Tag 600: Nahrungsentzug – Teil 1

von Heiko Gärtner
13.09.2015 17:10 Uhr

Heute war nun wieder einmal ein Fastentag für mich. Komischerweise machte es mir weit weniger aus, als Paulina, obwohl sie heute ja wieder alles essen durfte. Doch ihr Verstand und ihre Psyche spielten noch immer fiese Spielchen mit ihr. Als sie in der Früh aufstand, war sie bereits auf 180 und erinnerte uns ein wenig an den einen Speedsüchtigen, der sich auf der Obdachlosentour einmal ein Zimmer mit uns geteilt hatte. Er war bereits um 5:00Uhr aufgestanden, rannte im Zimmer umher und kratze mit den Fingernägeln an der verschlossenen Eingangstür. Dann lief er zu Heikos Bett, beugte sich zehn Zentimeter über dessen Gesicht und schrie so laut er konnte: „WIE SPÄT IST ES? KÖNNEN WIR ENDLICH AUFSTEHEN?“

Ok, ganz so schlimm war Paulina nicht. Aber auch sie war wie auf einem Entzug. Die erste Frage am Morgen lautete: „Gibt es noch was zum Essen?“

„Ja, wir haben noch eine halbe Gurke, aber es ist das bittere Ende!“ scherzte Heiko mit einem deutlichen, ironischen Unterton. Doch der kam bei Paulina nicht an. Wutschnaubend schaute sie zu ihm herüber, so als überlegte sie, ob sie ihn nicht erwürgen und anschließend essen sollte. Dass es nur einen Witz gemacht hatte, konnte sie sich nicht vorstellen. Besser wurde ihr Zustand erst, als sie ihr Frühstück mit dem restlichen Brot, Käse und Tomaten beendet hatten. Paulina schmierte die Brote dicker als Hamburger und schlang sie ohne jeden Genuss herunter. Es ging ihr nicht ums Essen, sondern darum gegessen zu haben. Erst als der letzte Bissen weg war, wurde sie ruhiger.

Dann aber ging es ihr wieder ein bisschen schlechter, denn auf dem weg gab es wieder nichts, mit dem sie ihre Nahrungsreserven auffüllen konnte. Dafür ging es jedoch konstant und steil bergan. Der Anstieg dauert etwas 4 Kilometer, dann erreichten wir den Pass und konnten auf der anderen Seite wieder ins Tal hinabsteigen. Langsam war sie wirklich kurz vorm Durchdrehen und probierte sogar, ob sie die winzigen, unreifen Äpfel eines Wildapfelbaumes herunterbringen konnte.

Unten im Tal gab es ein winziges Dörfchen mit einem kleinen Laden und einer Bar. Hier hätte es einige Möglichkeiten gegeben, an Essen zu kommen, doch Paulina war bereits so frustriert, dass sie kaum mehr fragen konnte. Ihr Verhungerungskonflikt war so groß, dass sie bereits Angst hatte, bevor sie einen Menschen traf. Und das, obwohl sie nur einen Zettel hinhalten musste, der alles erklärte. Doch ihre negative Stimmung, der Frust und die Panik strahlten deutlich nach außen und so vertrieb sie jeden möglichen Essensspender, bevor sie überhaupt fragen konnte. Als sie zu uns zurückkehrte, kam sie mit leeren Händen. Genau in diesem Moment kamen zwei Frauen mit einem Kinderwagen an uns vorbei, die Paulina eh schon mitleidig anschauten.

„Ich glaube, dass du gute Chancen hast, wenn du die beiden dort fragst!“ sagte ich. Doch Paulina hatte die Lust verloren: „Ich frage überhaupt niemanden mehr! Wenn die hier so scheiße drauf sind, kann ich ihnen auch nicht helfen!“

Ich konnte mir ein grinsen nicht verkneifen. Sie versuchte gerade wirklich die Einheimischen damit zu bestrafen, dass sie sie nicht um Hilfe bat. Sicher würden sie nun Nächte lang nicht schlafen können und sich vor Reue in den Hintern beißen. Mir ist vollkommen bewusst, wie oft ich die gleichen Gedanken und die gleiche Taktik hatte, die natürlich genauso zinnfrei gewesen war. Als ich in der Situation war, konnte ich nicht darüber lachen. Als Außenstehender ist das aber irgendwie etwas anderes.

Das kleine Dörfchen lag am Boden eines Canyons, was an und für sich ganz schön war. Ungünstig war nur, dass wir diesmal nicht entlang des Canyons wanderten, sondern ihn queren mussten. Alles, was wir gerade hinabgestiegen waren mussten wir nun also auf der anderen Seite wieder hinauf. Das waren gut 350 Höhenmeter auf einer Strecke von vier Kilometern. Die beiden Frauen mit dem Kinderwagen liefen das erste Stück neben uns her, bis wir zu einigen weiteren Häusern und einer Quelle kamen. Hier bemerkte Paulina, wie unsinnig ihre Strategie gewesen war und beschloss die beiden Frauen doch noch zu fragen.

