Tag 634: Ich kann nicht mehr!

von Heiko Gärtner
30.09.2015 03:09 Uhr

Fortsetzung von Tag 633:

Wieder forderten wir sie auf, eine Entscheidung zu treffen. Sie musste die Ängste ja nicht überwunden haben und sie musste auch keinen Weg sehen, wie sie das jemals schaffen wollte. Es ging nur darum, zu erfahren, ob sie diesen Schritt überhaupt gehen wollte. Wenn sie nicht vorhatte, wirklich hier anzukommen, und ihren Weg zu gehen, dann war es besser, wenn wir uns trennten und sie in ihr altes Leben zurückkehrte. Andernfalls würden wir sie immer wieder aufs neue zu Entwicklungsschritten anleiten die sie überhaupt nicht gehen wollte. Und das war sowohl für uns als auch für sie nur anstrengend, schmerzhaft und nervig, ohne dass es zu etwas führte.

Doch ihre Antwort war wieder ein klares „Jain!“ Sie konnte keine Entscheidung treffen, weil die Angst vor den Konsequenzen einfach zu hoch war. Wenn sie sich ganz auf die Reise einließ und dabei sichtbar wurde, dann riskierte sie damit, den Kontakt zu ihrer Familie zu verlieren, so wie es bei mir passiert war. Sie riskierte, dass Menschen, die ihr bisher Anerkennung gegeben hatten nun keine Anerkennung mehr für sie übrig hatten. Und sie riskierte, dass ihr diese Menschen die Schuld dafür geben würden, dass es ihnen schlecht ging. Auch wenn es diese Schuld nicht gab, ja gar nicht geben konnte, war Paulina davon überzeugt, dass sie real war und somit brachte sie es nicht über´s Herz, diesen Schritt zu gehen.

Auf der anderen Seite wusste sie aber, dass das Wandern, das Reisen und das Nomadentum definitiv ihr Weg war. Sie wollte eine Heilerin, eine Lebenskünstlerin werden, die ihr eigenes, göttliches Strahlen im inneren ihres Herzens wiederentdeckte und die es auch in anderen Menschen zum Leuchten bringen konnte. Das Alltagsleben zu hause hatte sie kaputt gemacht. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten, Tag für Tag an einen Schreibtisch gefesselt zu sein und zu wissen, dass sie mit ihrer Arbeit andere Menschen in der Zuckersucht festhielt, dass sie einem Milliardenkonzern dabei half, die Menschen zu manipulieren und Lebensmittel zu verkaufen, die mehr Schaden anrichteten, als sie nähren konnten. Das Leben im goldenen Käfig hatte sie bereits mehrfach ins Burnout gebracht und ihr war vollkommen klar, dass sie so nicht mehr weiter machen konnte. Sie war also hin und her gerissen und sah keinen Ausweg. Die Konsequenzen der einen Richtung waren für sie genauso schmerzhaft und inakzeptabel, wie die der anderen Richtung. Es blieb also nur noch eine einzige Lösung übrig. Sie griff wieder auf die alte Strategie ihrer Kindheit zurück und stellte sich tot. Sie setzte sich einfach am Wegesrand auf den Boden und rührte sich nicht mehr. Doch anders als bei der Situation, in der ihr Unterbewusstsein diese Strategie als „Erfolgreich“ abgespeichert hatte, löste sich diese Situation nicht einfach von selbst auf. Man konnte nicht einfach auf einer Weltreise am Wegesrand sitzen bleiben und warten, bis die Notwendigkeit einer Entscheidung vorüber war. Denn der einzige Erfolg, der durch dieses Abwarten irgendwann einmal eintreffen und sie aus der Situation befreien konnte war, dass sie schließlich verhungerte und von einem Passanten als Skelett entdeckt wurde. Und da wir uns verpflichtet fühlten, bei ihr zu bleiben, bis wir wussten, was Sache war, hätte man unsere Skelette ebenfalls eines Tages entdeckt.

