Tag 639: Der See des Lebens

von Heiko Gärtner
08.10.2015 18:34 Uhr

 Fortsetzung von Tag 638:

Sie traf die Entscheidung jedenfalls nicht, sondern blieb einfach sitzen und hoffte, dass sie von irgendjemandem gerettet wurde. Das Einzige, was uns schließlich noch einfiel um zu irgendeinem Ergebnis zu kommen war, ihr ein Ultimatum zu stellen. Ich zückte eine Stoppuhr und gab ihr eine Minute Zeit, um entweder Ja oder Nein zu sagen. Sie wusste, dass es ernst wurde, doch noch immer stand sie da und sagte kein Wort. Die Sekunden verrannen, ohne dass eine Entscheidung fiel. Erst als der Countdown bereits unter 10 Sekunden gefallen war, brachte sie einen kurzen, zögerlichen Satz heraus.

Es war kein direktes Nein zum gemeinsamen Herdenleben, aber immerhin ein indirektes: „Ich würde gern dabei sein, aber eben nicht mit allen Konsequenzen. Ich kann einfach nicht zu mir stehen und das wird sich auch nicht ändern!“

Noch immer fühlte es sich nicht gut an, dies als Trennung hinzunehmen, aber wir wussten nicht was wir sonst hätten tun sollen. Wir waren mit unserem Latein am Ende und fühlten uns nun selbst so kraftlos, wie Paulina. So konnte es nicht weiter gehen und wenn sie irgendwo in dieser Region eine Möglichkeit hatte, um allein zurecht zu kommen, dann hier. Wir verabschiedeten uns noch einmal, dieses Mal jedoch mit dem Gefühl, dass es endgültig war. Dann zogen wir los. Anders als zuvor blieb Paulina nun auch nicht einfach reglos am Boden sitzen, sondern stand auf und schnallte sich ihren Wagen um.

„Was habt ihr jetzt vor?“ fragte sie, als wir gerade die Böschung hinauf zur Straße empor kraxelten.

„Wir gehen baden!“ eröffnete ihr Heiko den Entschluss, den wir wenige Sekunden zuvor gefasst hatten, „nach dem ganzen hin und her brauchen wir erst einmal eine Abkühlung!“

Wir stellten die Wagen auf dem Parkplatz ab und gingen hinunter zum Strand um unsere Gemüter im kalten Bergseewasser etwas herunter zu kühlen. Schließlich verließen Heiko und ich den See und setzten uns an den Strand um uns zu trocknen. Knapp zehn Meter von uns entfernt spielte ein kleiner Junge am Ufer und testete vorsichtig an, ob er nicht ins Wasser gehen konnte. Seine Mutter saß hinter ihm und unterhielt sich mit einer Freundin. Obwohl sie ihn in diesem Moment nicht überwachte, sondern ihn einfach spielen ließ, schaute er sich vor jedem Schritt zu ihr um, um zu überprüfen, wie sie auf seine Handlungen reagierte. Durfte er das, was er da tat auch wirklich tun? Oder verriet ihr Minenspiel, dass es ihr nicht recht war? Man konnte ihm an der Nasenspitze ablesen, wie gerne er in die kühlen Fluten gehüpft wäre, um ausgelassen im seichten Wasser herumzuplanschen, doch er traute sich nicht. Er fühlte sich beobachtet und kontrolliert und wusste, dass er wahrscheinlich Ärger bekommen würde, wenn er sich seinem Wunsch hingab. Ob es Paulina wohl gerade ähnlich ging? Auch sie hatte das Gefühl, permanent unter Beobachtung und unter Kontrolle zu stehen, so dass sie nicht so leben durfte, wie sie gerne wollte. Der Unterschied zwischen ihr und dem kleinen Jungen war nur, dass sie sich bereits ins Wasser gewagt hatte und nun versuchte, so leise und unauffällig zu schwimmen, damit niemandem auffiel, dass sie nicht mehr am Ufer saß.

Paulina selbst stand zu dieser Zeit mit den Füßen im Wasser. Sie hatte sich in ihr Halstuch gehüllt und schaute hinaus auf den schier unendlich großen See. Sein Wasser füllte das komplette Tal, so dass man das gegenüberliegende Ufer nicht sehen konnte. Es war von den Bergen verdeckt, doch dahinter reichte der See noch unschätzbar weit bis in eine unbekannte Ferne. Er war wie das Leben selbst. Er strahlte, glitzerte und glänzte, war unergründlich tief, weit und verbarg so viel, das es zu entdecken gab. War es wirklich der Sinn, bis zum eigenen Tod nur im knöcheltiefen Wasser zu stehen, wo es zwar keinerlei Risiken gab, wo man aber nie erfuhr was es bedeutete, wirklich schwimmen zu können? Natürlich war das Wasser hier durch die Sonne angenehm warm, ein bisschen so, als würde man sich in sein eigenes Pipi setzen. Doch wann immer man die Augen öffnete, sah man das Leben mit all seinen Geheimnissen, seinen Wundern, Abenteuern und Überraschungen vor sich, das zum Greifen nah lag, das man aber trotzdem nie erreichen würde. Nicht, wenn man sich nicht wirklich dafür entschied und es wagte so weit hineinzugehen, dass man den sicheren Boden unter den Füßen nicht mehr spüren konnte.

