Tag 635: Das Spiel mit dem Hut

von Heiko Gärtner
30.09.2015 03:20 Uhr

Fortsetzung von Tag 634:

„Paulina!“ sagte ich etwas aufgebracht, weil wir genau diesen Teil der Diskussion nun auch schon etwa das 10. Mal wiederholten. „Darüber haben wir doch auch schon X mal gesprochen. Ich kann gut verstehen, dass die Sachen hart für dich sind und dass du es oft zum Kotzen findest, wenn wir dich auf Themen ansprechen. Das ging mir nicht anders. Ich hätte Heiko auch oft dafür schlagen oder zum Teufel schicken können, wenn er mich auf irgendetwas angesprochen hat, das ich doch so schön verdrängt hatte. Aber du weißt, dass es uns nicht darum geht, dich fertig zu machen, zu beleidigen oder runterzuziehen. Wir sprechen über die Themen, weil sie gerade akut sind. Wenn Dinge jetzt nicht dran sind, dann werden sie auch nicht angesprochen, aber die Themen, die im Raum stehen und die dich die ganze Zeit beschäftigen, so dass du nicht wirklich hier sein kannst oder die dazu führen, dass wir kein harmonisches Gruppenleben haben können, die müssen angesprochen werden. Und dabei geht es nicht darum, dich zu dissen, sondern dich darauf aufmerksam zu machen und dich dabei zu unterstützen, wie du die Dinge auflösen kannst. Die Verurteilungen, Beleidigungen und Angriffe, die du hörst, kommen nicht von uns, sondern von dir. Du sagst es ja schon ganz richtig: ‚Ich höre nur Verurteilungen!’ Das Problem ist, dass du dich selbst dafür verurteilst. Du kannst dich gerade nicht dafür lieben, dass du so bist wie du bist. Wir weisen nur auf die Fakten hin und das ohne jede Wertung. Aber weil du deine Zellulite hasst, weil du es hasst, keine Entscheidungen treffen zu können, weil du es hasst, dass du mit deiner Zeit nicht zurecht kommst und so weiter, deswegen nimmst du unsere Worte automatisch als Angriffe wahr. Das muss ja auch so sein! Ich weiß noch, wo wir Anfang des Jahres in Rom waren und ich diese unmögliche Poststation rausgesucht habe, in der das Paket nicht angekommen ist. Den kompletten Weg von unserem Kloster bis zur Station und zurück habe ich mich dafür gehasst und verurteilt, dass ich zu dumm bin, ein anständiges Postamt rauszusuchen. Heiko war natürlich auch sauer und gereizt, aber es wäre egal gewesen, was er an diesem Tag gesagt hätte, ich hätte alles als Angriff wahrgenommen, weil ich einfach nur in meinem Selbsthass verstrickt war. Und so geht es dir jetzt auch gerade. Du hasst dich dafür, dass du diese Themen hast und nicht weißt, wie du daraus kommen sollst. Du siehst keine Lösung und glaubst deswegen, dass du dir das Problem nicht eingestehen darfst. Aber darum geht es doch gar nicht. In unserer Gesellschaft glauben wir leider, dass Selbstliebe bedeutet, nur die guten Seiten an sich zu sehen und alles andere auszublenden. Aber das hat nichts mit Liebe zu tun, sondern nur mit Verdrängung. Wenn man lernen will, sich wirklich selbst zu lieben, dann muss man auch all seine Schattenseiten kennen und gerade diese lieben. Das ist natürlich ein wirklich krasser und harter Schritt, denn wir sind es einfach nicht gewohnt das wir sagen: ‚Geil! Zellulite, toll das du da bist und vielen Dank, dass du mir den Weg zur Glückseligkeit und zur Heilung weist, auch wenn ich dich gerade noch nicht verstehen kann!‘ oder ‚Super Kurzsichtigkeit! Danke, dass du mich zwingst, mein nächstes Umfeld wahrzunehmen, denn durch dich verstehe ich endlich, dass ich mich anschauen und eine Wandlung in mir stattfinden lassen muss, anstatt ständig zu versuchen, die ganze Welt zu verändern.‘ Wir denken so nicht! Aber das ist es genau worum es geht! Und darauf wollen wir dich aufmerksam machen. Darum sprechen wir über die Themen und nicht um dich fertig zu machen und runter zu ziehen!“

