Tag 637: Schuld als Waffe – Teil 2

von Heiko Gärtner
30.09.2015 03:34 Uhr

Fortsetzung von Tag 636:

Leider haben wir das gleiche Problem auch sehr, sehr häufig in Bezug auf das größte Geschenkt, das uns unsere Eltern je gemacht haben. Unser Leben. Durch die Zeugung und die Geburt schenken uns unsere Eltern das Leben und damit die Möglichkeit, unsere Erfahrungen auf dieser Erde und vielleicht auch ihrer näheren Umgebung zu machen. Wenn dies ein Geschenk ist, also ein wirkliches Geschenk, dann können wir damit machen, was wir wollen, ohne dass es unsere Eltern etwas angeht. Wenn wir sagen, dass wir keine Lust dazu haben, dieses Leben zu nutzen, dann muss es vollkommen OK sein, wenn wir uns umbringen. Wenn wir es als Einsiedler auf einer einsamen Hütte verbringen wollen, dann ist das unser Ding, ebenso wie wenn wir Postbote, Astronaut, Extremsportler oder Mafiaboss werden möchten. Was immer auch unser Weg ist, wir können ihn frei gehen, ohne das unsere Eltern dabei ein Mitspracherecht haben. Sie können uns in den ersten Lebensjahren als Mentoren, Bezugspersonen und Lebenspartner zur Seite stehen und später zu Vertrauten und Freunden werden. Doch sie haben keinen direkten oder indirekten Einfluss auf unsere Lebensentscheidungen. WENN das Leben ein wahres Geschenk ist.

Doch in den meisten Fällen ist es das nicht. Wir fühlen es nicht als ein Geschenk, mit dem mir machen können was wir wollen, sondern als eine Art Leihgabe, an die bestimmte Verpflichtungen geheftet sind, ähnlich wie bei dem Haus der jungen Frau. Wir glauben, dass wir unsere Eltern Stolz machen müssen, weil wir es ihnen zu verdanken haben, dass wir überhaupt existieren. Wir glauben, dass wir sie nicht enttäuschen dürfen und gestehen ihnen damit zu, dass sie das Recht haben, in unseren Lebensfragen mitzuentscheiden. Deswegen beginnen wir ein Studium, obwohl wir es eigentlich nicht wollen, werden Anwälte, obwohl wir uns eigentlich als Rockstar sehen, heiraten, obwohl wir eigentlich in einer Hippie-Kommune mit freier Liebe leben wollen oder werden Eiskunstläuferin obwohl wir lieber Rehe füttern möchten. Wir glauben, dass wir unseren Eltern etwas schuldig sind, weil wir von ihnen das Geschenk des Lebens erhalten haben. Doch das ist natürlich nicht richtig. Denn wirklich ehren können wir das Geschenk des Lebens nur dann, wenn wir es wirklich als Geschenk ansehen und nicht als eine Art Gesamtpaket mit automatischer Vertragsbindung. Wir sehen unser Leben ähnlich wie ein Smartphone, das wir fast kostenlos bekommen, weil wir damit automatisch einen mehrjährigen Vertrag unterschreiben. Wir können es nutzen, aber nur zu einem bestimmten Tarif und auf eine vorgegebene Art und Weise.