Auch wenn Paulina diese Option in diesem Moment als die Verlockendste empfand, waren Heiko und ich damit überhaupt nicht einverstanden. Der Tag ging langsam dem Mittag entgegen und wir waren noch keine 100m weit gekommen. Essenstechnisch hatten wir hier bereits alles abgegrast und durch unsere lautstarken Diskussionen waren wir nun auch nicht mehr unsichtbar. Es wurde also langsam etwas riskant, länger hier zu bleiben und der Druck für eine Entscheidung wurde höher.

Noch einmal versuchten wir es mit einem Gespräch.

„Was brauchst du, um dich entscheiden zu können?“ fragte Heiko und setzte sich zu ihr.

Paulina überlegte eine Weile und meinte dann, dass sie sich im Moment zu sehr unter Druck gesetzt fühlte. Sie brauchte einfach Zeit und Ruhe, um über alles nachdenken zu können. So spontan ginge das eben nicht.

„Paulina, Bitte!“ sagte Heiko und war schon wieder der Verzweiflung nahe, „Die Entscheidung ist doch nicht spontan! Du hast uns vor einem Jahr das erste Mal besucht und wusstest dabei, was auf dich zu kommt. In den zehn Tagen, in denen du damals bei uns warst, hast du ein Mentoring bekommen das deutlich härter und intensiver war, als die Zeit, die du jetzt bei uns bist. Damals war dir klar, dass es sich bei unserer Reise nicht um einen Spaziergang und auch nicht um einen Urlaub handelt, sondern um einen Medcine-Walk, also eine Reise zum eigenen Selbst, bei der es darum geht, vollkommene Gesundheit zu erreichen. Und du hast damals gesagt, dass du nicht trotzdem, sondern genau deswegen zu uns kommen und ein Teil unserer Herde werden willst. Und genau wegen dieser Bereitschaft haben wir dich auch aufgenommen. Weil du genauso begeistert dabei warst, das Leben zu erforschen wie wir. Ich frage mich nur, wo diese Frau hin ist, die uns damals besucht hat, denn es ist gerade nicht mehr viel von ihr übrig. Du wusstest, dass das kein einfacher Weg wird, genauso wie wir es wussten. Klar, der Lebensweg ist eine traumhafte Flussfahrt. Es geht darum, ein Leben in Leichtigkeit, Freude und Glückseligkeit zu leben und wenn wir die Gedanken auflösen können, dass das Leben ein Kampf ist, dann muss es auch keiner mehr sein. Es ist wie mit einem Auto, das fast von alleine über die Straßen rollt, wenn man nur ein bisschen vorne aufs Gas tippt. Aber wir haben alle unsere Karren ordentlich in den Dreck gefahren. Unsere Gesellschaft ist nunmal nicht auf Leichtigkeit und Fülle ausgerichtet, sondern auf harte Arbeit und auf Mangel. Jeder von uns hat sich dafür entschieden, diese kollektiven Glaubensmuster anzunehmen und so haben wir unser Lebensauto mitten in einen stinkenden, schleimigen Sumpf gefahren. Es da wieder herauszubekommen ist natürlich nicht einfach, aber es ist nötig, wenn man wieder frei und leicht durch das Leben fahren will. Klar ist es einfacher, das Radio einzuschalten oder sich auf dem Display des Navigationssystems alle Staffeln von Baywatch anzuschauen, während man immer mehr versinkt bis irgendwann der Schlamm über einem zusammen klatscht. Aber du hast damals erlebt, dass es außerhalb von diesem Sumpf eine Freiheit und ein Leben gibt und dass es sich lohnt, dafür aus dem sinkenden Kahn auszusteigen. Bevor du mach hause gegangen bist, haben wir dir gesagt, dass dich der Alltag wieder einholen wird und dass du wieder in den alten Mustern versinken wirst. Das geht jedem so, der einmal ausgebrochen ist und dann wieder zurückkehrt. Deswegen haben wir dich das Jahr über ja auch immer wieder gecoacht. Aber seit diesem Besuch bei uns war dir klar, dass du dich irgendwann zwischen dem Leben unter der Glaskuppel in der Gesellschaft und dem Leben draußen in Freiheit entscheiden musst. Das ist über ein Jahr her und in diesem Jahr hattest du keinerlei Druck. Trotzdem hat es die Entscheidung nicht gegeben. Du bist hergekommen, das ist richtig. Das bedeutet, du hast dich zu einer Handlung im Außen entschieden, was wirklich ein krasser Schritt ist. Ich sage dir das ganz ehrlich! Ich weiß nicht, ob ich es geschafft hätte, diesen Schritt zu gehen, wenn ich nicht schon so viele Vorerfahrungen gehabt hätte und wenn Tobi nicht dabei gewesen wäre. Ich weiß nicht wie es dir da geht, Tobi, aber hättest du den Schritt alleine gemacht?“

