Und dazu gehörte auch, dass wir der Welt und der Menschheit für ihre Unterstützung unserer Reise etwas zurückgeben wollten. Es ging nicht darum, ein leben als Schmarotzer auf Kosten anderer zu führen und möglichst viel abzugreifen ohne etwas dafür zu tun. Es ging darum, in den Fluss der Erde zu kommen und weitgehend ohne das Tauschmittel Geld wieder das alte Prinzip von Geben ist Bekommen aufleben zu lassen. Dass bedeutete, dass wir keine wandernden Obdachlosen sondern Forscher, Entdecker, Philosophen und Medizinleute waren und dass jeder, der Teil unserer Gruppe war auch dazu seinen Beitrag leisten sollte. Wie dieser Beitrag aussah, war jedem vollkommen freigestellt. Es konnte das Erzählen von Geschichten, das Malen von Bildern, Grafiken und Karikaturen, das Drehen von Videos, das Fotografieren oder auch das Recherchieren von spannenden Themen sein, die dann zusammengefasst wurden, um neue Rückschlüsse und Erkenntnisse daraus zu ziehen. Doch so sehr Paulina auch ihren Beitrag für die Allgemeinheit leisten wollte, sie konnte es einfach nicht. Wie bereits zuhause wurde sie auch hier von ihrem Verstand blockiert, der ihr stets die Zeit, die Kraft oder die Kreativität nahm. So erschuf sie in dem Monat, den sie bei uns war keine einzige Seite und kein einziges Bild, die man auch nach außen bringen konnte. Das ärgerte zum einen uns, weil wir das Gefühl hatten, dass plötzlich ein Ungleichgewicht in der Gruppe herrschte. Zum anderen und zum weitaus größeren Teil nagte es aber an Paulina selbst, die sich dadurch unnütz vorkam. In ihrem Kopf hörte sie bereits wieder die Stimmen der Gesellschaft, dass sie nur deshalb aufgebrochen war, weil sie nichts auf die Reihe brachte, dass sie eine Schmarotzerin war, die dem Arbeitsleben entfliehen und sich auf der Reise einen faulen Lenz machen wollte. Dies säte wieder neue Zweifel, die das Feuer in ihrem Herzen stets klein hielten, so dass es keine Chance hatte, voll aufzuflackern.

Die größte Sabotage leistete ihr Verstand jedoch dann, wenn es um ihren eigenen Lernprozess ging. Immer, wenn wir ein Gespräch über ein wichtiges Thema führten, dass es gerade zu lösen galt, dann verschloss sich Paulina so weit, dass sie nichts mehr aufnehmen konnte. Es war nicht so, dass sie es nicht hören wollte oder dass es sie nicht interessierte. Im Gegenteil sie wollte lernen ohne Ende. Aber ihr Verstand ließ es nicht zu. Immer, wenn wir an einen Kernpunkt kamen, dann wurde sie automatisch müde, schloss die Augen und konnte nichts mehr aufnehmen. Gleichzeitig ging sie in eine Abwehrhaltung und verwandelte das Gespräch in einen Streit, der sich endlos in die Länge zog. Der Krieg, der in ihrem inneren herrschte und der sie bis an den Rand des Zusammenbruchs geführt hatte, verlagerte sich nun auch nach außen. Heiko und ich übernahmen dabei wie automatisch die Rolle ihres Herzens, während sie selbst rein zu ihrem Verstand wurde, der es sich zur Aufgabe machte, alles abzustreiten und an die Wand zu schmettern, egal wie wichtig es für sie auch war. Sicher wäre es leicht gewesen, die Situation in einem solchen Moment zu beenden und zu warten, bis sich eine andere Gelegenheit ergibt, wenn wir nicht selbst auch immer mit unseren eigenen Themen dabei gewesen wären. So wie Paulinas Verstand dafür sorgte, dass sie sich verschloss, rief er auch gleichzeitig unser Rettersyndrom auf den Plan, das einfach nicht akzeptieren konnte, wenn jemand nicht verstehen wollte. Je mehr Druck sie aufbaute um das Lernen zu verhindern, desto mehr fühlten wir uns in unserer Ehre gepackt und bauten Gegendruck auf, der die Mauer um ihr Herz und ihren Geist zum Einsturz bringen sollte. Denn auch dies war ja eine der Grundbedingungen für ein Vollwertiges Herdenmitglied gewesen, die Bereitschaft und das Interesse daran, zu wachsen, zu lernen, sich weiter zu entwickeln und die Zeichen der Natur und des eigenen Körpers anzunehmen, zu akzeptieren und ernst zu nehmen. Wir waren so sehr davon ausgegangen, dass diese Bereitschaft bei Paulina vorhanden war, weil sie vor einem Jahr in Spanien damit sogar weitaus stärker war als Heiko und ich, dass wir nicht einmal richtig bemerkten, dass es dieses Mal anders war. Das heißt, wir bemerkten es schon, wir wollten es nur nicht wahr haben. Wir dachten, dass es einfach daran lag, dass wir die Dinge noch nicht richtig erklärt hatten, dass noch Informationen fehlten oder dass es einfach nicht anschaulich genug war. Die Idee, einer Herde, die als Lerngemeinschaft um die Welt zog und sich gegenseitig auf ihrem Weg zum göttlichen Selbst unterstützte war so stark, dass wir den Gedanken nicht akzeptieren konnten, dass Paulina einfach nicht so weit war. Doch so wie sie sich körperlich, mental und von der Ausrüstung her nicht auf die äußere Reise hatte vorbereiten können, so hatte sie sich seelisch und emotional auch nicht auf die innere Reise vorbereitet.

