Tag 628: Ja oder Nein – Teil 1

von Heiko Gärtner
24.09.2015 19:04 Uhr

Kommen wir nun also noch einmal zu jenem folgenschweren Tag am Stausee zurück, an dem gewissermaßen das letzte Kapitel unserer Zeit zu dritt begann. Ich beschreibe diesen Tag sehr ausführlich, weil ich ihn als sehr wichtig empfinde. Dabei geht es mir jedoch nicht darum, den Konflikt mit Paulina möglichst breit zu treten, sondern die einzelnen Themen und Verstrickungen zu erklären, die hinter diesem Konflikt standen. Nicht, weil ich jemanden in ein gutes oder schlechtes Licht rücken will, sondern weil darin viele Kernpunkte enthalten sind, die einen Menschen davon abhalten, wirklich frei zu sein und weil ich glaube, dass jeder, der es möchte, sehr viel daraus lernen kann. Ich für meinen Teil habe sehr viel aus der Situation mitnehmen können und mir ist vieles bewusst geworden, das ich zuvor nie verstanden habe. Auch und gerade nicht in den Phasen, in denen ich diese Themen selbst durchlebt habe. Dafür bin ich allen Beteiligten und vor allem Paulina sehr, sehr dankbar.

Der zweite Grund, warum dieser Tag in meinen Augen besonders spannend ist, ist der, dass sich hier innerhalb weniger Stunden bereits alles in einer Art Kurzversion abspielte, was sich später über Tage hinweg dann noch einmal langsam wiederholte. Heiko und ich haben uns oft gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, früher einen klaren Cut zu ziehen um Unannehmlichkeiten auf beiden Seiten zu vermeiden. Dieser Tag wäre sicher einer der besten dafür gewesen. Doch wir waren noch nicht bereit, weil wir vieles noch nicht begriffen hatten und so brauchten sowohl Paulina als auch wir noch einige weitere Runden, bis wir wirklich so weit waren, getrennte Wege gehen zu können.

In der ganzen Zeit, die wir an diesem Tag mit Diskussionen, Gesprächen, Überlegungen und Streitgesprächen verbrachten, ging es dabei eigentlich nur um eine einzige Frage: „Bin ich bereit, meinen Lebensweg zu gehen und zu 100% zu mir zu stehen, egal was das auch für Konsequenzen haben mag? Ja oder Nein?“

Diese Frage ist es, die den Unterschied ausmacht, ob jemand ins Leben gehen kann oder nicht. Denn solange wir nicht zu uns stehen können und uns deshalb hinter einer Maske verstecken, können wir uns nicht weiterentwickeln. Die Meinung anderer und die Angst davor, was sie über uns denken könnten, wird unser Handeln stets so sehr bestimmen, dass wir unmöglich unserem Herzen folgen können. Wer also nicht bereit ist, diese Maske abzulegen und vollkommen zu dem Menschen zu werden, der er ist, kann niemals wirklich vorankommen. Er wird auf verschiedenen Nebenschauplätzen lernen können, doch er wird sich immer wieder im Kreis drehen. Ich weiß, wovon ich da spreche, denn ich habe genau dies viele Jahre lang gemacht.

Und genau dasselbe geschah auch im Moment mit Paulina. Sie hatte beschlossen, dass sie ihr altes Leben aufgeben und ein neues beginnen wollte. Doch sie wollte dieses Leben nicht mit jeder Konsequenz. Sie stand noch immer mit einem Bein zu Hause und auch ihre Gedanken drehten sich noch immer mehr um ihr früheres Leben als um das, was im Hier und Jetzt geschah. Kurz: Sie war zwar körperlich anwesend, wusste aber noch nicht sicher, ob sie überhaupt hier sein wollte und war deshalb geistig noch nicht richtig angekommen. Dies war, wie wir später herausfanden, einer der Hauptgründe, warum es so oft zu so heftigen Streitereien kam und warum wir uns dabei immer wieder im Kreis drehten.

Wenn ich nun noch einmal zurückblicke, wird mir bewusst, dass auch wir am Anfang in genau dieser Schwelle fest steckten. Ich habe euch ja einmal von den vier Schwellen erzählt, die jeder Mensch durchmacht, wenn er seinen gewohnten Komfortbereich verlässt. Eine davon ist die Schwelle des Ankommens. Früher in den Seminaren haben wir das immer so schön daher gesagt, denn dabei ging es ja in der Regel immer nur um einen Ausflug ins Ungewisse, der nicht länger als ein paar Tage dauerte. Doch je ernsthafter der Ausbruch aus dem Gesellschaftskäfig wird, desto stärker werden auch die Schwellen, die man dabei durchläuft.

