Tag 640: Hochzeit mit mir selbst

von Heiko Gärtner
08.10.2015 18:36 Uhr

Fortsetzung von Tag 639:

„Paulina!“ versuchte ich es noch einmal, „Es geht nicht darum, dass du irgendeine Antwort hast, oder dass wir von dir erwarten, dass du jetzt weißt, wie du deine Lebensthemen auflösen kannst. Es geht darum, dass du überhaupt erst einmal akzeptieren kannst, dass sie da sind. Lass doch einfach einmal die Frage zu. Das einzige, was wir von dir möchten ist, dass du zu dir selbst stehen kannst. Und das ist keine große Sache. Es ist nur ein Entschluss. Natürlich wirst du anschließend immer wieder merken, dass es nicht klappt, Das ist bei uns auch so. Aber dann ist es eine bewusste Sache, an der du arbeiten kannst. Momentan glaubst du, dass es etwas Schlechtes ist, zu sich zu stehen und deswegen kannst du nicht vorankommen. Du willst den Pfahl, der dich fesselt nicht aus dem Boden ziehen. Aber das ist das zentrale Thema. Du sprichst immer von so vielen Dingen, die alle auf einmal auf dich einprasseln und die dir zu viel werden. Klar gibt es eine Menge Lebensthemen, die irgendwann einmal aufgelöst werden wollen. Aber darum geht es jetzt ja gar nicht. Die Frage lautet: ‚Was braucht jetzt in diesem Moment Heilung?’ Und das ist nur die eine einzige Entscheidung. Es ist ein bisschen wie bei einer Hochzeit mit sich selbst: ‚Frau Paulina Panther, willst du dein Selbst lieben und ehren, in guten wie in schlechten Tagen, ihm beistehen und zu ihm halten, was immer auch passiert und was immer auch andere über dich denken mögen, bis dass der Tod euch wieder in eine andere Welt schickt? Ja oder nein?‘ Mehr ist es nicht. Das Ja löst nicht automatisch alle Probleme, aber es löst den zentralen Knoten, der verhindert, dass du in irgendeinem Bereich weiter kommen kannst. Der Verhindert, dass du dich immer wieder im Kreis drehst und der dir alle Kraft raubt, so dass du permanent glaubst, kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Das ist ja auch logisch. Du lebst ja nicht nur für dich, sondern gleich auch noch für jeden anderen mit, weil du glaubst, dass du für ihr Glück verantwortlich bist. ‚Wenn ich eine Entscheidung treffe, die einem anderen nicht gefällt, dann bin ich schuld, wenn es ihm schlecht geht!’ Das ist anstrengend! Wie willst du so jemals in deine Kraft kommen? Wie willst du so jemals aufmerksam werden? Wie willst du so Freude an etwas empfinden?“

Es half nichts. Paulina schloss die Augen und wirkte, als wollte sie meine Worte bewusst ausblenden.

„Ich weiß einfach nicht, wie ich das alles schaffen soll!“ wiederholte sie wütend und verzweifelt zugleich.

„Paulina, du musst nichts wissen!“ rief ich und verlor allmählich die Geduld, „Es geht jetzt in diesem Moment nur um eine einfache Entscheidung: ‚Willst du leben und zu dir stehen, egal was auch kommt, ja oder nein?‘“

„Aber ich…“ begann sie erneut einen Versuch, sich aus der Affäre zu ziehen.

„Ja oder Nein?“ rief ich nun lauter.

Wieder passierte nichts.

„JA oder NEIN!“ schrie ich diesmal und verlor dabei endgültig die Fassung. Im Nachhinein war ich Paulina für diese Erfahrung sehr dankbar, denn ich hatte es seit Jahren nicht mehr geschafft, meiner Wut wirklich freien Lauf zu lassen. Ähnlich wie sie, versuchte ja auch ich meine Gefühle meist zu unterdrücken. Nicht weil ich es wollte, sondern einfach weil sie von einem alten Glaubenssatz blockiert wurden. Paulina hatte es aber tatsächlich geschafft, mich so sehr zu reizen, dass ich diese Selbstzensur einfach vergaß und ungehemmt losschrie. Nicht lange und nicht viel, aber für einen kurzen Moment. Und für diesen kurzen Moment wachte sie aus ihrer Lethargie auf. Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht schuldig oder schlecht, weil ich wütend war, es fühlte sich ganz natürlich und richtig an und sorgte dafür, dass ich sofort wieder ruhig und klar wurde.