Denn auch wenn sie es selbst nicht wusste, war sie nicht wirklich hier, um das Leben in Freiheit zu erlernen. Das war es, was sie wollte und was vor allem ihr Herz wollte. Doch der Verstand ruderte in eine andere Richtung. Er war hier, um Paulinas Herz und auch dem Rest von ihr zu beweisen, dass ein solches Leben einfach nichts für sie war. Solange die Idee in ihr glühte, dass sie eine nomadische Heilerin sein konnte, die ihrem Herzen folgte, solange würde das Feuer in ihrem inneren immer wieder auflodern. Deshalb konnte sie nicht einfach zuhause bleiben und ihr altes Leben weiterführen. Das hätte sie in den Wahnsinn getrieben. Nein, sie musste hier her kommen und mit uns gehen um zu erkennen, dass dieses Leben einfach nichts für sie war. Sie musste sehen, schmecken, fühlen, hören und riechen, dass sie nicht für ein Leben in Freiheit geschaffen war, sondern dass sie als Lemming hinter einen sicheren Schreibtisch gehörte. Deshalb richtete ihr Verstand die Aufmerksamkeit auf alles, was negativ an der Reise war oder was dabei helfen konnte, die Zweifel in ihrem inneren zu sähen, zu gießen und zu düngen. Durch das Zurückfallen verpasste sie viele schöne Momente, durch das Gefühl des ständigen Zeitmangels kam sie nie in die Entspannung und fühlte sich stets gestresst und gehetzt wie ein junges Reh bei der Treibjagd. Die Schönheit der Landschaft und der Natur um sie herum, nahm sie kaum noch wahr, dafür aber die Anstrengung, die fehlenden Möglichkeiten um sich zu waschen und zu duschen und die vielen kleinen Unannehmlichkeiten, die zum Leben einfach dazu gehören. Aus unseren Gesprächen wurden in ihren Augen Streits, die ihr das Leben in der Gemeinschaft unerträglich machten. Das war auch logisch, denn der Krieg in ihrem Inneren tobte jeden Tag und jede Sekunde. Es gab keinen Frieden in ihr und so konnte es auch keinen im Außen geben. Doch genau das war es letztlich, was ihr den letzen Anstoß gab, um sich von unserer Gruppe zu trennen. Sie wollte den Krieg nicht mehr. Sie wollte endlich Frieden haben. Das war es, was sie immer wieder betonte. „Ich will nicht mehr streiten!“ Und dies war es auch, was es uns so schwer machte, sie gehen zu lassen. Wir sahen, dass sie nicht vor uns weglaufen wollte, sondern vor sich selbst. Sie wollte den Krieg in ihrem inneren hinter sich lassen und glaubte, dass ihr dies gelänge, wenn sie sich von uns verabschiedet. Doch man kann nicht vor sich selbst fliehen. Im Gegenteil. Solange, sie den Krieg auf uns projizierte war es zwar für keinen von uns angenehm, aber da wir ihre Gründe kannten, wussten wir zumindest so einigermaßen, wie wir damit umgehen konnten. Ein Fremder, dem sie so begegnete, musste die Angriffe erwidern und dies konnte dann wirklich gefährlich werden.