„Ich weiß das ja!“ sagte Paulina noch immer verzweifelt, „Aber ich habe gerade das Gefühl, dass mein ganzes Weltbild zusammenstürzt. Alles, was ich bislang als wahr erachtet habe, scheint falsch zu sein und ich weiß einfach nicht mehr, was ich glauben soll!“

„Ja!“ sagte Heiko, „ das kann ich verstehen! Aber das ist leider immer so, wenn man sich entschließt aus einem Käfig auszubrechen. Tobi und mir ging es nicht anders, als wir uns in Ungarn damals zwei Monate lang mit allen Themen auseinandergesetzt haben, die unsere Gesellschaft ausmachen. Angefangen bei der Medizin über die Medien, die Nahrung, die Energieversorgung, die Kleidung, ja sogar das Wetter und die Archäologie. Wir haben nichts gefunden, wo wir nicht von vorne bis hinten belogen werden. Sogar die Lügen sind noch gelogen, wenn man sich beispielsweise die Atomenergie und die Atomgegner anschaut. Das ist natürlich krass, aber es verlangt ja auch keiner von dir, dass du das alles auf einen Schlag verstehst. Wie gesagt, du musst nichts davon annehmen. Du musst nicht einmal weiter mit uns reisen. Wenn das nicht dein Weg ist, dann geh wieder zurück oder such dir etwas, das wirklich deinem Weg entspricht. Aber bitte entscheide dich. Es geht nicht, dass wir täglich mehrere Stunden diskutieren und ständig in einem Krieg sind, weil du nicht weißt, ob du hier sein willst, oder nicht!“

„Ich will ja hier sein!“ rief Paulina und ihre Stimme überschlug sich dabei fast. Dann fügte sie etwas kleinlaut hinzu: „Aber eben nicht mit jeder Konsequenz!“

Heiko und ich stöhnten laut auf und wussten nicht mehr, was wir noch sagen sollten.

„Es geht nicht, Paulina!“ begann Heiko von neuem, „Es gibt nur ein Ja oder ein Nein! Alles andere wird dazu führen, dass wir weiterhin Krieg in unserer Gruppe haben. Dass wir weiterhin ständig herum diskutieren und uns anschreien und dass wir nie vorankommen. Das kann ich nicht! Das macht mich krank! Ich merke jetzt schon, dass meine Ohren durch den permanenten Stress wieder deutlich schlimmer werden. Ich bin hier auf einem Heilungsweg und nicht auf einem Weg um mich selbst kaputt zu machen! Ich liebe dich Paulina, aber so kann es nicht weiter gehen. Das ist nicht gut für mich und für Tobi und es ist auch nicht gut für dich. Es kann einfach nicht sein, dass wir uns gegenseitig kaputt machen! Das werde ich nicht zu lassen. Ich weiß, das ist hart, aber wenn du bei uns sein möchtest, dann sei ganz bei uns. Oder aber du musst wieder nach hause gehen oder dir einen anderen Weg suchen!“

„Ich will ja! Aber ich kann nicht!“ schrie Paulina verzweifelt. „Nicht jetzt! Ich brauche eben meine Zeit dafür!“

Ich schlug vor, dass wir eine Art Frist vereinbaren könnten, so dass Paulina noch eine gewisse Zeit zum Entscheiden hatte, dass aber trotzdem klar war, dass die Entscheidung anstand. Bis zur nächsten Stadt waren es etwa vier bis fünf Tage. Bis dahin sollte sie Zeit bekommen um sich zu überlegen, ob sie mit jeder Konsequenz hier sein wollte, oder nicht. Wenn nicht, dann konnten wir sie dort zu einem Bahnhof bringen. Wenn doch, dann liefen wir einfach ganz normal weiter. Die fünf Tage wären dann eine Zeit, in der sie ganz nach innen fühlen sollte, am besten wieder mit einer Visionssuche, mit Fastentagen und mit langen Schweigephasen.