Leider führte es nicht zu einer Lösung des Problems. Paulina war noch immer in ihrer Schleife gefangen und stellte sich noch immer tot. Heute wissen wir, dass ihre Angst vor der Meinung anderer viel tiefer saß, als wir es zu diesem Zeitpunkt ahnen konnten. Sie konnte sich nicht entscheiden, auch wenn sie es noch so sehr wollte. Irgendetwas blockierte sie dabei und weder wir noch sie wussten, was es war. Für uns wirkte es, als würden wir mit einer Wand reden und für Paulina fühlte es sich an, als wollten wir sie von einer Klippe stürzen wollen, damit sie endlich fliegen lernen konnte.

Diese Situation hielt uns gefangen und langsam schien es, als würde es keinen Ausweg daraus geben. Paulina blieb in ihrem Zustand des Tot-Stellens und wir waren wie zwei Fliegen, die versuchten, sich irgendwie aus dem Netz ihrer Ungewissheit zu befreien. Wenn sie nicht verstanden hätte, worum es ging, wenn ihr die Zusammenhänge nicht klar gewesen wären oder wenn sie selbst nicht gewollt hätte, dann hätten wir es akzeptieren können. Doch so war uns die Situation unbegreiflich. Sie wollte den Weg gehen, sie wusste was sie aufhielt, sie wusste, wie sie sich befreien konnte, sie hatte verstanden, dass dieser Befreiungsschlag nötig war und jetzt anstand und sie wusste, dass es ihr danach besser gehen würde. Und doch konnte sie den Schritt nicht gehen. Was um Himmelswillen blockierte sie nur so sehr, dass sie bereit war, eher resigniert zu sterben, als einen winzigen Schritt in Richtung Leben zu gehen?

Paulina saß auf der Mauer hinter dem kleinen Strandcafé und Heiko und ich standen oder hockten neben ihr. Keiner wusste mehr weiter. Wie um uns die Verworrenheit der Situation noch einmal zu veranschaulichen wehte der Wind zwei kleine Plastiktüten immer wieder im Kreis um Paulinas Beine herum. Wenn das Universum einen Sinn für Sarkasmus hatte, dann lebte es diesen nun gerade aus.

Der Tag neigte sich bereits dem Ende und es würde nun nicht mehr lange dauern, bis es zu Dämmern begann. Wenn wir uns nicht irgendwie aus der Situation befreiten, dann wurde es heute ein Fastentag und wir mussten unsere Zelte wieder dort aufschlagen, wo wir sie abgebaut hatten. Wir starteten einen letzten Versuch und befragten dieses Mal unsere Muskeln, ob es gut und sinnvoll war, wenn wir weiter zu dritt unterwegs waren. Meine sagten Nein. Heikos sagten Nein. Und auch Paulinas sagten Nein. War es das jetzt also wirklich?

Gerade als wir gehen wollten fiel mir noch eine andere Option ein. Der Weg, den wir in den nächsten Tagen gehen wollten, führte in einem großen Bogen um die Hauptstraße herum, um dann gut 20km weiter unten wieder darauf zu stoßen. Es wäre also möglich, dass wir uns an dieser Stelle trennten, so das Paulina ein oder zwei weitere Tage hier am See bleiben konnte, um dann auf direktem Wege an der Hauptstraße entlang zu wandern, während Heiko und ich außen herum gingen. Dann konnten wir uns nach vier Tagen wieder treffen und schauen, was bis dahin passiert war. Paulina hatte Zeit um ihre Gedanken und Gefühle noch einmal in Ruhe für sich zu ordnen und konnte sich ganz in ihrem Tempo entscheiden. Außerdem wollte sie einen Text aufsetzen, in dem sie der Außenwelt erklärte, warum sie hier war und was sie eigentlich wollte. Sie hatte nun die Zeit und die Ruhe, um die Masken fallen zu lassen und sich als der Mensch zu zeigen, der sie wirklich war. Wenn sie das geschafft hatte, dann würde sich der Rest von alleine Lösen, da waren wir uns sicher. Und auch wir hatten die Möglichkeit, noch einmal in Ruhe über die vergangenen Wochen zu reflektieren und uns so selbst auch noch klarer zu werden, was wir wollten und was nicht. Unsere Muskeln sagten Ja zu dieser Idee und auch für uns fühlte es sich ganz gut an. Im Café fragte ich beim Kellner nach der genauen Kilometerzahl bis nach Prijepolje, der nächstgrößeren Stadt an der Hauptstraße und wir machten aus, dass wir uns in genau vier Tagen dort wieder treffen würden. Dann verabschiedeten wir uns zum 20. Mal, dieses Mal aber wirklich, dafür aber nur auf Zeit.