Ähnlich wie mit den Geschenken ist es auch mit der Hilfe. Wenn wir wirklich aus vollem und freiem Herzen helfen, dann machen wir dies, weil es uns selbst Freude bereitet. Es ist eine Sache, die unser Herz zum Leuchten bringt durch die wir an Kraft und Glück gewinnen. Dabei ist es uns vollkommen egal, ob unsere Unterstützung vom anderen wertgeschätzt wird oder nicht. Sie muss nicht einmal wahrgenommen werden. Wirklich hilfreich zu sein, bedeutet, dass man das Wohl des anderen über die Beziehung stellt. Es kann also sein, dass wir einen guten Freund, einen Partner oder auch unsere Eltern vor einem schweren Fehler oder einer Menge Leid bewahren, dafür aber von ihnen auf Ewig gehasst werden, weil sie unsere Unterstützung nicht als solche erkennen konnten. Im Film „Man in Black“ wird diese Art des Helfens auch noch einmal sehr anschaulich dargestellt. Will Smith diskutiert dabei mit seinem neuen Kollegen, der unbedingt ein Held sein will und macht ihm klar, dass dieser Job nichts für Helden ist. Denn jedes Mal, wenn sie eine Katastrophe verhindert haben, löschen sie jede Erinnerung in jedem beteiligten Menschen daran, dass es überhaupt ein Problem gab. Es gibt keinen Ruhm, keine Ehre, keine Anerkennung, ja nicht einmal ein Danke, weil nichts von dem was man geleistet hat jemals passiert ist. Doch wie oft kennt ihr Fälle, in denen jemand auf diese Art und Weise hilft? In den meisten Fällen helfen wir um dafür eine Anerkennung zu bekommen. Wir tun jemanden einen Gefallen und erwarten dafür, dass auch wir Hilfe bekommen, wenn wir sie einmal brauchen. Besonders bei Menschen mit einem Helfersyndrom ist dieses Prinzip sehr deutlich. Wir opfern uns tagtäglich für andere auf, reißen uns die Beine aus und den Arsch auf, lesen jedem Menschen jeden Wunsch von den Lippen ab und bekommen am Ende vielleicht nicht einmal ein Danke dafür. Warum? Weil es beim Helfen nicht in erster Linie darum geht, einem anderen Menschen etwas gutes zu tun, sondern darum, sich auf diese Weise Liebe zu erkaufen. Die Hilfe ist kein Geschenk aus freiem Herzen. Sie kostet etwas und dieses Etwas ist wiederum das Schuldgefühl. Oftmals haben wir als Hilfsempfänger zunächst das Gefühl, dass die viele Unterstützung etwas Selbstverständliches ist, weil sie ja ungefragt kommt und wir sie oftmals gar nicht wollen. Doch sie erschafft eine Art energetische Kordel der Abhängigkeit und irgendwann kommt der Punkt an dem wir davon überzeugt sind, nichts tun zu dürfen, das das Helferwesen verletzen oder enttäuschen könnte. Denn dieser Mensch hat ja immer alles für einen getan. Dies ist auch der Grund, weswegen Menschen mit Helfersyndromen ihren Schützlingen nicht gerne dabei helfen, selbstständig zu werden. Denn dann würde der Helfer ja nicht mehr gebraucht. Die Hilfe ist also kein Geschenk, das den anderen auf seinem Lebensweg voranbringen und ihm ein eigenes, glückliches und zufriedenes Leben ermöglichen soll. Es ist vielmehr ein Weg, um sich selbst permanent mit Anerkennung zu versorgen und um sich eine Marionette zu erschaffen, die einem die Verantwortung für ihr eigenes Leben übergibt. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür ist die Entwicklungshilfe für die sogenannten Länder der dritten Welt. Denn obwohl es diese Entwicklungshilfe seit Jahrzehnten gibt, sind die betroffenen Länder heute abhängiger von den Industriestaaten als je zuvor.

Doch auch im Kleinen gibt es viele Beispiele dafür, dass Hilfe häufig nicht in erster Linie als Hilfe gedacht ist. So geben wir einem Obdachlosen ein paar Euro, nicht damit es diesem besser geht, sondern damit wir uns besser fühlen. Wir fragen ihn nicht einmal, was er benötigt, weil wir keinerlei Interesse an seinem Leben haben, sondern werfen ihm nur im Vorbeigehen ein paar Euro hin, weil wir uns schlecht fühlen, wenn wir es nicht tun. Schauen wir uns dieses Beispiel noch einmal ganz genau an, denn hierin steckt bereits das ganze Prinzip der Waffe des Opfers, das ich euch erklären will. Auch wenn wir gerne so tun, als wären wir gute, ehrenhafte Bürger, weiß jeder von uns, dass er allein deshalb weil er in der Zivilisation lebt, unschuldige Leben auf dem Gewissen hat und unschätzbar viel Leid verursacht. Wenn wir morgens aufstehen, schlagen wir unsere Decke zurück, die mit den Daunen von Gänsen gefüllt ist, die bei lebendigem Leib unter Höllenqualen gerupft wurden. Anschließend schlüpfen wir in Kleidung, die von Kindern in Indien in riesigen Fabrikhallen gefertigt wurde, in denen es weder Tageslicht noch Frischluft gibt und die 16 Stunden am Tag schuften, um am Ende nicht einmal genug für ein Abendessen zu erhalten. Die gleiche Kleidung wurde in Bangladesch in Färbereien gefärbt, in denen die Arbeiter ohne Schutzkleidung und meist sogar ohne Schuhe die hochgiftigen Farben verarbeiten, die dann ungefiltert ins Trinkwasser fließen. Unser Käsebrot stammt von überzüchteten Kühen, die so viel Milch liefern müssen, dass sie bereits nach einem fünftel ihrer natürlichen Lebenserwartung vor Erschöpfung sterben. Ich könnte den Tagesablauf jetzt noch so fortsetzen, aber ihr wisst ja, worauf ich hinaus will. Es gibt kaum jemanden, der diese Tatsachen nicht gerne verdrängt und der nicht versucht, so wenig wie möglich darüber nachzudenken, aber es gibt niemanden, der nichts davon weiß. Und so sehr wir auch versuchen, all dies zu verdrängen, können wir doch nicht verhindern, dass ein Gefühl der Schuld in uns bleibt. Wir wissen einfach, dass wir unser komfortables Leben auf dem Rücken von Menschen austragen, die denen das Schicksal weniger gut zugespielt hat. Weil wir nicht daran glauben, dass wir uns unsere Eltern und unser Leben selbst ausgesucht haben und dass jeder Mensch genau die Erfahrungen macht, die für ihn richtig sind, fühlen wir uns für das Leid der anderen verantwortlich. Im Normalfall verdrängen und vergessen wir das, machen uns sogar darüber lustig und tun so, als ginge uns das alles nichts an. Doch ab und zu gibt es Momente, in denen wir schmerzhaft daran erinnert werden. Beispielsweise, wenn wir auf der Straße einen Obdachlosen sehen. Allein seine bloße Anwesenheit und seine Aura des Opfer-Empfindens löst diese Schuld in uns aus, so dass wir in den meisten Fällen genau so reagieren, wie sich der Obdachlose das wünscht. Dass dieses Prinzip ausgesprochen gut funktioniert lässt sich daran erkennen, dass es ganze organisierte Gruppen gibt, die damit ein Millionengeschäft machen. Diese sogenannte Bettelmafia sucht ganz gezielt nach Menschen, die besonders armselig und mitleiderregend aussehen, so dass sie besonders starke Schuldgefühle bei den Passanten auslösen. Meist sind es Mütter mit kleinen Kindern oder Menschen mit Amputationen, Verkrüppelungen oder anderen Behinderungen, die aus Bulgarien, Rumänien oder der Ukraine nach Deutschland gebracht werden. Dort werden sie dann morgens in der Fußgängerzone abgesetzt, müssen den ganzen Tag betteln und werden abends von Kleinbussen wieder eingesammelt. Das Bettelgeld, das sie einnehmen dürfen sie nicht behalten sondern müssen es an ihre Bosse abgeben, die sich damit ein luxuriöses Leben finanzieren. Damit alles an Einnahmen auch wirklich dort landet, wo es hin soll, werden die Bettler bei ihrer Arbeit streng überwacht und müssen mit leidvollen Strafen rechnen, wenn sie versuchen, sich etwas in die eigene Tasche zu stecken.