Die Idee wurde angenommen und wir machten uns auf den Weg. Paulina stand wieder auf, ging zu ihrem Wagen, nahm ihren Hut und setzte ihn sich auf den Kopf. Es war keine bewusste Handlung aber ihr Unterbewusstsein sorgte dafür, dass sie all ihren Protest, ihre unausgesprochene Wut und ihre Unsicherheit in dieses Hutaufsetzen legte. Es war, als wären wir in einem Film, den man auf Zeitlupe gestellt hatte. Als sich der Hut auf dem Kopf befand, zuppelte sie noch einmal vorne, dann hinten, dann links und dann rechts daran herum, setzte ihn wieder ab, setzte ihn wieder auf, drehte ihn leicht nach links, drehte ihn leicht nach rechts, drückte vorne etwas darauf, drückte hinten etwas darauf, lüftete ihn dann leicht wieder und begann das ganze Spiel noch einmal von vorne.

„Ich pack’ das nicht!“ sagte Heiko an mich gewandt, „So halte ich das keine fünf Tage aus. Das treibt mich in den Wahnsinn. Wir brauchen jetzt eine Entscheidung, anders geht das nicht!“

Wieder blieben wir stehen und forderten Paulina auf, sich zu entscheiden, wobei Heiko ihr erklärte, warum er mit der Situation einfach nicht zurecht kam.

„Es tut mir leid Paulina,“ sagte er, „aber ich sehe einfach nicht, wie wir so weiterkommen sollen! Wenn du dich bis jetzt nicht entscheiden konntest, was soll sich da in fünf Tagen ändern? Was soll das bringen, vor allem, wenn du jetzt schon damit anfängst alles zu sabotieren. Ich weiß, dass du es nicht bewusst tust, aber du tust es.“

„Verdammt noch Mal! Dann geh ich eben weg! Ich kanns einfach nicht! Ich kann nicht zu mir stehen und das wird sich auch nicht ändern! Ich will euch nicht belasten und deshalb geht ohne mich weiter!“ schnauzte Paulina ihn wutentbrannt an.

Nach einer weiteren kurzen Diskussion beschlossen wir, dass es das Beste war, ihren Entschluss zu akzeptieren und so gingen Heiko und ich weiter. Doch als Paulina außer Sichtweite war wurden wir automatisch langsamer. Immer wieder schauten wir zurück, ob sie nicht doch noch nachkam.

„Wie fühlst du dich damit?“ fragte Heiko.

„Überhaupt nicht gut!“ antwortete ich, „es fühlt sich einfach nicht richtig an!“

„Hattest du das Gefühl, dass sie ihre Entscheidung ernst gemeint hat?“ fragte er weiter.

„Nein!“ sagte ich, „Für mich fühlte es sich nach einer Trotzreaktion an, nicht nach einem wirklichen Entschluss, hinter dem sie auch stehen kann.“

„Den Eindruck habe ich auch!“ sagte Heiko, schnallte seinen Wagen ab und stellte ihn auf die Seite. Ich tat es ihm gleich und wir gingen noch einmal zurück zu Paulina, die noch immer zusammengekauert am Wegesrand saß.

„Paulina!“ rief Heiko ihr beim Näherkommen zu, „steh mal bitte auf und sag mir, dass du die Entscheidung ernst meinst und nicht nur aus einer Trotzreaktion heraus.“

Paulina stand auf, schwieg aber.

„Sag mir ins Gesicht, dass du dich ganz bewusst, gegen dein Leben entscheidest und lieber wieder zurück in den Käfig willst, weil du Angst hast, zu dir zu stehen!“

„Das kann ich nicht!“ fauchte sie.

„Komm schon, sag es!“ fauchte Heiko zurück.

„Ich kann nicht!“

„Sag es!“

„NEIN!“

Heiko wurde wieder ruhiger und meinte: „Ok, aber was ist es dann? Was willst du? Ich versteh dich einfach nicht! Du weißt genau, dass das hier dein Leben ist, kannst aber nicht dazu stehen und willst lieber nach hause…“

„Ich will nicht nach hause!“ schnauzte Paulina dazwischen.

„Aber was willst du?“ flehte Heiko um eine Antwort.

„ICH WEISS ES NICHT!“ schrie Paulina und fügte dann etwas leiser hinzu: „Ich weiß überhaupt nichts mehr! Am liebsten würde ich einfach hier sitzen bleiben und mich für den Rest meines Lebens verstecken!“

Fortsetzung folgt ...

 

Spruch des Tages: Der Hut, der steht ihr gut...

Höhenmeter: 430 m

Tagesetappe: 30 km

Gesamtstrecke: 11.250,27 km

Wetter: bewölkt und regnerisch

Etappenziel: Zeltplatz am Berghang, Otishani, Mazedonien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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