Heiko und ich sattelten auf und wanderten an der Hauptstraße entlang bis zu unserer Abzweigung. Es dämmerte bereits und dicke Gewitterwolken breiteten sich am Himmel aus. Bei den ersten Häusern machten wir eine kurze Rast und ich ging von Tür zu Tür um nach einem Abendessen zu fragen. Doch es war wie verhext. Die ganze Sache hatte mich so aufgewühlt und ich war noch immer so aufgebracht, dass ich einfach keinen sinnvollen Magnetismus aussenden konnte. Ich fühlte mich nicht in der Stimmung nach einer freundlichen Unterhaltung und weil ich das wusste, begann ich zu überkompensieren. Ich grinste wie ein Honigkuchenpferd und wackelte beim Sprechen mit dem Kopf wie ein Wackeldackel, in der Hoffnung, mich dadurch sympathischer zu machen. Stattdessen wirkte ich wie ein trauriger, grimmiger Clown. Einer von der Sorte, die einem Angst machen und die man so schnell wie möglich aus seiner Nähe vertreiben will. Dementsprechend war dann auch mein Sammelerfolg, der sich auf nichts weiter als eine Hand voll Knoblauchzehen erstreckte. Schließlich geriet ich an einen kahlköpfigen, bierbäuchigen Mann, der genauso frustriert war, wie ich in diesem Moment. Sein fleckiges Feinrippunterhemd bedeckte seine haarige Bierwampe nur zu etwa zwei Dritteln. Ansonsten trug er nichts weiter als eine ebenso fleckige Unterhose und ein paar ausgelatschte und löchrige Filzpantoffeln. Als er mir die Tür öffnete wusste ich sofort, dass er mir nichts geben würde, aber ich fragte dennoch. Er begleitete mich murrend in den Garten und machte keinen Hehl daraus, dass ich ihn gerade beim Schlafen oder noch wahrscheinlicher beim Onanieren gestört hatte. Als wir sein Gewächshaus erreicht hatte, aus dem uns die roten Tomaten und die reifen Paprika entgegenleuchteten, zeigte er auf ein Haus ganz oben am Berghang, das von unserem Standort etwa 6km entfernt war.

„Da kannste fragen!“ brummte er dann grimmig und fügte in noch unfreundlicherem Ton hinzu: „Und jetzt verpiss dich!“

Er sprach nur Serbisch und ich wechselte zu diesem Zeitpunkt ins Deutsche, aber wir verstanden uns trotzdem prächtig. Bis ich sein Grundstück verlassen hatte, tauschten wir eine reihe wütender Beleidigungen, Flüche und Beschimpfungen aus und dann ging jeder seiner Wege. In diesem Moment war mir das nicht bewusst gewesen, aber im Nachhinein wurde mir klar, dass ich den Berufsgriesgram genauso gebraucht hatte, wie er mich. Denn auf diese Weise konnten wir beide unsere angestauten Aggressionen abbauen, ohne dass dabei jemand zu Schaden kam.

Dennoch war ich deprimiert, weil ich mit nahezu leeren Händen zurückkehrte. Doch kaum hatte ich unseren Treffpunkt erreicht schlug meine Stimmung in eine freudige Überraschung um. Die erste Frau, die mich abgelehnt hatte, hatte Heiko auf der Straße sitzen sehen und irgendwann so ein schlechtes Gewissen bekommen, dass sie ihm eine Tüte mit Proviant zurechtgemacht hatte. Ihr Mann war dann zu Heiko herübergekommen und hatte sich mit ihm eine ganze Weile nett auf Französisch unterhalten.

Gut drei Kilometer weiter bauten wir unser Zelt auf einer Wiese auf. Neben uns gab es nun sogar ein komplettes Gemüsebeet, das wir im Notfall hätten heimlich plündern können. Doch das war nun überhaupt nicht mehr nötig. Wir richteten unsere Lager ein und ich begann zu kochen. Ans Arbeiten war heute nicht mehr zu denken, aber ich machte mir noch einige Notizen über die Geschehnisse des Tages, während das Wasser für den Reis vor sich hin kochte. Der Kocher kam nicht so richtig in die Puschen und so war ich erstaunt als sich das leise Zischen seiner Flamme plötzlich in ein lautes Brodeln verwandelte. Als ich aufblickte stellte ich jedoch fest, dass die Feuergeräusche nicht von unserem Kocher herrührten, sondern von dem Feld auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Der Bauer hatte es mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt. Jetzt stand es lichterloh in Flammen und spuckte eine dicke Rauchwolke in den Himmel, die glücklicherweise nicht in unsere Richtung wehte. Am Ende des Tages wurden wir also noch Zeugen einer großflächigen Brandrodung. Alles Alte wird zu Asche, damit etwas neues daraus entstehen kann. Ob uns das wohl etwas sagen sollte?

 

Spruch des Tages: Deine Worte mögen den guten Geschmack verletzen – Aber nicht mich! (Patric Jane, ‚The Mentalist’)

Höhenmeter: 130 m

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 11.363,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld, kurz hinter Gurras, Albanien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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