„Nein!“ sagte ich ohne zu zögern, „Wenn, dann wäre ich bereits seit 10 Jahren unterwegs. Mir war ja schon in der Schule klar, dass das mein Weg ist und trotzdem habe ich aus Angst erst einmal ein Studium gemacht und mir dann einen Job gesucht, der nach Freiheit aussah, bei dem ich aber trotzdem noch die Sicherheit hatte, in der Gesellschaft leben zu können!“

„So ähnlich war es bei mir auch!“ fuhr Heiko fort, „glaub mir, wir haben wirklich einen riesen Respekt vor dir, dass du nach so wenig Vorkenntnissen dein komplettes Leben auf den Kopf gestellt hast und dich entschlossen hast, alles zu verändern. Aber solange diese Veränderung nicht auch in dir stattfindet, wirst du nicht weiterkommen. Im Moment ist deine Reise noch eine Flucht, weg von dem alten, das du nicht mehr wolltest. Das ist ok, das war es bei uns auch. Aber das funktioniert auf Dauer nicht. Man kann nicht immer nur wegrennen. Das macht dich kaputt und das merkst du ja auch. Du bist ständig ausgepowert und kraftlos und hast das Gefühl, du packst es nicht mehr. Klar liegt das zum Teil an den Bergen. Du hast dir zum Einstieg auch echt eine krasse Gegend ausgesucht, was wahrscheinlich auch wichtig ist, damit du merkst, wie hart du dir das Leben gerne machst. Doch der Hauptgrund, warum du so fertig bist, ist der, dass du die meiste Zeit gegen dich selbst kämpfst. Du bist in einem permanenten Todesangstkonflikt, weil du ständig Angst hast, was passiert, wenn du wirklich einmal zu dir stehst. Und das aber nicht erst seit heute, sondern schon das ganze letzte Jahr über und auch mit deiner Ankunft hat sich daran nichts geändert.“

„Ich weiß ja, dass es wichtig ist!“ sagte Paulina und versuchte dabei die Wut in ihrer Stimme so gut wie möglich zu unterdrücken. „Aber es geht nicht! Ich kanns einfach nicht! Ich hab einfach Angst, dass ich es nicht packe! Mir wird das alles zu viel! Ich weiß nicht, wie ich hier klar kommen soll! Seit ich da bin höre ich immer nur, wie scheiße ich bin und was ich alles falsch mache! Ich kann nicht mehr!“

Fortsetzung folgt ...

 

Spruch des Tages: Der schwerste Kampf ist der Kampf gegen sich selbst.

Höhenmeter: 230 m

Tagesetappe: 32 km

Gesamtstrecke: 11.220,27 km

Wetter: Dauerregen

Etappenziel: Zeltplatz auf dem Parkplatz eines verlassenen Hotels, Adzhievci, Mazedonien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare