Tag 633: Ganz oder garnicht

von Heiko Gärtner
30.09.2015 02:36 Uhr

Fortsetzung von Tag 632:

Als wir an diesem Morgen an unserem Zeltplatz hinter dem See auf diesen Punkt stießen, hatte es bereits einige Eskalationen gegeben. Heiko und Paulina hatten sich bereits so weit gegenseitig gereizt, dass jeder von ihnen eine Schrei-Attacke bekommen hatte. Ich selbst stand zunächst meist nur stumm daneben und wusste als Harmoniesüchtling wieder einmal nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Schließlich wurde Heiko auch auf mich sauer, weil ich mich hinter meinem Schweigen versteckte und selbst keine Stellung bezog. Nicht, dass ich es nicht gewollt hätte, ich war nur einfach wieder so sehr in meinen eigenen Themen gefangen, dass ich nicht mehr reagieren konnte. Das Streitgespräch löste bei mir ebenso meine typischen Verhaltensmuster aus wie bei Heiko und Paulina. Bei mir war es das betroffene Schweigen und das Ausharren, in der Hoffnung, das wieder Harmonie eintreten würde. Bei Heiko war es der Jähzorn, der irgendwann dazu führte, dass er überkochte. Und bei Paulina war es der Trotzmodus, durch den sie das Gefühl hatte, nichts mehr annehmen zu können und sich permanent verteidigen zu müssen. Alle drei Strategien hatten ihre Berechtigung und alle drei führten für sich genommen nicht zum Erfolg. Doch dadurch, dass wir uns kannten und von diesen Strategien wussten, kamen wir immer wieder auf ein Niveau zurück, in dem sich der Streit wieder in eine konstruktive Richtung entwickelte. Naja, vielleicht nicht immer, aber zumindest meistens. Dieses Mal jedoch, erwies sich die Nuss, die es hier zu knacken galt als deutlich härter, als wir es uns hätten vorstellen können.

Wir waren nun also wieder an den Punkt gelangt, um den es eigentlich ging. So lange ein Mensch nicht bereit war, ganz zu sich zu stehen und eine Sache durchzuziehen, egal was für Konsequenzen das auch haben mochte, konnte er nicht weiter kommen. Das galt für mich und Heiko genau wie für Paulina und für jeden anderen Menschen. Paulina wollte auf unserer Reise mit dabei sein und sie wollte auch den Weg zu ihrem Sein finden um wirklich sie selbst sein zu können. Aber nicht mit jeder Konsequenz.

„Ich möchte ich-selbst sein, solange ich dadurch niemanden enttäusche.“

Doch es gibt keine halben Sachen. Man kann nicht nur ein bisschen schwanger werden, aber eben nicht ganz, weil man nicht sicher ist, ob man die Konsequenzen tragen will. Man kann nicht nur ein bisschen auf einem Segelschiff mitfahren, dabei aber vorsichtshalber mit einem Bein an Land bleiben, für den Fall, dass das Schiff sinkt. Entweder man ist dabei, oder eben nicht. Einen Zwischenweg gibt es nicht. Das bedeutet nicht, dass ich ein perfekter Segler sein muss, um auf ein Schiff gehen zu können. Ich muss nicht einmal gut sein. Es ist sogar Ok, wenn ich Seekrank bin und in den ersten Wochen den ganzen Tag speiend über der Reling hänge. Es ist angenehm, wenn das anders ist und es ist hilfreich, wenn ich Vorerfahrungen habe, aber es ist nicht notwendig. Alles, was ich benötige, kann ich unterwegs erlernen, auch wenn es vielleicht anstrengend für mich wird und wenn ich meinen Mitmatrosen dadurch hin und wieder auf die Nerven gehe. Was aber nicht funktioniert ist, dass ich nur halb an Bord gehe und aus Angst einen Fuß an Land lasse. Damit verhindere ich entweder, dass das Schiff ablegen kann, oder aber ich falle ins Wasser, wenn es dennoch ablegt.

