Tag 601: Nahrungsentzug – Teil 2

von Heiko Gärtner
13.09.2015 17:18 Uhr

Fortsetzung von Tag 597:

Nachdem sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, erzählte sie uns von ihrem Aufstieg. Auch ihr hatte das Essen schwer im Magen gelegen, so dass ihr der Weg noch schwerer gefallen war, als zuvor. Gleichzeitig spürte sie aber auch ein Energietief und eine Art Schwächegefühl, so dass sie das Gefühl hatte, ihren Körper trotz des übervollen Magens mit weiterem Kraftstoff versorgen zu müssen.

Wie eine Horde kleiner, essbarer Zuckerteufel hatten die Süßigkeiten auf ihrem Wagen getanzt und immer wieder laut „Iss mich! Iss mich! Iss mich!“ gerufen. Sie hatten sogar zu singen begonnen und die ganzen alten Klassiker wie „All you need is Sugar“, „I will always feed you“ und „Time to eat a Snack“ ausgepackt. Irgendwann hatte Paulina es nicht mehr ausgehalten. Sie wollte nicht, doch sie konnte nicht anders. Mit einem lauten RATSCH! riss sie die Packung auf und stopfte sich die Zuckerstücke in den Mund.

Die Suchtstimme in ihr jubelte und klatschte Beifall. Gemeinsam mit ihrem Opfer-Ich und der Ablenkungs-Stimme veranstaltete sie sogar eine Laola-Welle und besorgte sich geistige Party-Tröten.

Doch lange ging ihre Party nicht. Denn mit einem grimmigen Gesichtsausdruck und in die Steigen gestemmten Fäusten stand plötzlich Paulinas Moral-Ich in der Tür. Wieder klatschte es, aber dieses Mal war es kein Beifall.

„Seit ihr vollkommen übergeschnappt!“ schrie sie die inneren Spielkinder an. „Wie könnt ihr auf so etwas auch noch stolz sein? Ihr seit wirklich das letzte! Abschaum seit ihr! Nicht einmal zwei Minuten haltet ihr es ohne einen Suchtstoff aus. Wie soll Paulina da jemals zurecht kommen? Wie will sie jemals eine schlanke Figur bekommen, wenn ihr jeden Versucht sofort untergrabt? Ich hasse euch! Ich hasse euch zutiefst! Und ich schäme mich dafür, dass ich mit euch im gleichen Körper lebe und dass ich ein Aspekt des gleichen Geistes bin wie ihr!“

Kaum hatte diese Stimme zu sprechen begonnen, war sie nicht mehr zu stoppen. Sie schrieb zunächst in Paulinas Inneren herum, bis jeder andere Aspekt ihres Seins so klein und mickrig war, dass man selbst mit einer Lupe Probleme hatte, sie zu finden. Dann brach die Stimme auch nach außen los. Paulina schrie vor Wut auf sich selbst. Sie schrie so laut sie konnte. Was sie dabei schrie wusste sie später selbst nicht mehr genau, aber das war wahrscheinlich auch nicht so wichtig. Wichtig war, dass sie in diesem Moment all ihren Selbsthass und all ihre Verzweiflung spürte und mit ihrer lauten, verzerrten Stimme ins All hinaus pustete. Wütend nahm sie die übrigen Zuckerstücke und warf sie auf den Boden. Mögen sie dort verrecken, diese kleinen widerlichen Drecksteufel.

„Eat us all, before you go go!“ starteten sie noch einen letzten Versuch, Paulinas Aufmerksamkeit noch einmal auf sich zu lenken. Vielleicht war sie ja doch noch weichzukriegen und konnte sich erbarmen, den Rest auch noch zu essen. Als sie jedoch ihren Hasserfüllten und wild entschlossenen Gesichtsausdruck sahen, verstummten sie und fügten sich in ihr Schicksal.

