Tag 623: Patenonkel

von Heiko Gärtner
19.09.2015 02:31 Uhr

Fortsetzung von Tag 622:

Das heißt im Klartext: Wenn ein Kriegsschauplatz entsteht und ich wieder Frieden haben will, ist das nicht in Ordnung da dies andere Personen absonderlich finden könnten und mich ja jeder lieben muss. Nehmen wir noch mal das Beispiel mit dem Grillen. Die Gastgeber brüllten uns an und man konnte kaum sein eigenes Wort verstehen. Die Unterhaltungen bezogen sich auf reinen Smalltalk, ergo auf geistigen Dünnpfiff. Die Stimmung war gereizt und es engte mich persönlich in meiner Freiheit ein. Damals ging ich nicht, weil ich Paulinas Gefühle nicht verletzen wollte. Sie hatte die Essenseinladung organisiert und so wollte ich ihr zeigen dass ich ihr Engagement ehre. Was ich aber übersah war mein eigenes Herz. Was wollte ich? Wollte ich in das Kriegsgebiet der Schreierei einziehen? NEIN! War mir vorher schon klar dass es so kommen wird? JA! Ergo habe ich es nur für eine andere Person getan, weil ich glaubte Paulina würde mich nicht mehr lieben wenn ich aufstehen und mich in die Sonne legen würde.

Also wenn ich gehe mag man mich nicht mehr. Das heißt: Hans musste von der Familie gehen weil er behindert war. Sein Gefühl war, er muss deswegen gehen, weil er nicht richtig ist. Er dachte, dass er nun nicht mehr von der Familie geliebt wird. Ähnlich ist es auch bei mir. Ich habe derzeit ein Handicap mit den Ohren. Wenn ich wegen meiner Behinderung gehe, mag man mich nicht mehr. Ich handle also durch die Prägung durch Hans gegen mein Herz weil ich glaube wenn ich für mein Herz stimme erhalte ich keine Liebe mehr. Wer nicht gut genug ist, also solche Situationen nicht aushalten kann, kommt einfach weg und wird abgeholt. Das heißt im Klartext in Hans Worten: Wenn ich gehe mögen mich meine Brüder nicht mehr und verschweigen mich.

Auch bei mir hat das Verlassen meiner Heimat beim Aufbruch zu dieser Reise die Beziehung zu meiner Schwester deutlich verändert. Ich kann nicht sagen warum. Ich weiß nur, dass es so ist.

Auch vor meinem Aufbruch gab es hin und wieder Spannungen, die aufgrund unserer Lebensthemen entstanden. Wegen meiner Ohrengeräusche konnte ich mit ihrem kleinen Sohn nie so spielen, wie ich wollte. Natürlich liebe ich meinen Neffen, doch als Kleinkind liegt es nun einmal in seiner Natur, seine Umgebung mit den unterschiedlichsten Klängen zu erfüllen. Gerade die letzte Zeit vor der Reise befand ich mich jedoch immer wieder in Heilungskrisen, in denen meine Ohren besonders empfindlich auf laute Geräusche reagierten, vor allem dann, wenn sich diese in hohen Tonlagen befanden, zu denen auch das Stimmvolumen von Babys und Kleinkindern gehört. Aus diesem Grund spürte ich häufig den Wunsch, mich zurückzuziehen, wenn es mir zu laut wurde, doch ich traute mich nicht, dies offen anzusprechen. Wieder war das alte Gefühl in mir, nicht richtig zu sein und gleichzeitig glaubte ich, dass es die Aufgabe meiner Familie war, mich auch ohne Worte zu verstehen. Jeder wusste ja, dass ich Probleme mit den Ohren hatte, also sollte es doch klar, sein, dass ich meine Ruhe brauchte. Doch wie immer in solchen Situationen, war das natürlich alles andere als klar. Mein Unwohlsein gepaart mit meinem Schweigen und dem Versuch den Situationen auszuweichen musste dazu führen, dass meine Schwester glaubte, ich würde ihren Sohn bewusst meiden, da ich ihn nicht mochte. Dies verletzte sie verständlicherweise zu tiefst. In ihren Augen war ich kein guter Onkel und Taufpate, da ich mich nicht richtig um ihren Sohn kümmern wollte. Ich wollte nicht mit ihm spielen da es für meine Ohren schon eine Herausforderung war, auch nur im gleichen Zimmer zu bleiben. So glaubte sie, dass ich ihr Kind nicht lieben kann, doch auch sie sprach das Thema nicht an. So blieb die Wolke aus unangesprochenen Gefühlen zwischen uns hängen und erfüllte den Raum mit einer unangenehmen Stimmung, die sich keiner wirklich erklären konnte. Für mich war klar, dass ich mein Patenkind liebe, auch wenn es mir nicht möglich war, so auf ihn einzugehen, wie es einem anderen Mann zu dieser Zeit vielleicht möglich gewesen wäre. Für sie aber stand fest, dass ein Onkel, der seinen Neffen liebte, auch möglichst viel Zeit mit ihm verbrachte und sich um ihn sorgte.