Paulina drehte sich um und kam auf uns zu. Sie setzte sich vor uns und fasste noch einmal zusammen, was sie bereits verstanden hatte: „Ich möchte mit euch unterwegs sein und ich möchte auch lernen! Ich sehe, dass wir viele Streits in der Vergangenheit hatten, die für jeden von uns unangenehm und anstrengend waren. Ich wünsche mir genauso, dass wir in Frieden und Harmonie leben können, wie ihr.“

„Das ist schön!“ sagte ich, „aber ich vermisse noch immer die Entscheidung. Du sagst das sehr nett und ich freue mich, dass das so ist, aber ich höre noch nicht heraus, ob du dich jetzt entschieden hast, dass du mit jeder Konsequenz zu deinem Leben stehst oder nicht.“

Sobald ich das ausgesprochen hatte, verlagerte sich unser Gespräch wieder auf Nebenschauplätze. Paulina betonte erneut, dass sie nicht wüsste, wie sie sich entwickeln soll und wie sie so viele Lebensthemen alle auf einmal lösen sollte. Am Ende blieb es bei der Nichtentscheidung. Nur dass wir dieses Mal noch irritierter waren als zuvor, denn eigentlich hatten wir ja bereits vor dem Schwimmen beschlossen, dass wir getrennte Wege gehen, wenn keine Entscheidung kam. Doch Paulina sah das offensichtlich anders. Ohne ein Wort zu sagen und ohne das Thema noch einmal anzuschneiden war sie mit uns ins Wasser gegangen, so als hoffte sie, dass sie sich nun lange genug tot gestellt hatte um die Situation zu überdauern. Mit ein bisschen Planschen und ein paar netten Worten musste man das Thema doch unter den Tisch fallen lassen können, so dass alles wieder gut war, ohne dass man ein Statement abgeben musste. Aber ganz so einfach war es leider nicht. Natürlich hätten wir das Problem an dieser Stelle unter den Teppich kehren können, doch es war nun mal kein Fliegenschiss sondern ein ordentlicher Elefantenhaufen und spätestens nach ein paar Stunden wäre der erste wieder darüber gestolpert, hätte den Teppich weggerissen und alles wäre wieder von Vorne losgegangen. Nur, dass sich einer dabei vielleicht noch heftig verletzt hätte.

Wir kehrten zum Parkplatz zurück und versuchten hier nun eine endgültige Entscheidung zu fällen. Wir würden in die eine Richtung gehen und Paulina konnte entweder mitkommen, dann aber ganz, oder sie konnte in die andere Richtung gehen um sich einen Platz im Hotel zu suchen und von dort aus neue Pläne für ihr weiteres Vorgehen ohne uns zu machen.

„Das wird mir alles zu viel!“ sagte sie, „Ich brauche einfach mehr Zeit! Ich schaffe das so nicht. Es ist zu viel auf einmal, was ich entscheiden soll und ich habe keine Ahnung, ob ich das packe! Ich bin einfach fertig!“

Es dauerte nicht lange, bis klar wurde, dass auch dieses Gespräch länger werden würde als erwartet und so wechselten wir noch einmal unseren Standort. Auf dem Parkplatz direkt neben der Hauptstraße konnte man einfach nicht in Ruhe reden.

Paulina fühlte sich von uns unter Druck gesetzt und wünschte sich mehr Zeit. Sie war ja bereit, ihre Schritte zu gehen, aber eben in ihrem Tempo. Sie könne eben nicht gleich von Anfang an perfekt sein. Das war natürlich verständlich und gut nachvollziehbar. Das Problem war nur, dass es darum ja auch gar nicht ging. Niemand erwartete, dass sie von nun an keine Fehler mehr machte oder dass sie jetzt die Lösung für alle Probleme haben müsste, damit es danach nie wieder einen Streit geben konnte. Niemand erwartete, dass sie bereits irgendwo angekommen sein musste. Es ging lediglich darum, sich zu entscheiden, überhaupt loszugehen. Und für diese Entscheidung hatte sie bereits mehr als ein Jahr Zeit gehabt, so dass wir allmehlig das Vertrauen verloren, dass sie überhaupt kommen konnte. Was fehlte denn noch, dass sie sich nicht jetzt, genau hier an Ort und Stelle für das Leben entscheiden konnte? Was brauchte sie?

Die Antwort war ein Schulterzucken, dem wieder eine Menge Rechtfertigungen und Abschweifungen folgten. Dieses Mal war ich es, der kurz vor der Explosion stand. Hatte sie in all den Gesprächen, die wir nun geführt hatten überhaupt nicht zugehört? Hatte sie nichts von dem verstanden, worum es uns eigentlich ging?

Fortsetzung folgt ...

 

Spruch des Tages: Das Leben ist wie ein Bergsee

Höhenmeter: 390 m

Tagesetappe: 29 km

Gesamtstrecke: 11.351,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld, kurz hinter Ljubanishta, Mazedonien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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