Tag 648: Hotelterror – Teil 2

von Heiko Gärtner
11.10.2015 00:29 Uhr

 Fortsetzung von Tag 648:

Kurz nachdem die Party vorbei war, kam auch Heiko in unser Zimmer zurück. Der steile Berg und einige weitere Ereignisse des Tages hatten in Paulina wieder vieles von ihrer unterdrückten Wut gelöst und jetzt, nachdem der Lärm vorbei war, hatte Heiko so sehr auf die schlechte Stimmung im Raum und auf Paulinas wütendes Schnauben lauschen müssen, dass er schon wieder nicht hatte schlafen können. Hätte er gewusst, dass sich die Nacht noch so entwickeln würde, wie sie sich entwickelt hatte, hätte er sich sicher anders entschieden. Vielleicht hätte er mit mir getauscht oder er hätte Paulina gebeten, sich zu mir ins Zimmer zu legen. Sicher aber hätte er sie nicht alleine gelassen.

Für einen Moment wirkte es, als wären die Ereignisse des Tages nun wirklich vorbei und als könnten wir endlich die Ruhe und den Schlaf finden, die wir uns nun bereits so lange herbeigesehnt hatten. In uns hämmerten die Bässe zwar noch immer nach, aber langsam begannen wir weg zu dösen.

Im Halbschlaf hörte ich plötzlich wieder Stimmen. Sie kamen wie aus einer anderen Welt und zunächst glaubte ich, dass ich sie mir bloß einbildete. Dann aber klopfte es an unserer Tür und noch ehe wir etwas antworten konnten standen Paulina und der Hotelbesitzer in unserem Zimmer. Heiko trug Ohropax und bekam von der Geschichte noch weniger mit als ich, der nur völlig verwirrt und schlaftrunken in seinem Bett saß. Der Mann hielt seine Geldbörse in der Hand und zog verschiedene Scheine daraus hervor, die er mir geben wollte, dann aber letztlich doch nicht gab. Er faselte irgendetwas von Bezahlen und Ausgleich und ich vermutete, dass er uns vielleicht für die Unannehmlichkeiten der Nacht entschädigen wollte. Dann machte es eher den Anschein, dass er stattdessen plötzlich auf die Idee gekommen war, uns doch noch Geld für die Übernachtung abzuknöpfen und schließlich waren sowohl er als auch ich so verwirrt, dass er einfach verschwand und sich in sein eigenes Zimmer begab.

„Was war los?“ fragte ich an Paulina gewandt.

Sie erzählte, dass der Mann plötzlich neben ihrem Bett gestanden hatte, das Geld in der Hand und kurz davor, sie anzutatschen. Sie wäre dann aufgestanden und an ihm vorbei zu uns gegangen. Das alles erzählte sie so beiläufig, dass ich mir in meinem schlaftrunkenen Zustand keine Gedanken darüber machte. Ich hielt es für ein Missverständnis und war überzeugt davon, dass er ein schlechtes Gewissen wegen der Party hatte, das er irgendwie bereinigen wollte. Erst am nächsten Morgen wurde mir klar, dass vielleicht viel mehr hinter der Sache steckte.

Paulina kehrte in ihr Zimmer zurück und versuchte wieder zu schlafen. Doch das Problem an der Sache war, dass sie keinen Zimmerschlüssel hatte. Sie konnte sich also nicht einschließen und damit auch nicht wirklich vor ungebetenen Besuchern schützen. Stattdessen schob sie einen kleinen Schrank vor die Tür und legte sich so in ihr Bett, dass sie den Zimmereingang jederzeit im Auge hatte. Sie war so voller Angst, dass sie keine Sekunde schlief und nur darauf wartete, bis die Sonne aufging.

Nachdem Paulina weg war, stand ich noch einmal auf, um aufs Klo zu gehen, wofür ich unser Zimmer verlassen und ans andere Ende des Flurs musste. Dabei sah ich, dass unser Hotelbesitzer im Zimmer neben uns auf dem Bett lag. Er war einfach umgekippt, so wie er war, lag auf dem Rücken und hatte es nicht einmal mehr geschafft, die Zimmertür zu schließen. Dies war das letzte Mal, das ich ihn zu Gesicht bekam. Am morgen hatte ein Zimmermädchen seine Tür verschlossen. Sein Schnarchen hörte man noch immer. Er schlief seinen Rausch aus und selbst wenn er wach gewesen wäre, hätte er wohl kaum den Mut gehabt, uns noch einmal unter die Augen zu treten.

Erst jetzt konnten wir noch einmal besprechen, was in der Nacht wirklich passiert war.