Die ältere von beiden, die offensichtlich die Mutter der anderen war, ließ sich nicht zweimal bitten und bereitete gleich eine große Portion Spiegeleier mit Salat, Brot und Käse zu, die sie zu uns an die Straße brachten. Sie wusste ja nicht, dass ich fastete und kochte daher für drei Personen. Während Heiko und Paulina aßen setzte ich mich auf den Baumstamm neben sie und genoss die Aussicht. Es machte mir erstaunlich wenig aus, nicht mitzuessen. Ich hätte gedacht, dass es deutlich schwerer sein würde. Andersherum machte es aber auch Heiko und Paulina erstaunlich wenig aus, meinen Anteil mit zu verschlingen. Heiko langte ordentlich zu, schaffte es aber trotzdem nicht, mit Paulina mitzuhalten. Dabei ging es ihm aber auch darum eine Sache herauszufinden, die er im Essverhalten von Paulina vermutete. Sie wusste inzwischen, dass sie mit dem Essen ein Problem hatte und da sie selbst nicht spürte, wann es für sie genug war, achtete sie genau darauf, was Heiko tat. Solange er etwas aß, hatte sie das Gefühl, auch essen zu dürfen. Als er dann schließlich genug hatte, hörte auch sie auf. Naja, fast, Ein kleines Käsebrot ging schon noch. Eigentlich hatten sie geplant, den Salat und einen Großteil des Brotes für später aufzuheben, doch schließlich mussten sie feststellen, dass die ganze Schüssel leer war. Auch vom Brot waren gerade einmal noch zwei Scheiben übrig.

Von allen Lebensmitteln war der Zucker jenes, nach dem Paulina am meisten süchtig war. Das ist auch nicht verwunderlich, denn eine Zuckersucht hat in unserer Gesellschaft ja eigentlich jeder. Das Zucker im Körper Opiate produziert, die innerhalb kürzester Zeit abhängig machen haben wir ja bereits im Bericht von Tag 333 beschrieben. Diese Sucht übernehmen wir schon von unseren Müttern, wenn diese während der Schwangerschaft Zucker zu sich nahmen. Dennoch ist die Zuckersucht bei allen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt, je nachdem wie sehr sie mit anderen Themen korreliert. Besonders stark ist sie bei Menschen, die ohnehin schon zu Essstörungen, Esssucht und Übergewicht neigen. Um eine solche Sucht auflösen zu können ist es unerlässlich, zunächst einmal zu erkennen, dass man sie hat. Der Satz „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung“ wird meist so flapsig dahingesagt. Aber er ist wahrscheinlich einer der wichtigsten Sätze, die es auf dieser Welt überhaupt gibt. Erst wann man ein Problem erkannt und anerkannte hat, kann man es auch lösen. Ein Suchtverhalten ist ein unbewusstes Verhalten. Man hat zwar das Gefühl, dass man sich bewusst dafür entscheidet, eine Zigarette zu rauchen, ein Glas Wein zu trinken oder eine Tafel Schokolade zu essen, aber das Verlangen danach verläuft auf einer Ebene über die man keine direkte Kontrolle hat. Der Satz „Ich kann jederzeit damit aufhören!“ funktioniert nur so lange, wie man es nicht versucht. Denn er dient ja nicht dazu, dass man wirklich aufhört, sondern ist ein Weg um die eigene Sucht vor sich selbst zu verheimlichen. Um für sich selbst zu erkennen, ob man süchtig ist oder nicht, ist es wichtig, diesen Satz zu überprüfen, und herauszufinden, ob er war ist. Ein verhältnismäßig einfacher Weg ist es dabei, sich selbst jeglicher Gelegenheit zu berauben, so dass man gar nicht mehr in Versuchung kommt. Alkoholiker kippen daher gerne ihre Vorräte in den Ausguss und Raucher beschließen, sie nach dieser einen Schachtel keine weiteren Zigaretten mehr zu kaufen. Doch dieser Weg ist viel mehr ein Weg der Selbstüberlistung, als der Wahrheitsfindung. Jeder Mensch kann einer Partnerin oder einem Partner 50 Jahre lang treu bleiben, wenn er niemals die Gelegenheit bekommt, fremd zu gehen. Ist es deshalb aber wirklich treu? Jeder kann eine Woche lang auf Zigaretten, Kaffe, Zucker oder Alkohol verzichten, wenn er auf einer einsamen Insel gestrandet ist, auf der es all diese sogenannten Genussmittel überhaupt nicht gibt. Am Anfang spürt er auch dabei wahrscheinlich, dass er deutlich süchtiger war, als er wahrhaben wollte, aber mit der Zeit gewöhnt er sich daran und wenn der Entzug einmal durch ist, dann fällt es ihm nicht mehr schwer. Was aber passiert, wenn er anschließend gerettet und mit einem 500€ Gutschein in einem Einkaufsparadies abgesetzt wird?

Um also wirklich herauszufinden, ob und wie stark eine Sucht vorhanden ist, muss man sich der Versuchung stellen und ihr widerstehen. Und zwar mit einem guten Gefühl. Genau diese Aufgabe bekam Paulina nun von Heiko gestellt.