Noch gerissener sind die vielen Hilfsorganisationen, die meist vor Weihnachten aus der Bresche springen und uns mit gezielten Werbespots daran erinnern, was wir das ganze Jahr über alles an Schuld auf uns geladen haben. Jetzt an den Feiertagen bieten sie uns dann die Gelegenheit, uns mit einer milden Gabe von dieser Schuld wieder rein zu waschen. Da es auch hier in erster Linie nicht darum geht, jemandem wirklich zu helfen, sondern sich von den lästigen Schuldgefühlen zu befreien, nehmen wir dabei billigend in Kauf, dass fast alle Spenden in den Taschen der Organisatoren landen und wenig bis gar nichts bei den Bedürftigen ankommt. Die Schuld funktioniert hier also sogar dann, wenn das Opfer nur gezeigt wird und ansonsten nichts mit dem ganzen Prozess zu tun hat.

Doch kehren wir noch einmal zu denn einfacheren und offensichtlicheren Mechanismen der Schuldzuweisung zurück. Das beliebteste und am leichtesten durchschaubare Mittel ist das Jammern. Bereits als kleine Kinder lernen wir, dass fast immer jemand kommt und sich um uns kümmert, wenn wir deutlich machen, dass es uns schlecht geht. Wir fallen hin und noch ehe wir den Boden erreicht haben, beginnen wir schon zu heulen. Sofort stürmt die Mutter herbei, tröstet uns und versorgt unsere Wunden, selbst dann, wenn wir überhaupt keine haben. Diese Strategie speichern wir, wenn sie als Kind erfolgreich war, tief in unserem Unterbewusstsein ab und kommen auch als erwachsener Mensch immer wieder darauf zurück. Jeder kennt derartige Situationen von sich selbst, in denen er ganz bewusst betont hat, wie schwer und leidvoll sein Schicksal gerade war. „Seht nur, wie sehr ich leide!“ „Mein Leben ist das schwerste von allen Leben auf der ganzen Welt!“ „Ich bin der einzige Mensch, der Probleme hat oder zumindest sind meine größer als die aller anderen zusammen!“

Fortsetzung folgt ...

 

Spruch des Tages: Schuldig im Sinne der Anklage

Höhenmeter: 270 m

Tagesetappe: 21 km

Gesamtstrecke: 11.293,27 km

Wetter: bewölkt aber trocken

Etappenziel: Zeltplatz zwischen den Weinfeldern, Veleshta, Mazedonien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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