Doch das Beisammensein war für mich jedes Mal wie ein Spießroutenlauf. Jedes hohe oder laute Geräusch schmerzte in meinen Ohren und erhöhte das Fiepen in den selbigen. Gleichzeitig war mir aber bewusst, dass mein Neffe nichts dafür konnte, dass er so war, wie er war. Er war ein kleines Kind und nichts sollte ihn daran hindern zu spielen, sich zu freuen und herumzutollen. Aus diesem Grund verbot ich es mir, die Situation so zu verändern, dass sie für mich angenehm wurde. Ich wollte es nicht ansprechen, denn ich hatte Angst, den kleinen Jungen, damit zu verbiegen. Gleichzeitig wollte ich aber auch nicht gehen, da ich fürchtete, auf diese Weise noch mehr den Eindruck eines schlechten Onkels zu machen. Also verharrte ich in der Situation und zwang mich sie durchzustehen und dabei den Eindruck zu vermitteln, als sei alles in Ordnung. Doch dass nahm mir natürlich niemand ab. Sowohl meine Eltern, als auch meine Schwester und vor allem mein Neffe spürten, dass ich nicht gerne im Raum war und da ich es nicht erklärte, mussten sie genau den Schluss daraus ziehen, den ich eigentlich hatte vermeiden wollen. Sie mussten glauben, dass ich den Jungen nicht mochte.

Durch die Angst, die ich in mir trug, löste ich also genau das aus, vor dem ich Angst hatte. Ich fürchtete, ich könnte durch meine Offenheit genau das auslösen, was auch Hans passiert war, nämlich dass er von seinen Geschwistern nicht mehr gemocht wurde.

Und genau so kam es.

Ähnlich wie ein Wohnzimmer nicht mehr so gemütlich wirkt, wenn ein riesiger Haufen dreckiger Wäsche in der Mitte liegt, wurde auch die Beziehung zu meiner Schwester nicht mehr so gut wie vor dieser Geschichte.

Es ist wie mit Hans. Er ging von den Brüdern weg und plötzlich verschwiegen sie ihn, nicht weil sie ihn nicht mehr mochten, sondern weil die ungelösten Gefühle einfach zu groß wurden, um sie zu verarbeiten.

So ähnlich fühle ich mich auch. Meine Schwester und ich haben zwar Kontakt und doch haben wir keinen. Die Gespräche bleiben fast immer an der Oberfläche. Wir sind höflich und gratulieren uns zum Geburtstag und zu allen Festlichkeiten. Wir schicken uns Bilder und vieles mehr. Doch über Gefühle, darüber wie es uns wirklich geht, war uns beschäftigt und was in uns los ist, darüber sprechen oder schreiben wir nicht mehr. Es ist, als läge ein großer, schwarzer Schatten auf unserer Herzensverbindung, der verhindert, dass wir einander wirklich begegnen und nicht nur zum Schein.

So steht nun plötzlich auch unausgesprochen die Frage im Raum, ob es überhaupt eine gute Idee war, dass ich der Patenonkel für meinen Neffen wurde. Als meine Schwester mit ihm schwanger war, stand die Frage nach einem geeigneten Paten im Raum. Viel Auswahl gab es nicht, denn ich habe keine weiteren Brüder und auch die Familie meines Schwagers ist nicht gerade reich an potentiellen Patenonkeln. Doch so gern ich die Patenschaft auch übernehmen wollte, so sehr schlugen doch zwei Herzen in meiner Brust. Denn schon damals war mit vollkommen bewusst, dass ich ein Nomade bin. Immer schon war mir klar, dass ich keine eigenen Kinder haben wollte und auch wenn ich viele Kinderkurse leitete und viele Tausend Kinder in meinem Leben betreut habe, konnte ich mich selbst nie als einen Vater oder Erziehungsberechtigten sehen. Ich bin ein Heiler, ein Mentor, ein Kojote. Es ist eine Herzensaufgabe von, Menschen dabei zu helfen, auf ihrem Weg ein Stück weiter zu kommen. Doch ich bin niemand, der die Verantwortung für ein junges Leben übernimmt und sich um ihn oder sie kümmert und sorgt. Ich bin ein Mensch der Freiheit, den es hinaus in die Welt und in die Wildnis zieht um zu forschen, zu entdecken und zu erleben. Konnte ich also der Aufgabe eines Patenonkels überhaupt gerecht werden? Was war, wenn wirklich der Fall eintreten sollte, das meiner Schwester und ihrem Mann etwas zustoßen sollte und das Sorgerecht für ihren Sohn in meine Hände fiel? So gern ich ihn auch hatte, ich konnte mir eine derartige Situation einfach nicht vorstellen. Gerne konnten wir gemeinsame Streifzüge in den Wäldern unternehmen zusammen nach Fährten suchen, Feuer machen oder Höhlen erkunden. Aber für einen Familienalltag war ich einfach nicht geschaffen.