Auf dem ganzen restlichen Weg kämpfte Paulina gegen zwei kraftraubende Hindernisse an. Die eine Hälfte ihrer Energie brauchte sie zum überwinden des Berges, die andere zum überwinden von sich selbst. Die kinesiologischen Muskeltests, mit denen man sein Selbst befragen kann, basieren auf einem ganz einfachen, biologischen Zusammenhang. Unser Geist und unser Körper sind unmittelbar miteinander vernetzt und jeder unserer Gedanken hat einen direkten Einfluss auf unseren Körper. Wenn ihr das nicht glaubt oder es für esoterischen Humbug haltet, dann versucht einmal euren rechten Daumen zu bewegen. Es wird euch wahrscheinlich gelingen. Eurer Daumen folgt also einem direkten Befehl von eurem Geist. Das gleiche passiert auch auf vielen anderen Ebenen, wo es nicht ganz so offensichtlich ist. Stellt euch beispielsweise eine Situation vor, in der ihr komplett ängstlich oder wütend wart, fühlt euch richtig in sie hinein und achtet dabei auf euren Körper. Ihr werdet merken, dass ihr automatisch verspannt. In der Kinesiologie wird diese Verknüpfung nutzbar gemacht. Jeder Gedanke, jedes Bild, jede Erinnerung und jede Vorstellung, die uns positiv beeinflusst, stärkt automatisch unsere Muskelkraft, während jeder negative Gedanke eine schwächende Wirkung auf uns hat. So kann man dann die verschiedenen Muskeln im Zusammenhang mit verschiedenen Gedanken, Ideen und Fragestellungen austesten. Das gleiche funktioniert aber natürlich nicht nur bei einem Test. Es funktioniert immer. Machen wir beispielsweise Armdrücken und denken dabei an irgendetwas, das uns unglücklich macht, ist die Chance, dass wir verlieren deutlich höher, als wenn wir uns dabei wohlige, angenehme und nährende Gedanken machen. Nicht anders ist es, wenn man mit einem 50kg schweren Pilgerwagen einen Berg hinaufläuft. In Paulinas Fall war er auch unter Normalbedingungen schon anstrengend, doch nun, da sie sich ununterbrochen selbst fertig machte, verurteilte und runterzog, raubte sie sich zusätzlich noch so viel Kraft, dass sie die Steigung kaum noch überwinden konnte.

Dies erklärte natürlich, warum sie fast nicht mehr vorankam, knapp zwei Stunden nach uns eintraf und dann so fertig war, dass sie kaum noch ihr Zelt aufbauen konnte.

Es erklärte jedoch nicht das sonderbare Verhalten, das sie anschließend an den Tag legte. Jedenfalls nicht für mich. Trotz dieser ganzen Strapazen hatte sie es knallhart durchgezogen, den ganzen Berg bis zu uns hinaufzuwandern und war anschließend sogar noch in der Lage im kleinen Bach neben unserer Wiese baden zu gehen. Sie fühlte sich jedoch zu kaputt, um in der Ortschaft noch nach einem Abendessen zu fragen. Was machte das für einen Sinn? Wenn ich doch so fertig bin, dass ich glaube vor Energiemangel zusammenbrechen zu müssen, dann gebe ich doch an der Stelle auf, wenn meine Hoffnung am geringsten ist und schleife mich nicht ins Ziel, bis zum vollgedeckten Tisch und sage dann, dass ich zu schwach bin um meine Gabel zu halten? Aus irgendeinem Grund kam mir das nicht logisch vor. Oder gehörte es vielleicht auch noch zu einem inneren Bestrafungssystem, das sich Paulina auferlegt hatte, um eine Art Ausgleich für das Scheitern des Zuckertestes zu erschaffen?

Da Universum verstand dieses Prinzip wohl auch nicht so ganz und beschloss, den sprichwörtlichen Berg zu ihr zu schicken, da unsere Prophetin von Bergen offenbar gerade die Schnauze voll hatte. Der Berg kam in Form eines alten Mannes, der einen Moment lang schüchtern auf der Straße stehen blieb und zu uns hinüberschaute. Zwei drei Mal machte er Anstalten zu uns zu gehen, traute sich aber nicht so recht. Dann fasste er sich ein Herz, ging schnurstracks auf uns zu und stolperte über den plattgetretenen Viehdraht, der einst diese Wiese eingezäunt hatte. Wenige Augenblicke früher war mir bereits das gleiche passiert und auch Paulina war bereits in die Stolperfalle geraten. Der Mann taumelte, wedelte wild mit den Armen und konnte sich im letzten Moment gerade noch fangen. Dann warf er dem Zaun einen strafenden Blick zu und ging zu unserem Zelt.