Die Frau, die uns mit dem Mittagessen versorgt hat, hatte auch eine Packung mit Honigzuckerstückchen dazugelegt. Es waren kleine geleeartige Würfel aus irgendeiner süßen Pampe, die mit Puderzucker eingestreut waren. Ohne eine Zuckersucht, durfte es einem also leicht fallen, diese Dinger einfach liegen zu lassen, denn außer nach süß und chemisch schmeckten sie nach nichts. Diese Zuckerstücke sollte Paulina nun auf ihrem Wagen den Berg mit hinauf transportieren, ohne sie zu essen.

Der Anstieg war steil, sogar noch steiler als der letzte und so dauerte es nicht lange, bis Paulina außer Sichtweite war. Erstaunt stellte ich fest, dass ich trotz des Fastentages nicht weniger Energie hatte als sonnt. Heiko hingegen begann nach kurzer Zeit zu fluchen und spürte deutlich, wie schwer ihm das Essen im Magen lag. Es gab eben doch einen Grund, dass man als Kind in den Baderegeln gelernt hat, nicht direkt mit vollem Magen schwimmen zu gehen. Beim Anstieg auf einen Berg konnte man zwar nicht ertrinken, aber die sonstige Wirkung war die gleiche. Wie mochte es wohl Paulina gehen? Ob sie die Zuckerwürfel wohl schon gegessen hatte? Ich selbst muss ehrlich zugeben, dass ich an ihrer Stelle geschummelt und sie einfach gleich auf dem Baumstamm stehen gelassen hätte. Vielleicht ging es ihr aber auch wie Heiko und sie war so überfressen, dass sie bereits beim Gedanken an die Süßigkeiten einen Würgereiz bekam. Oder aber sie wünschte sich nichts mehr als sie zu essen, wollte sich aber die Blöße nicht geben, diesen offensichtlichen Test zu verlieren. War ihr Ego, wenn es richtig eingesetzt wurde am Ende sogar doch noch hilfreich?

Vor uns machte die Straße eine scharfe Rechtskurve und dahinter sah es aus, als hätten wir nun endlich den Pass erreicht. Doch das war ein Irrtum. Es ging nur noch weiter bergauf, fast ohne dass ein Ende absehbar war. Schließlich erreichten wir jedoch eine kleine Bar, in der wir unser Wasser noch einmal auffüllen wollten. Sie gehörte einem älteren Herren mit einem Cowboyhut und einer alten Dame, bei der es sich wahrscheinlich um seine Mutter handelte. Sie saß an einem Tisch und nippte genüsslich an ihrem Nachmittagsbier. Gegenüber an einem weiteren kleinen Tischchen saß der Sohn des Cowboys vor einem Computer. Der Mann mit dem Hut schaute uns interessiert an und lud uns dann auf einen Saft bzw. einen Tee in sein Etablissement ein. Trotz der Sprachbarriere entwickelte sich ein ganz amüsantes Gespräch, bei dem wir unter anderem erfuhren, dass der Sohn gerade dabei war eine Ausbildung zum Pfarrer zu machen.

Nach einer guten halben Stunde zogen wir weiter. Paulina war in dieser Zeit noch immer nicht aufgetaucht und auch auf dem sichtbaren Teil des zurückliegenden Weges war sie nirgendwo zu erblicken.

Die Bar markierte jedoch den Wendepunkt des Berges und von nun an ging es nur noch bergab. Zuvor hatten wir mit Paulina ausgemacht, dass wir uns im nächsten Dorf einen Zeltplatz suchen würden. Wir machten uns also auf die Suche und verbrachten noch einmal gut 20 Minuten damit, verschiedene Plätze auszukundschaften, bis wir einen geeigneten fanden. Dann bauten wir das Zelt und die Solarsegel auf und ich begann damit, meinen Hüftgurt zu reparieren, der sich in der Hitze langsam auflöste. Erst als ich damit fast fertig war, kam Paulina die Straße entlang. Sie war vollkommen kaputt und wollte sich am liebsten irgendwo zum Sterben hinlegen. Alles in allem hatte sie für die Strecke also knapp zwei Stunden länger gebraucht als wir. Der Anstieg war etwa 4km lang gewesen und der Abstieg, bei dem sie die gleiche Geschwindigkeit hatte wie wir, war noch einmal 2km lang. Was also war geschehen, dass sie eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 0,5km/h erreicht hatte?

Fortsetzung folgt ...

Spruch des Tages: Willst du dein Land verändern, verändere deine Stadt, willst du deine Stadt verändern, verändere deine Straße, willst du deine Straße verändern, verändere dein Haus. willst du dein Haus verändern, verändere dich selbst. (Arabisches Sprichwort)

Höhenmeter: 90m

Tagesetappe: 17 km

Gesamtstrecke: 10.537,27 km

Wetter: bewölkt, hin und wieder sonnig

Etappenziel: Zeltplatz auf einer Anhöhe, Gornja Bukovica, Montenegro

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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