Denn das Problem war ja nicht unsere Dreierkonstellation und es entstand auch nicht dadurch, dass wir uns hier zusammenfanden. Es bestand schon immer in ihr, vielleicht aus ihrer Kindheit, vielleicht auch bereits aus einem früheren Leben. Jeder Mensch hat seine Lebensthemen, die er immer mit sich herumträgt, solange, bis sie aufgelöst wurden. Doch wie viele andere Menschen versuchte auch Paulina die Situation seit ihrer Kindheit immer mit der gleichen Strategie zu lösen, obwohl sie wusste, dass es nicht klappte. Ein Freund von uns, der lange Zeit Single war, aber immer gerne eine Freundin haben wollte, verbrachte Jahre damit, alle Frauen, die ihm begegneten immer auf die exakt gleiche Weise anzusprechen. Jedes Mal bekam er eine abfuhr und jedes Mal ärgerte er sich über die Frauen, die einfach nicht erkennen wollten, was für ein großartiger Kerl er war. In all den Jahren kam er jedoch nie auf die Idee, dass es vielleicht an der Art liegen könnte, wie er seine Angebeteten ansprach. Erst als er das begriff und damit begann, sich neue Wege der Kontaktaufnahme zu überlegen, hatte er schließlich Erfolg und fand eine Frau, die ihn ebenso mochte, wie er sie. Nichts anderes machen wir meist mit unseren Lebensthemen und auch Paulina versuchte auf diese Weise an die Sache heranzugehen. Sie versuchte es immer auf die gleiche Art und Weise obwohl sie genau wusste, dass es so nicht funktionieren konnte. Solange sie in der Gesellschaft gelebt hatte, war sie damit einigermaßen zurecht gekommen, doch die Natur erlaubt keine Strategien, die nicht zum Erfolg führen. Ein Fuchs der eine Jagdtechnik anwendet, die nicht zum Erfolg führt, verhungert. Spätestens nach drei Tagen ohne Beute wird er also anfangen sich zu fragen, ob er vielleicht etwas falsch macht. Nicht anders ist es auch bei den Menschen. In der Gesellschaft leben wir wie in einem Zoo. Wir müssen nicht jagen können, weil wir eingesperrt sind und täglich vom Wärter unser Futter hingeworfen bekommen. Wir können also Jahrzehnte lang leben ohne unsere Schwächen überhaupt zu bemerken. In der Natur ist das anders. Hier kann man nichts mehr verbergen. Alles, was in uns nicht im Gleichgewicht ist, kommt an die Oberfläche und muss aufgelöst werden. Und zwar dann, wenn es akut ist und nicht dann, wenn man selbst glaubt, dass man es vielleicht irgendwie einrichten kann. Wenn also gerade ein psychisches Thema dafür sorgt, dass Paulina nicht Schritt halten kann, dann ist jetzt der Zeitpunkt um es anzusehen. Wenn ein anderes Thema zur Esssucht führt und dadurch die Gruppe in einen Nahrungsnotstand bringt, dann muss dieses Thema ebenfalls angegangen werden. Es lässt sich nicht verschieben. Es ist wie ein Elefant, der im Raum steht und der mit jeder Bewegung seines Rüssels die Tassen aus dem Schrank fegt. Er lässt sich nicht ignorieren. Man kann nicht einfach um ihn herumgehen und so tun als wäre er nicht da. Als Paulina zu uns kam, brachte sie ihren Elefanten mit und stellte ihn mitten in unsere Weltreise-Wohnung, mit der Bitte, dass wir uns nicht von ihm stören lassen sollten. Doch das konnte so nicht funktionieren. Es gab nur die Möglichkeit, ihn loszubinden und in die Freiheit zu entlassen. Oder aber, und das war der Weg den Paulina letztlich wählte, ihn wieder an die Leine zu nehmen und gemeinsam mit ihm auszuziehen.

Worin aber bestand nun dieser Elefant?