Ich saß in diesem Moment etwa dreißig Meter oberhalb unseres Lagers an einem Hang im Schatten um zu schreiben. Von hier aus konnte ich die Situation zwar beobachten und mit anhören, war aber zu weit weg, um mit einbezogen zu werden oder um zu dolmetschen. Heiko war also das erste Mal vollkommen auf sich alleine gestellt, bei dem Versuch eine Konversation auf serbisch zu führen. Ich fürchte, ich kann das nicht so richtig wiedergeben, weil der Witz vor allem in der Sprachbarriere lag, aber es war ein Schauspiel, das meinen Tag noch einmal deutlich erhellte. Heiko redete mit Händen und Füßen und versuchte sich an jedes Wort zu erinnern, das er von mir einmal aufgeschnappt hatte. Dabei kamen die dollsten Dinge bei raus und immer im Wechsel endete jeder Satz damit, dass sich entweder der alte Mann oder Heiko komplett schlapp lachten. Als sie merkten, das ich mich auch nicht mehr halten konnte, war eigentlich jede Kommunikation aufgrund von Lachflashs unmöglich. Doch nichts verbindet mehr als gemeinsames Lachen oder Weinen und so wurden die beiden sogar richtig gute Freunde. Der alte Mann wollte das dann gleich bei einem guten, selbstgebrannten Raki feiern. Ein Angebot, das Heiko lieber in eine Essenseinladung ummünzen wollte. Das ganze hörte sich etwa so an:

„Raki?“

„Nein danke! Essen?“

„Ok, Raki!“

„Nein Raki!“

„Nein Raki?“

„Genau! Nein Raki! Ja Essen!“

„Achso! Kaffee!“

„Oh, nein, nein!“

„Nein Kaffee?“

„Nein Kaffee! Essen!“

„Also doch Raki!“

„Nein!“

„Kaffee?“

„Nein! Essen!“

„Ah, Essen?“

„Ja, Essen!“

„Was Essen?“

„Das Paradies, oder Brot, oder Tüten“ (An dieser Stelle muss ich kurz erwähnen, dass Tomaten auf Serbisch „Paradais“ heißen. Wichtig ist das A-I, denn [Paradis] heißt auch auf Serbisch Paradies. Das Wort „Queso“ bedeutet Käse, allerdings auf Spanisch. Auf Serbisch bedeutet es Tüte)

„Wie bitte?“

„Paradies!“

„Wie bitte?“

Heiko wandte sich an mich und rief: „Tobi, was zur Hölle heißt denn nochmal Tomate?“

„Paradais!“ rief ich.

„Ah, Tomaten!“ sagte der Mann.

„Ja, gut!“

„Dann kommt, essen!“

„Hier essen?“

„Mitkommen, essen?“

„Nein, hier essen!“

„Hier essen?“

„Ja, hier essen!“

„Gut, dann hier essen!“

Jetzt kam Paulina ins Spiel, die den alten Mann nun nur noch bis zu seinem Haus begleiten musste, wo seine Frau zwei große Tüten mit Zutaten für ein reichhaltiges Abendessen einpackte. Anschließend half sie ihr sogar noch beim tragen.

Paulinas Eingewöhnungszeit mochte hart und anstrengend sein, aber letztlich meinten die Götter es gut mit ihr.

Spruch des Tages: Essen gut, alles gut!

Höhenmeter: 130m

Tagesetappe: 13 km

Gesamtstrecke: 10.550,27 km

Wetter: sonnig

Etappenziel: Zeltplatz auf einer Wiese neben der Straße, Tušina, Montenegro

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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