Die erste Schwelle, die sogenannte Schwelle des Ankommens, äußert sich vor allem in einem einzigen Satz, der die damit verbundenen Gefühle auf den Punkt bringt: „Was zur Hölle habe ich mir da eigentlich angetan?“

Die meisten von uns, so auch Heiko, Paulina und ich, haben einen Großteil unseres Lebens damit verbracht, es uns in einem geschützten Rahmen so angenehm wie möglich zu gestalten. Als Gesellschaftsmenschen sind wir ein bisschen wie Tiere im Zoo. Wir können zwar nicht mehr frei unseren Weg gehen und uns für das entscheiden, was wir wirklich von Herzen wollen, dafür aber ist es bequem und angenehm. Wir haben gemütliche Wohnungen mit kuscheligen Sofas und Fernseher mit fabelhafter Bildqualität. Das Essen wird uns quasi zugeworfen und wir haben uns ein sicheres Umfeld abgesteckt, in dem es keine natürlichen Feinde mehr gibt. Herausforderungen und Risiken gibt es nur noch wenig bis keine, so dass wir uns weder groß anstrengen noch wirklich etwas lernen müssen. Vorausgesetzt natürlich, wir verlassen dieses kleine, sichere Gehege nicht um ein neues Revier zu erkunden. Auf diese Weise erbauen wir uns selbst einen goldenen Käfig, in dem wir uns unser Leben lang einsperren und aus dem wir irgendwann nicht mehr hinaus wollen. Obwohl die Tür offen steht ist unsere Angst vor der Welt da draußen zu groß, so dass wir lieber hinter den sicheren Gitterstäben bleiben.

Doch unsere Seelen lassen sich leider nicht einfach einsperren und so kommt hin und wieder so ein lästiges Gefühl in uns auf, das wir Sehnsucht nennen. Es ist das Gefühl, dass es da draußen doch mehr geben muss als Talkshows und Tiefkühlpizza. Wenn dieses Gefühl da ist, dann können wir ihm auf vielfältige Weise begegnen. Einer der beliebtesten Wege ist es, das Gefühl einfach in Alkohol zu ertränken so dass man es nicht mehr spüren muss, denn dann braucht man auch nichts ändern. Wenn das nicht klappt oder wenn man nichts von Drogen hält, dann muss man dem Gefühl nachgehen und damit fängt der ganze Ärger dann eigentlich erst an.

In diesem Fall wagen wir uns einen Schritt aus unserer Komfortzone heraus. Dies kann auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen geschehen. Vielleicht machen wir einen Volkshochschulkurs im Tango-Tanzen und riskieren dabei, uns bis auf die Knochen zu blamieren, weil wir keinen Takt halten können. Vielleicht machen wir auch eine Abenteuerreise an den Nordpool und stellen uns so der Gefahr der eisigen Kälte. Oder wir trauen uns endlich, das Mädchen anzusprechen, das wir schon so lange anhimmeln und von dem wir glauben, dass es uns nicht einmal wahrgenommen hat. In allen diesen Fällen wagen wir uns ein Stückchen aus unserer gewohnten Umgebung hinaus ins Ungewisse und riskieren dabei, dass sich vielleicht etwas ereignet, das wir weder vorausgesehen noch uns erhofft hatten.

Die Wildniskurse, die wir früher gegeben haben, waren für die meisten Teilnehmer ebenfalls ein solcher Schritt. Solange sie in ihrem Wohnzimmer gesessen und an das Abenteuer gedacht haben, fühlte sich der Gedanke an ein Lagerfeuer in der freien Wildbahn und einer selbstgefangenen Forelle über den Flammen wirklich gut an. Doch kaum saßen sie im Wald und stellten fest, dass es hier kalt und nass war, dass sie von Mücken gepiesackt wurden, dass so ein Feuer, wenn man es auf traditionelle Weise macht, überhaupt nicht brennen gerne will und dass eine Forelle auch irgendwie erst einmal gefangen werden muss. So romantisch die Vorstellung auch war, spätestens jetzt fragt man sich, warum man nicht einfach zuhause geblieben ist und sich einen schönen Abend am Kamin, mit einer heißen Tasse Tee und einem Räucherlachs aus dem Supermacht gemacht hat. Es dauert eine Weile, bis man die Situation, in die man sich hineingewagt hat, auch wirklich annehmen kann. Erst ab diesem Moment beginnt es, dass man sich in diesem neuen Bereich ebenfalls wieder heimisch fühlen kann. Die Komfortzone erweitert sich und man hat einen größeren Spielraum. Doch dazu muss man erst einmal akzeptieren, dass man da ist, wo man ist. Man muss sich auf die neue Situation einlassen und sie mit all ihren Tücken als ein Geschenk annehmen.