Paulina war ebenfalls bereits fast eingeschlafen gewesen, als sie plötzlich merkte, dass der betrunkene Mann neben ihr stand. Er hatte seine Hand ausgestreckt und versuchte sie zu berühren. Als sie aufschreckte wich er zurück und versuchte ihr Geld zu geben. Ob es als eine Art Bezahlung für sexuelle Gefälligkeiten gedacht war oder ob er wirklich nur versucht hatte, sie zu wecken um ihr eine Entschädigung für die schlaflose Nacht zu geben, wissen wir natürlich nicht mit Gewissheit. Vielleicht hatte er auch vor gehabt sich bei mir zu entschuldigen, hatte dann festgestellt, dass eine Frau im Bett lag und war dann auf die Idee gekommen, seinen Plan noch einmal zu ändern um den Party-Abend noch mit einem Highlight zu beenden. Wir wissen es nicht und wir werden es wohl auch nie erfahren. Aber darum geht es im Grunde auch gar nicht. Wichtiger und entscheidender ist, wie Paulina die Situation wahrgenommen hat und wie sie darauf reagierte. In ihren Augen war es klar, dass ihr der Kerl an die Wäsche wollte und dass es sich bei dem Betrunkenen um einen potentiellen Vergewaltiger handelte. Und selbst wenn er es vielleicht nicht vorgehabt hatte, so ließ sich doch nicht leugnen, dass sie ihn förmlich dazu eingeladen hatte. Er war wie gesagt ein kleiner, schüchterner Wurm, der nüchtern einer Frau nicht einmal in die Augen sehen konnte. Es wäre also kein Problem gewesen, ihn mit einem einzigen Schlag außer Gefecht zu setzen oder ihn mit einem lauten Schrei zu vertreiben. Doch Paulina tat nichts davon, nicht weil sie es nicht gekonnt hätte, sondern weil sie glaubte, es nicht zu dürfen. Obwohl sie sich bedroht fühlte, hatte sie noch immer die Unsicherheit im Kopf, ob sie wirklich das Recht dazu hatte, zu sich zu stehen und sich zu verteidigen. Vielleicht war es ja nur ein Missverständnis und er wollte überhaupt nichts böses. Vielleicht! Aber selbst wenn, dann hatte er nachts um vier und in komplett betrunkenem Zustand nicht das geringste im Zimmer eines Gastes zu suchen. Erst recht nicht im Zimmer eines weiblichen Gastes. Selbst wenn er aus Trunkenheit einfach nur die falsche Tür erwischt hatte, wäre dies allein Grund genug gewesen um ihn windelweich zu schlagen, wenn sie sich deshalb bedroht oder angemacht fühlte. Wenn es wirklich ein Missverständnis war, dann konnte man sich im Anschluss ja noch dafür entschuldigen, aber die Sicherheit ging an dieser Stelle vor. Nicht aber für Paulina. Sie bekam mit dem nächtlichen Besucher noch einmal deutlich ihr zentrales Lebensthema gespiegelt. Lieber verletze ich mich selbst, als das ich jemand anderem auf die Füße treten könnte. Selbst dann, wenn es sich bei diesem anderen um einen mutmaßlichen Vergewaltiger handelt. Die Unsicherheit, die in ihr Herrschte, war sogar so groß, dass sie nicht einmal uns gegenüber von ihrer Angst erzählen konnte. Obwohl sie vollkommen in Panik gewesen war, hatte sie die Geschichte in der Nacht so rübergebracht, als wäre alles in Ordnung. Wenn sie nur für eine Sekunde erwähnt hätte, dass sie Angst vor einem erneuten Übergriff hatte und dass sie deshalb nicht alleine in einem Zimmer schlafen wollte, das sie nicht abschließen konnte, dann hätten wir mit Leichtigkeit etwas unternehmen können. Tatsächlich hatte sie ja sogar davon berichtetet, nur eben ohne jedes Gefühl von Dringlichkeit, so dass ihre eigentliche Botschaft nicht bei uns ankam.

Doch noch beunruhigender als das, was passiert war, war der Umstand an sich, dass überhaupt etwas derartiges passiert war. Es zeigte deutlich, dass Paulina die Entscheidung, die sie treffen sollte, noch immer nicht getroffen hatte. Sie strahlte noch immer eine Unsicherheit und eine Opferhaltung aus, die niemandem entgehen konnte. Der Polizist am Nachmittag war bereits der erste Bote gewesen. Der betrunkene Hotelmann war dann noch einen Schritt weiter gegangen. Er war ein möglicher Vergewaltiger, aber gleichzeitig auch der harmloseste, den sie hatte bekommen können. Er selbst war ein Opfertyp gewesen, jemand, der so viel Unsicherheit in sich trug, dass jeder auf ihm herumhackte und der es sich sogar gefallen ließ, dass seine angeblichen Kumpel sein Hotel in den Ruin trieben, indem sie alle Gäste verscheuchten. Er war ein Täter gewesen, den man mit einem Fingerschnipsen in die Flucht jagen konnte und somit war er das sanftmöglichste Angebot der Schöpfung, um Paulina die Notwendigkeit des Lernens vor Augen zu führen. Was also würde als nächstes kommen, wenn sie dieses Angebot nicht wahrnahm? Wenn sie weiterhin stur blieb und an ihrer Taktik mit dem Todstellen festhielt? Wenn sie nicht lernte, zu sich zu stehen und klare Grenzen zu fordern? Der nächste Spiegelpartner war vielleicht nicht mehr so ein Waschlappen und damit stieg auch die Gefahr, für Paulina ebenso wie für uns.

Noch ahnten wir nicht, wie schnell sich diese böse Vorahnung bereits in eine Gewissheit.

 

 

Spruch des Tages: In einem Land voller Wölfe sollte man lieber nicht so tun, als wäre man ein Schaf.

Höhenmeter: 720 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 11.550,27 km

Wetter: überwiegend sonnig

Etappenziel: Zeltplatz auf einer Wiese, kurz vor 44012 Geroplatanos, Griechenland

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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