Natürlich ließ Paulina nur symbolisch ein Bein zuhause in der heimischen Tür stehen, denn sonst hätte sie den Weltrekord im Spagat-Machen um ein tausendfaches gebrochen. Ihre Füße waren schon beide hier, nur ihr Kopf schaffte diesen Spagat. Gedanklich war sie einfach noch nicht bei uns angekommen und als uns das jetzt noch einmal bewusst wurde, war uns klar, dass all unsere Bemühungen, ein harmonisches Gruppenleben zu erwirtschaften und einen Rahmen zu erschaffen in dem sich nicht nur Heiko und ich sondern auch Paulina entwickeln konnte, vergeblich sein würden, solange sie sich nicht wirklich dazu entschieden hatte, hier zu sein. Ihr Körper war angekommen, aber ihr Geist hielt sich noch immer mit beiden Händen an der Couch in ihrem Wohnzimmer zu Hause fest. Dabei gab es diese Couch gar nicht mehr und auch das Wohnzimmer war längst wieder neu vermietet. Aber das änderte natürlich im Kopf nichts. Solange die Bereitschaft fehlte, sich auf den eigenen Wandlungsprozess einzulassen und zu sich selbst zu stehen, was immer auch passieren würde, solange konnte es keinen Wandlungsprozess geben. So lange würden unsere Gespräche immer wieder im Streit enden. Und so lange würde sich Paulina nur unter Druck gesetzt fühlen und würde unsere Versuche, ihr auf ihrem Weg weiterzuhelfen nicht annehmen, sondern nur als Angriffe wahrnehmen können, gegen die sie sich verteidigen muss. Denn nach ihrem Empfinden konnte sie sich erst entscheiden, wenn sie die einhundertprozentige Sicherheit hatte, dass alles gefahrlos funktionieren würde. Doch die konnte ihr natürlich niemand geben. Niemand weiß was morgen passieren wird.

Wir standen also an Bord unseres Segelschiffes und Paulina stand mit einem Bein an Deck und mit dem anderen an Land. Um lossegeln zu können versuchten wir immer wieder, ihr klar zu machen, dass sie sich entscheiden muss. Ein Jahr und sieben Monate waren wir zu zweit gesegelt und es war eine gute Zeit gewesen in der es uns an nichts gefehlt hatte. Wenn sie also nicht an Bord gehen sondern umkehren und wieder nach Hause gehen wollte, dann war das für uns vollkommen in Ordnung. Wenn sie auf einem anderen Schiff anheuern, eine Hafenkneipe eröffnen oder auf eine Pferdefarm ziehen wollte, dann war das ebenfalls OK. Wir hatten sie natürlich auch gerne bei uns und freuten uns riesig darauf mit ihr in See zu stechen und dem Lebensabenteuer von nun an zu dritt entgegen zu segeln. Das einzige, was nicht funktionierte war, dass sie zwischen den Stühlen sitzen blieb und so jegliches vorankommen verhinderte. Doch immer, wenn wir versuchten, ihr das klar zu machen, dann kam das bei ihr vollkommen anders an, als wir es meinten. Sie hörte, dass wir sie nur dann bei uns haben wollten, wenn sie eine perfekte Seglerin war, die bereits alle sieben Weltmeere erkundet, die Tod und Teufel ins Auge geblickt und die eine ganze Armee besiegt hatte, mit nichts weiter als einer Zahnbürste in ihrer linken Hand. Da sie diese Vorgedrungen nicht erfüllen konnte, brach sie sofort in Verzweiflung aus und begann sich zu verteidigen und zu rechtfertigen. Es war ja klar, dass sie all das nicht konnte! Wie hätte sie es auch können sollen, denn sie hatte ja nie zuvor in ihrem Leben ein Segelboot betreten. Wie also konnten wir überhaupt nur auf die Idee kommen, so etwas von ihr zu fordern?

Richtig! Überhaupt nicht! Aber das taten wir ja auch gar nicht. Unsere Aussage war nicht: „Werd’ endlich eine perfekte Matrosin, damit wir weiterkommen!“ sondern „Steig endlich an Bord, mit all deinen Stärken und Schwächen damit wir ablegen können!“ Das war ein entscheidender Unterschied an dessen Erklärung wir an diesem Tag noch mehrere Male verzweifelten.

Das Problem war, dass Paulina glaubte, für alles bereits eine Lösung haben zu müssen, bevor sie eine Entscheidung treffen konnte. Wenn sie die Antwort jetzt nicht sehen konnte, dann bedeutete das für die, dass sie sie niemals sehen würde. Und so lautete ihre Aussage am Morgen: „Ich werde niemals einen Schritt gehen, weil ich mich nicht offen zeigen kann!“ Was sie damit meinte, war jedoch etwas völlig anderes, nur war das weder ihr noch uns in diesem Moment klar. Der Gedanke, der dahintersteckte lautete: „Ich habe keine Ahnung, wie ich mich jemals entwickeln soll, weil meine Angst vor dem, was andere von mir denken könnten so groß ist, dass ich nicht sehen kann, wie ich es schaffen soll, zu mir zu stehen.“

Es folgte eine ganze Reihe von Missverständnissen. Heiko erklärte Paulina, dass es wichtig war, ehrlich zu sich selbst zu sein und die Vergangenheit so zu reflektieren wie sie war. Alles hatte einen Sinn im Leben, aber vieles von dem was wir in der Vergangenheit getan haben, war nicht besonders gesund und hat nicht dazu geführt, dass es uns besser ging. Viele dieser Entscheidungen haben wir unbewusst getroffen und wir haben viele Situationen, Erlebnisse und Beziehungen angezogen, die uns krank gemacht und von unserem Sein weggeführt haben. Das heißt nicht, dass sie schlecht waren. Wir haben sie gebraucht, um überhaupt erkennen zu können, dass wir uns auf einem Irrweg befinden. Um sie jedoch als Wegweiser annehmen zu können, müssen wir sie auch als solche wahrnehmen. Der Mensch, der wir jetzt sind, ist das Produkt aus all unseren früheren Entscheidungen, Gedanken, Glaubenssätzen und Handlungen. Wenn wir jetzt in diesem Moment also nicht in unserem göttlichen Sein stehen, wenn wir nicht vollkommen gesund, fit, gelenkig, vital, ausgeglichen und zufrieden sind, dann liegt das daran, dass wir uns selbst durch unser bisheriges Leben davon abgehalten haben. In meinem Fall bedeutet dies, dass ich selbst durch das Annehmen der Lebensthemen meiner Eltern und Ahnen meinen Körper soweit verformt habe, dass ich nun beispielsweise eine Trichterbrust habe, die mir auf die Lunge drückt. Meine Weigerung, mich selbst so zu sehen, wie ich nun einmal bin, führte dazu, dass meine Augen alles unscharf stellen, das nicht in meiner unmittelbaren Nähe ist. Die vielen Gifte, die ich in Form von Zucker, Lebensmittelzusätzen, Farbstoffen und so weiter zu mir genommen habe, haben zu einer chronischen Vergiftung und Übersäuerung meines Körpers geführt, die ich jetzt unter anderem in meinen verspannten Muskeln und meinem belasteten Darm merke. Um also wieder einen vollkommenen Körper zu erhalten muss ich zunächst einmal erkennen, was zu diesen Schwächungen geführt hat. Dann muss ich lernen, diese Dinge vollkommen anzunehmen und schließlich kann ich auf eine neue, gesündere Art leben, durch die sich mein Körper wieder regenerieren kann.

Auch in Paulinas Fall gab es einige Anzeichen, die darauf hindeuteten, dass ihre frühere Lebensweisen nicht ideal war, denn sonst hätte sie weder die Zellulite bekommen, noch die Fett- und Wassereinlagerungen, das Opferdenken oder die Unstrukturiertheit. All diese Dinge waren nichts negatives, sondern nur Hinweise darauf, dass es wichtig war, sowohl das Denken als auch wichtige Lebensroutinen zu wandeln. Und dafür war es unerlässlich, sich die eigene Vergangenheit unverblümt und unzensiert anzuschauen und noch einmal zu betrachten, welche Gedanken zu welchen Handlungen und Beziehungsformen geführt haben und welche Auswirkung diese wiederum auf das eigene Selbst hatten. Doch dazu war Paulina noch nicht bereit. Sie hatte das Gefühl, dass sie von uns dazu verpflichtet wurde, ihre Vergangenheit als schlecht anzusehen, wenn sie sich damit befasste. Wenn ihre früheren Beziehungen, Entscheidungen und Handlungen dazu geführt hatten, dass sie nun angstbehaftet und nicht gesund war, dann mussten sie ja zwangsläufig schlecht sein, oder? Der Punkt war jedoch, dass sie selbst viele Sachen nicht als positiv in Erinnerung hatte und sich dafür schämte. Deswegen versuchte sie, diese dunklen Erinnerungen vor sich selbst zu verbergen, so dass sie den damit verbundenen Schmerz nicht spüren musste. Doch auf diese Weise konnte er sich auch nicht auflösen und es konnte kein Lernen stattfinden. Wenn man erkennt, dass viele bewusste und unbewusste Entscheidungen in der Vergangenheit dazu geführt haben, dass man krank wurde und nicht das Leben lebt, das man eigentlich leben wollte, dann kann das sehr schmerzhaft sein und dazu führen, dass man sich selbst sehr stark verurteilt. Viele Menschen kennen das als Midlifecrisis. Doch es ist wichtig zu verstehen, dass man in jedem Moment nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat und dass es weder Fehler noch Schuld gibt. Alles, was passiert ist, musste passieren, damit jetzt die Erkenntnis folgen konnte. Ohne diese Erlebnisse wäre man nicht bereit, jetzt etwas zu verändern. Und wenn die Bereitschaft noch immer nicht da ist, dann benötigt man wahrscheinlich noch weitere Erlebnisse, die einem die Angelegenheit noch deutlicher machen.

Fortsetzung folgt ...

 

Spruch des Tages: Man kann einen Baum nicht nur ein bisschen fällen. Entweder man lässt ihn stehen oder man wirft ihn um.

Höhenmeter: 860 m

Tagesetappe: 29 km

Gesamtstrecke: 11.188,27 km

Wetter: bewölkt und regnerisch, teilweise sonnig

Etappenziel: Zeltplatz auf der Einfahrt eines verlassenen Hauses, Mavrovi Anovi, Mazedonien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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