Er bestand in einem gewaltigen Todesangstkonflikt, den sie seit ihrer Kindheit mit sich herumtrug. Es war die Angst davor, dass sie nicht mehr geliebt wird, wenn sie sich so zeigt, wie sie ist und dass sie ohne die Liebe von außen sterben muss. Wenn wir kleine Kinder sind, dann merken wir sehr schnell, dass wir ohne unsere Mutter nicht überleben können. Die Welt, in der wir leben besteht aus einem Kinderbettchen oder einer Wiege aus der wir nicht heraus können und in der es keine Nahrung gibt. Der einzige Grund, warum wir nicht verhungern ist der, dass unsere Mutter immer wieder zu uns kommt und uns mit Milch und Zuneigung versorgt. Wir wissen, dass sie uns liebt und dass sie uns deshalb nicht sterben lässt. Was aber ist, wenn sie uns plötzlich nicht mehr liebt? Oder wenn sie stirbt und uns deshalb nicht mehr versorgen kann? Aus der Sicht eines Kindes gibt es nur einen logischen Schluss. Wir müssen dann auch sterben. Das wollen wir natürlich nicht, denn wir sind ja gerade erst auf dieser Welt angekommen. Also setzen wir alles daran, dass unsere Mutter überlebt und dass sie uns weiterhin lieb hat. Dieses Muster kann jedoch zu den verrücktesten Dingen führen, je nachdem, wie die Familiensystematik aufgebaut ist. Allein wenn man diese Verstrickungen löst, lassen sich wahrscheinlich viele Krankheiten und Leiden bei fast allen Menschen dieser Welt heilen. In Paulinas Fall führte es dazu, dass sie bis heute glaubt, nur dann überleben zu können, wenn sie von anderen Menschen, nicht nur von ihrer Mutter, geliebt wird. Dies geht aber nur dann, wenn sie sich so verhält, wie es von ihr erwartet wird. Sie darf also niemanden enttäuschen, verärgern oder verletzen. Dummerweise kann man im Leben nichts tun, mit dem man nicht aus versehen auch jemandem auf die Füße tritt. Doch da dieses Füße treten in ihrer Wahrnehmung ihren Tod bedeuten könnte, hatte sie eine Heidenangst davor. Es war ihr also unmöglich, irgendetwas zu tun, was irgendwo Ärger, Streit, Wut, Zorn, Unfrieden oder Enttäuschung provozieren könnte. Doch der Versuch, so zu handeln, dass sie dabei niemanden enttäuschte oder verletzte führte ganz automatisch dazu, dass sie genau das tat, was sie verhindern wollte. Die Welt ist voll von Menschen mit gegensätzlichen Ansichten, Meinungen, Vorstellungen und Erwartungen. Es ist also absolut unmöglich, jedem zu gefallen und wenn man es versucht, führt dass am Ende dazu, dass man jeden verärgert und sich selbst vollkommen verliert. So wurde das Zusammenleben am Ende nahezu unmöglich, weil sie selbst bei dem Versuch, es allen Recht zu machen, vollkommen verzweifelte und weil sie gleichzeitig alles, was geschah auf sich bezog und als einen persönlichen Angriff wertete. Wenn wir uns über etwas ärgerten, dann konnte sie das Gefühl nicht bei uns lassen, sondern sah es als ein scheitern ihrer Mission an, allen zu gefallen. Das gleiche passierte auch, wenn sie Nachrichten von anderen Menschen bekam, die sich kritisch mit ihr, uns und unserer Reise auseinandersetzten. Sie konnte die Meinungen der anderen nicht als deren Ansicht stehen lassen, sondern bezog sie auf sich selbst und suchte verzweifelt nach einem Weg, so zu werden, dass man nichts mehr kritisieren konnte. Wieder erlosch das Feuer in ihrem Herzen, denn nun versuchte sie es selbst so zu zähmen, dass es nicht mehr von anderen gesehen werden konnte. Dahinter stand wieder die Angst vor dem Tod. Wenn ich nicht gemocht werde, dann muss ich sterben. Das war nicht einfach nur ein Satz, sondern eine Überzeugung, die so tief saß, dass sie Paulina vollkommen lahm legte. Ein Todesangstkonflikt zeichnet sich verständlicherweise dadurch aus, dass er einen vollkommen einnimmt. Wenn eine Maus vor einer Katze steht und weiß, dass sie entkommen muss, wenn sie überleben will, dann kann sie an nichts anderes mehr denken, bis ihr die Flucht gelungen ist. Oder bis sie gefressen wurde, aber dann denkt sie überhaupt nichts mehr. Der Konflikt und die akute Notwendigkeit, das eigene Überleben zu sichern, fordert alle zur Verfügung stehenden Ressourcen. In einer solchen Situation ist es für die Maus unmöglich, darüber nachzudenken, ob sie bereits genügend Futter für den Winter gesammelt hat oder ob sie den schnieken Mäuserich von nebenan nicht vielleicht auf ein Maiskorn in ihre Höhle einladen sollte. Ihr ganzer Geist und ihr kompletter Organismus sind auf die Flucht ausgerichtet.

 

Fortsetzung folgt...

 

Spruch des Tages: Wenn ein Elefant erst einmal im Raum steht, ist es schwer, ihn zu ignorieren.

Höhenmeter: 350 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 10.469,27 km

Wetter: sonnig und warm

Etappenziel: Zeltplatz im Wald, Krusevo, Montenegro

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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