Nun ist es für gewöhnlich so, dass wir uns immer nur für eine kurze Zeit aus unserer Komfortzone hinauswagen und dann wieder dorthin zurückkehren. Wir besuchen ein Seminar, machen ein Training, fahren in den Urlaub, buchen eine Reise oder wagen etwas Verrücktes, von dem wir dann unseren Freunden bei einem gemütlichen Kaffeeklatsch erzählen. Die Schwelle des Ankommens ist also immer auch mit dem Gefühl von: „Ist ja nicht so schlimm, bald ist es ja vorbei!“ verbunden. Wir wissen, dass wir uns jederzeit wieder aus der Situation befreien und einfach wieder zurück auf unser Sofa kriechen können. Möglicherweise können wir dann noch immer nicht Tango-Tanzen, aber wir haben es immerhin einmal versucht. Anders ist es jedoch, wenn man sich entschließt, alle Zelte abzubrechen, seinen kompletten Hausstand zu verkaufen, seinen Job zu kündigen und ein völlig neues Leben zu beginnen. In diesem Fall gibt es kein Zurück mehr. Es gibt keine halben Sachen. Wenn man überleben will, dann muss man ankommen und man muss seinen Weg ganz gehen. Anders geht es nicht.

Als wir die Reise vor einem Jahr und neun Monaten begannen, fühlte es sich für uns zunächst auch nicht wie ein neues Leben an. Wir hatten schon viele kürzere und einige längere Touren gemacht und hatten auch dieses Mal das Gefühl, einen Spaziergang zu machen. Wir waren auf dem Weg um einen Freund zu besuchen und wanderten dann einfach noch ein Stückchen weiter. Es war ein Urlaub und wenn es nicht passte, dann konnten wir ja einfach umkehren und wieder mit dem weitermachen, mit dem wir zuvor aufgehört hatten. Oder nicht?

Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass ich am Anfang stets das Gefühl hatte, mich verstecken zu müssen. Mein Gedanke war: „Wenn ich täglich einen Bericht von unserer Reise schreibe, dann müssen diese doch bei den Lesern das Gefühl erwecken, ich sei so glücklich und so befreit wie nie zuvor. Alle Probleme haben sich in Luft aufgelöst und jeder Tag ist ein einziges Paradies, in dem wir über saftig grüne Wiesen hüpfen und uns von Schmetterlingen und Singvögeln umflattern lassen.“ Anders hätte ich doch nicht rechtfertigen können, warum ich mein Leben in der Gesellschaft aufgeben und es gegen dieses neue hier ausgetauscht hatte! Wie hätte mich jemand verstehen sollen, warum ich mir jeden Morgen einen 50kg schweren Wagen um die Hüften schnalle, 20 bis 30km wandere und nie weiß, ob ich einen Schlafplatz und etwas zum Essen bekomme. Was machte es für einen Sinn, ein solches Leben zu führen, wenn es anstrengend, ungewiss und hart war und wenn man sich die meiste Zeit nicht einmal darüber freuen konnte? Diese und viele weitere Fragen materten mir im Kopf herum

Doch genau so fühlte es sich für mich an.

Von außen betrachtet war es natürlich leicht und angenehm und wir hatten Unmengen an schönen Begegnungen mit tollen Leuten, konnten großartige Plätze erkunden und völlig neue Erfahrungen machen. Aber in mir war dennoch eine unglaubliche Schwere. Ich war nicht glücklich. Ganz im Gegenteil. Ich war so unzufrieden wie nie zuvor. Ich konnte mich plötzlich selbst nicht mehr leiden, hielt mich für einen Versager, einen Vollidioten, der niemals irgendetwas lernen konnte. Nein, Moment! Es war sogar noch schlimmer. Ich fühlte mich nicht elender als zuvor, sondern spürte zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich auch zuvor schon eine unglaublich schlechte Meinung von mir hatte. Ich hatte sie nur immer verdrängt und konnte meine Schwächen unglaublich gut vor mir selbst ausblenden. Jetzt aber wurden sie mir ununterbrochen gespiegelt. Es gab keine schützenden Gitterstäbe mehr, die mir Sicherheit boten. Ich war auf mich gestellt, musste meinem Herzen vertrauen und mich auf meine Fähigkeiten verlassen. Doch wie sollte ich das machen, wenn ich meine Herzstimme überhaupt nicht hören konnte und davon überzeugt war, nicht das Geringste zu können?

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Mach es oder mache es nicht, es gibt kein Vielleicht (Meister Yoda)

Höhenmeter: 500 m

Tagesetappe: 31 km

Gesamtstrecke: 11.071,27 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz am Hang, in der Nähe von Shtraza, Kosovo

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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