Was also würde geschehen, wenn ich die Aufgabe des Patenonkels übernahm? Auf der einen Seite war es natürlich eine große Ehre, doch hingen auf der anderen Seite nicht auch unglaublich viele Erwartungshaltungen daran? Ein einfacher Onkel konnte der verrückte, kauzige Onkel sein, der so war, wie er eben war. Ein Patenonkel hingegen hatte gewisse gesellschaftliche Konzepte zu erfüllen. Er konnte nicht einfach auftauchen und verschwinden, wie er es wollte. Er musste sich an Geburtstage und Feiertage halten und er musste eine gewisse Präsenz zeigen, auch wenn ihm vielleicht gerade nicht danach war.

Trotz meiner Bedenken nahm ich die Aufgabe des Patenonkels an, doch nicht mit vollem Herzen, sondern viel mehr, weil ich fürchtete, nicht mehr geliebt zu werden und meine Familie zu enttäuschen, wenn ich es nicht tat.

So war das Verhältnis zwischen mit uns meinem Neffen von Anfang an durch diesen Zwiespalt geprägt. Auf der einen Seite liebe ich ihn bedingungslos und freue mich jedes Mal, wenn ich seine Geschichten höre, die er im Kindergarten erlebt hat, ebenso wie es mich freut, wenn Oma und Opa von ihm berichten. Auf der anderen Seite war mir aber auch vollkommen Bewusst, dass ich mit meinen Gaben und meinen Ohrgeräuschen gewöhnliches Verhältnis zu ihm aufbauen konnte. Meine eigenen Vorstellungen von der Erziehung und der Vorbereitung eines Kindes auf seinen Lebensweg unterschieden sich einfach so sehr von jeder gesellschaftlich anerkannten Herangehensweise, dass ich nicht mehr darüber sprechen konnte. Als Seher bemerkte ich jede Kleinigkeit im Verhalten meines Neffen, die auf ein inneres Ungleichgewicht hindeuteten und sofort war der Wunsch in mir, ausgleichend einzugreifen. Gleichzeitig spürte ich aber auch, dass es nicht meine Aufgabe war und dass ich mich in die Erziehung meiner Schwester nicht einmischen durfte. Diesen Zwiespalt zwischen Liebe und Distanz aus Selbstschutz, zwischen Freundschaft und der Tendenz, ein Mentor zu sein, spürte auch mein Neffe und so kam es auch hier zu einem gespannten Verhältnis. Er wusste, dass ich anders war, als der Rest der Familie, doch er konnte es nicht verstehen. Was war los mit dem Onkel, die in fast allen Situationen so gänzlich anders reagierte, als er es gewohnt war?

So kam es, dass auch mein Neffe eine gewisse Distanz zu mir aufbaute und unbewusst versuchte, dass Verhältnis zu mir auf unterschiedliche Weise zu manipulieren. Er reagierte ablehnend, ignorierte mich bei Skype, wenn er bei meinen Eltern zu Besuch war und ließ sich oft verleugnen, wenn ich mit ihm sprechen wollte. Natürlich weiß ich, dass er dies nicht aus böser Absicht macht, sondern aus einem System heraus, ebenso wie jeder andere Mensch aus einem bestimmten System heraus handelt. Doch obwohl dies nicht meine Liebe zu ihm schmälert und obwohl ich ihn nur allzu gut verstehen kann, kann ich doch nicht verhindern, dass sich dadurch ein Schatten auf unsere Beziehung legt, der zu der gleichen Distanz führt, die sich auch zwischen mir und meine Schwester geschlichen hat.

Doch die eigentliche Frage lautet: Warum ist die Beziehung so, wie sie ist.

Mit Sicherheit kann ich das natürlich nicht sagen, denn ich kann nur von mir und aus meiner Perspektive heraus sprechen. Doch eine Erklärung, die mir immer mehr ins Bewusstsein dringt ist, dass auch mein Neffe und ich wichtige Spiegelpartner für einander darstellen.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Nicht jeder ist ein geborener Kindernarr

Höhenmeter: 180 m

Tagesetappe: 24 km

Gesamtstrecke: 11.001,27 km

Wetter: sonnig, leicht bewölkt

Etappenziel: Zeltplatz an der Straße, in der Nähe von Mirenë, Kosovo

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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