Tag 620: Jetzt kannst du es besser machen

von Heiko Gärtner
19.09.2015 02:05 Uhr

 Fortsetzung von Tag 619:

Ich habe für sie unter Tränen alle Hüter und Spirits des Waldes eingeladen, so dass sie den Weg finden kann, wie auch Hans den Weg zum Licht gefunden hat. Es ist mein größter Wunsch das sie den Weg in ein friedliches Leben mit uns findet und doch spüre ich in mir eine Angst, dass ihre Gefühlsschleife vielleicht stärker sein könnte als unsere Liebe. So hatten viele meiner Ex-Freundinnen eine lange Liste von angeblichen Schicksalsschlägen, durch die sie selbst zum Opfer wurden. Auf diese Weise konnte ich mich auch im irdischen Leben über sie beugen um sie zu schützen, so wie ich es in der geistigen Welt für Hans getan hatte. Angefangen von Vergewaltigungsopfern, über Frauen, die ihre Weiblichkeit nicht leben konnten, weil sie gehänselt wurden, weil sie sexuelle Missachtung erfahren haben oder weil der väterliche Bezug fehlte und sie in eine Bulimie oder Magersucht geglitten sind, bis hin zu Boderlinerinnen, die sich eine aktive Form der Selbstverletzung ausgewählt hatten, da sie sich so, wie sie waren, nicht als richtig empfunden hatten. Ich war so sauer auf mich, dass ich mich kaum mehr auf die Heilungssitzung konzentrieren konnte. Was hätte in meinem Leben alles anders laufen können, wenn ich verstanden hätte, welche Überlebenskonflikte des Verhungerns und der Existenzangst mich begleitet hatten. Es tat mir damals in den Bergen außerordentlich leid, dass ich meine geliebten Menschen bis jetzt nicht besser unterstützen konnte und oft sogar noch mehr Leid in ihnen erzeugt hatte. Ein Heiler soll heilen und nicht Wunden aufreißen, die Bluten, so das man den Lebensweg zwar erkennt aber keine konkrete Hilfslinie anbieten kann. Ich war zornig und enttäuscht zugleich. Was war mit mir los?

So sitze ich hier tippe wie ein wilder und weiß durch die verworrene Situation mit Paulina noch immer keinen Weg, so das wir alle drei heil bleiben können oder in die vollkommene Heilung eintauchen.

Als ich damals unter dem Ritual über meine Ex-Beziehungen nachdachte, riss mich Hans Schrei wieder zurück ins Geschehen: „Aber jetzt kannst du es besser machen!“

Ich nahm Hans an der Hand, umarmte mein inneres Kind, das mich mit weinerlichen Augen ansah und versprach ihm, dass ich nun auf unsere Worte achten werde und dass ich das System nun verstanden hatte und bereit war es aufzulösen. Er lächelte, nickte und packte mich ebenso an der Hand. Wir gingen in die Mitte des Raumes und ich sprach in langsamen Worten: „Passt auf Jungs, wir reisen nun an meinen Medizinort. Es ist ein Rundbohlenblockhaus mit einem schönen Bergsee vor der Tür. Dort werden wir am Lagerfeuer das System bereinigen.“

Das strahlende Grün empfing uns und ich konnte in den Gesichtern der Kinder erkennen, dass sie sich bedeutend wohler fühlten. Ich holte nun im Geist alle Ahnen aber auch die lebenden Familienmitglieder in meinen inneren Medizinraum und bat sie, sich im Kreis aufzustellen. Hans stand in der Mitte des Kreises und mein Kinder-Ich stand neben mir. Ich sah in den Himmel und sagte: „Wölfe, die ihr meine Helfer seit, kommt zu mir. Ich will eine Kordel der Erkenntnis um unsere Ahnenlinie legen.“

Die Wölfe kamen und spannten eine weiße, in sich glitzernde Schnur um den Familienkreis. Hand in Hand standen sie nun vor uns. Ich ging mit meinem kleinen Heiko mit in den Kreis und das Ritual konnte beginnen.

Mit voller Kraft stampfte ich auf den Boden und schrie vier Rufe aus. Ich holte damit die vier Hüter des Osten, des Süden, des Westens und des Nordens. Viele Tiere kamen an den Platz und leisteten uns Gesellschaft. Ich schickte durch die Kordel das Dasein von Hans. Jeder sollte erfahren was mit ihm passiert ist. Alle schauten wie gebannt in die Mitte des Kreises. Es flossen Tränen, es wurden die Hände aneinander gepresst. Nun wusste jeder, dass Hans existierte und was der kleine Junge erlebt hatte.

„Was brauchst du noch?“ fragte ich an Hans gerichtet.

Er antworte unbekümmert: „Ich brauche meinen Platz in der Familie. Ich stehe hier im Kreis und ihr wisst von mir aber ich habe noch keinen Platz in eurer Familie, die auch die meinige sein soll.“

Ich radierte mein geistiges Bild aus meinem Kopf und wollte nun sehen wie die Familie mit ihren Ahnen und derzeitig lebenden Person sich in einem Raum verteilte. Als das Bild entstand, konnte ich es kaum glauben. Es war ein Wirrwarr sondergleichen. Meine Onkel standen abgeneigt zu Hans, der in der Ecke kauerte. Seine Mutter schaute aus der Ferne zu ihm. Sie war gekrümmt vor Schmerz am Boden, da sie mit der Schuld nicht umgehen konnte. Sein Vater ertrank seine Schuld in der Kneipe. Meine Tante und meine Mutter standen zu Hans geneigt, waren jedoch voller Angst. Ich war fassungslos und hilflos zu gleich. Hatte ich doch nicht grade erkannt, dass ich nur dann helfen kann, wenn ich die eigenen Absichten heraus nehme und die Ängste nicht auslöschen will, sondern die Ursachen auflöse? Tief in mir spürte ich, dass mich dieser Blickwinkel nicht weiter brachte. Ich rief nach meinem Krafttier, das mir bei den unterschiedlichen Blickwinkeln schon oft hilfreich zur Seite gestanden hatte. Der Bussard kam auf mich zugeflogen, pickte mich auf und wir flogen immer höher. Ich sah wie sich die Ahnen reihten und erkannte, dass die Verletzung schon so alt war, dass sie sich über mehrere Generationen hindurchzog. Der Verhungerunsgkonflikt war so alt, das ihn keiner nach so langer Zeit noch bewusst wahrnehmen konnte. Als ich auf dem weißbraunen Vogel saß überkam es mich!

„Scheiße! Verfluchte Scheiße!!!!“ meine Gehirnstimme hämmerte mir die Worte durch meinen Verstand, „Heiko, kannst du dich nicht mehr an die Worte deiner Mutter erinnern, das du kurz davor standest, dass sie dich als kleines Kind fast zwangsernähren mussten?“

Stimmt! Da war doch was! Aus irgendeinem unerfindlichen Grund wollte ich einfach nicht genug essen. Ich war immer an der Verhungerungsgrenze. Meine Kinderärztin machte sich damals große Sorgen und meinte: „Wenn Heiko nicht bald aus dem starken Untergewicht heraus kommt, dann müssen wir ihn zwangsernähren!“ Die Frage ist: Aus welchem Grund wollte ich in der Kindheit nicht mehr essen? Habe ich vielleicht in diesem Alter schon die Existenzangst und den Verhungerungskonflikt meiner Ahnen gespürt? Kann es sein das ich vielleicht gesagt habe, ich tue es dir Hans gleich, so dass du Gehör findest? War es dies, was ich nie hören wollte und weswegen ich die Ohrprobleme bekommen hatte?

Ich weiß es nicht und doch scheint es mir logisch zu sein, das ich genau aus diesen Gründen nicht ausreichend fürs Leben gegessen habe. Oder wollte ich gar meine Familie schützen, da ich den Verhungerungskonflikt fühlte und meinte, dass ich als Erdheiler der Familie eh nichts bringen konnte? Hatte ich vielleicht beschlossen lieber mich selbst zu opfern, als zu riskieren, dass meine ganze Familie verhungerte?

Abermals zuckte ein Blitz durch meinen Geist.

Nur durch Malzbier konnten sie mich damals dazu bringen, mein Verhungern aufzugeben.

Wieder durchzuckte mich ein Blitz.

Malzbier hat dazu geführt das ich aus dem Untergewicht kam.

Hatte aber nicht die alkoholhaltige Variante von Bier auch dem Vater von Hans geholfen, die Gefühle wegzuspülen? Hatte nicht der Mann meiner Tante ebenfalls den Alkohol als Rettungsweg gewählt, um die Gefühle nicht zu fühlen, die so dringend hätten gefühlt werden müssen? Ich weiß es nicht und doch sind die Eigenarten und die Vernetzungen so groß, dass ich kaum mehr an einen Zufall glauben kann und will. Es ist ein System und aus diesem System heraus handeln wir.

Enttäuscht senkte ich damals meinen Kopf und spürte in mich. Warum ich? Warum soll ich diese Situation lösen? Abermals durchfuhr es mich, als wäre ich gerade von einer Tarantel gestochen worden. Hatte ich diesen Satz nicht immer in meiner Kindheit ausgesprochen? „Immer ich! Immer müssen mich alle in der Schule hänseln. Immer muss ich krank werden! Immer muss ich schlechte Noten haben! Immer muss ich so viel erdulden! Immer muss ich so viele Rechtschreibfehler haben! Ich bin doch zu dumm zu allem!“

Hat Paulina nicht genau den gleichen Satz in sich?

„Ich bin viel zu blöd um effektiv zu sein! Ich war schon immer zu langsam. Ich kann das eh nicht!“

Ziehe ich nicht automatisch eine Paulina an, weil ich in mir den gleichen Spruch habe? Immer bekomme ich einen schweren Weg vorgesetzt so wie Hans einen leidvollen Weg vor sich hatte. Wie muss sich wohl Hans gefühlt haben, als er in den Bus einstieg, der ihn aus seinem gewohnten Zuhause riss? Wie musste es für ihn gewesen sein, aus seiner Sicht einfach abgeschoben zu werden? Er war doch noch ein kleines Kind. Kann man ihm verübeln, dass er dachte, dass er nicht geliebt wurde, dass seine Brüder und seine Eltern ihn nicht lieb hatten und dass er deswegen weg musste? Kann man ihm verübeln, dass er glaubte, dass er wegen seiner verschmähten Gabe und wegen seiner daraus folgenden Behinderung aussortiert und abgeschoben wurde?

Ich glaube nein.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Es lohnt sich nicht, einen Fehler zwei mal zu machen, denn die Auswahl ist so groß.

Höhenmeter: 240 m

Tagesetappe: 17 km

Gesamtstrecke: 10.925,27 km

Wetter: bewölkt und trübe, nachts sternenklar

Etappenziel: Zeltplatz im Wald, in der Nähe von Sferke, Kosovo

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare