Tag 654: Innere Sicherheit – Teil 2

von Heiko Gärtner
17.10.2015 19:52 Uhr

Fortsetzung von Tag 653:

Nach dieser Begegnung zogen wir es vor, unser Lager weit außerhalb und gut versteckt im Wald zu errichten. Wir fanden einen Platz, der so geschützt lag, dass man uns von keiner Seite aus sehen konnte, solange man nicht einfach querfeldein durch das Unterholz lief. Da wir weder ausreichend Wasser noch genügend Nahrung hatten zog ich noch einmal in eine andere Richtung los um dort mein Glück zu versuchen. Ich traf dabei auf einen Jungen, der auf einem Motorrad, den Berg in Richtung einiger Häuser herunter fuhr. Den Motor hatte er dabei ausgeschaltet, so dass er sich rein von der Schwerkraft antreiben lies. Er und seine Familie waren das absolute Gegenteil von den Menschen, die uns bislang begegnet waren. Sie waren herzlich, zuvorkommend und großzügig. So sehr, dass ich mich dazu hinreißen ließ, mich noch kurz mit dem Vater auf eine Bank zu setzen und einen Saft zu trinken, obwohl mein Bauchgefühl mir eigentlich davon abriet. Dies war dann wohl meine Lektion des Tages in Sachen Klarheit und Direktheit, denn zum einen bekam ich einen Saft, der so wenig Früchte und so viel Zucker enthielt, dass sich mir dabei die Zehennägel hoch rollten und zum anderen kamen plötzlich wieder aus allen Himmelsrichtungen die Menschen angeströmt, die mich wie ein kleines Äffchen im Zoo begutachten wollten. Einige der Jungs waren dufte Kerle und es machte für einen kurzen Moment auch Spaß, ihnen einiges über unser Projekt zu erzählen. Aber wirklich nährreich war es nicht und ich spürte, dass ich nicht mit ganzem Herzen dabei war.

Als ich mich schließlich verabschiedete setzen zwei der kleinen Kinder es sich in den Kopf, mich noch bis zu unserem Lager zurück zu begleiten. Das wollte ich natürlich auf jeden Fall verhindern, denn es machte keinen Sinn, sich einen komplett versteckten Platz zu suchen, wenn man dann Kinder dorthin brachte, die innerhalb von Sekunden all ihren Freunden bescheid geben würden. Mehrfach versuchte ich die Jungs abzuschütteln, ihnen klar zu machen, dass ich alleine sehr gut zurecht kam und keine Begleitung brauchte. Doch obwohl sie mich verstanden ließen sie einfach nicht locker. Jetzt war ich es, der das Problem hatte, sich nicht zu trauen, unhöflich zu werden, denn die Kinder gehörten immerhin über ein paar Ecken zu unseren Gastgebern. Als wir das Camp schon fast erreicht hatten, wurde ich dann doch etwas grantig, nicht viel, nur so weit, dass sie stehen blieben und mir ein bisschen Vorsprung gaben. Dann verschwand ich seitlich im Wald und bewegte mich über einige Umwege auf unser Camp zu.

Bereits durch die Bäume hindurch hörte ich einige Rufe und Schreie, die ich Heiko und Paulina zuordnen konnte. Als ich sie dann erblickte, stellte ich fest, dass sie in einen ausgelassenen Kampf verwickelt waren. Beide waren nur halb bekleidet, da es das Ziel des Trainings war, den anderen irgendwo am Körper mit der flachen Hand zu erwischen, so dass es zwiebelte, aber keine Verletzungen gab.

„Psssst!“ machte ich, „Ihr müsst mal einen Moment ruhig sein, sonst haben wir gleich eine ganze Bande von Kindern hier!“

Irgendwie war es schon seltsam, sich hier im Wald vor zwei sechsjährigen zu verstecken, wie Kaninchen vor einer Schlange. Wir warteten ein paar Minuten, dann erklärten wir die Luft für rein uns das Training ging weiter.

„Du kannst gleich dein T-Shirt ausziehen und mitmachen!“ forderte mich Heiko auf.

Im ersten Moment war ich alles andere als begeistert. Am liebsten hätte ich mich gerade nur irgendwo hingelegt uns ein bisschen gedöst. Doch als ich erst einmal dabei war, musste ich feststellen, dass es mir sofort Spaß machte.

Die nächste Übung war der Kampf um den Griff. Als Heiko mir vor ein paar Jahren zum ersten Mal davon erzählt hat, hatte ich das abstrakte Bild zweier Menschen im Kopf, die sich um einen Türknauf prügelten. Erst jetzt verstand ich, dass mit „Griff“ etwas vollkommen anderes gemeint war. Es ging darum, die Arme des Gegners so zu greifen, dass man die Oberhand gewann und den anderen immer mehr in die Reglosigkeit zwang. Im Nachhinein betrachtet macht das auch irgendwie mehr Sinn. Auch hierbei ging es wieder darum, die Kraft des Gegners zu nutzen, so dass man ihn mit seinem eigenen Angriff ausschaltete, ohne sich dabei übermäßig anzustrengen. Natürlich brauchte man dafür jede Menge Wachsamkeit und man durfte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Mir fiel auf, dass ich schon relativ gut zurecht kam und auch den Fokus halten konnte, solange mein Gegner sich nicht schneller als ein bestimmtes Tempo X bewegte. Mit Paulina klappte das ganz gut und auch wenn Heiko normal kämpfte konnte ich nun schon ein paar Treffer landen. Da er jedoch meine Schwäche kannte, neigte er dazu, auf mich zuzugehen, mich entschlossen anzuschauen und dabei wild mit den Armen zu wedeln, so dass ich vollkommen den Überblick verlor.

Das zweite Auffällige war auch dieses Mal wieder die Aggressivität, die sowohl in mir als auch in Paulina steckte. Durch sie ließen wir uns beide zu schnell aus dem Konzept bringen und wir neigten dazu, die Kontrolle zu verlieren und blindlings nach vorne zu preschen. Dadurch verursachte ich bei Paulina einmal einen recht heftigen Sturz der glimpflich ausging, aber nicht so hätte ausgehen müssen, wenn es dumm gekommen wäre. Sie hingegen riss Heiko in einem ähnlichen Rausch ein ordentliches Stück Haut aus der Hand. Selbstkontrolle und das Loslassen der inneren Wut sind also noch immer zwei Themen, die wir beide auf der Agenda haben.

Den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, uns jeweils an unsere Texte zu setzen. Paulina begann damit ein Statement zu schreiben, in dem sie noch einmal offenlegen wollte, warum sie hier war, was sie wollte und wer sie war. Sie wollte sich nicht mehr verstecken, sondern nach außen treten. Die Entscheidung war gefallen. Nun war sie wirklich mit ganzem Herzen bei uns. Sie wollte nicht mehr schauspielern und es sollte auch nichts mehr geben, das sie hinterm Berg hielt. Den ganzen Tag schon war ihr aufgefallen, dass die unglaubliche Schwere, die sie seit Reisebeginn immerzu in ihrem Muskeln gespürt hat, aus ihrem Körper verschwunden war. Dies war auch der Grund dafür, warum sie heute so viel mehr Kraft hatte und warum ihr das Mithalten um so vieles leichter gefallen war. Nur das Atmen fiel ihr heute bedeutend schwerer. Es war, als hätte sich die ganze Last, die zuvor in ihrem Körper verteil war, nun zu einem einzigen schweren Klumpen zusammengeballt, der wie ein schwerer Stein auf ihrer Lunge lag. Innerlich hatte sie ihre Entscheidung getroffen, jetzt musste sie nur noch raus! Sie musste sie sich von der Seele schreien oder zumindest schreiben. Alle Welt sollte erfahren, dass Paulina nun kein Opferlamm mehr war, sondern eine Frau, die sich für das Leben entschieden hatte. Mit allem, was dazu gehörte, auch wenn es manchmal vielleicht nicht leicht war und wenn es möglicherweise bedeutete, dass sie den Kontakt zu Menschen verlor, die ihr wichtig waren. Ihr Statement lag nun wie ein dicker Fels vor der Tür in die Freiheit und die musste ihn nur noch anschieben, damit er nach vorne rollen und die Ketten sprengen konnte. Die Vorarbeit war getan, jetzt fehlte nur noch dieser eine Schritt, um loszulegen. Es war nicht ein Schritt bis ans Ziel, aber ein Schritt bis zum Start. Ein einziger Schritt, um wirklich mit dem Lernen beginnen zu können.

Und während ich das schreibe wird mir nun auch wieder klar, warum wir am Morgen geglaubt hatten, Paulina hätte sich entschieden. Weil es stimmte. Für diesen einen Moment hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Sie war von der 100sten Gefängnismauer gesprungen und musste nun nur noch gehen und schauen, wie sie in der Freiheit zurecht kam. Von nun an standen alle Türen offen.

„Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, wirklich etwas verstanden zu haben!“ erzählte sie begeistert, als wir abends im Zelt zusammensaßen. „Als ihr mich gestern angeschrien habt, war es vollkommen anders als sonst. Ich habe mich nicht angegriffen oder verletzt gefühlt. Ich wusste, dass es ernst war und dass es euch nicht darum ging, mir weh zu tun, sondern mich wachzurütteln. Und es hat geklappt! Ich bin wirklich aufgewacht. Ihr wart wie eine Alarmsirene, die mich davor bewahrt hat, mein Leben zu verschlafen. Dafür danke ich euch! Ich habe immer gedacht, dass ich doch total gut alleine zurecht komme und ich habe nie verstanden, warum ihr mir so oft gesagt habt, ich sei eine Idiotin. Ich dachte, ihr wollt mich einfach schlecht machen und auf mir herum hacken. Erst jetzt merke ich, dass meine ganzen Überlebensstrategien nicht funktionieren und hier draußen auch gar nicht funktionieren können. Es waren Seifenblasenstrategien, die funktioniert haben, solange ich in einer Seifenblase lebte. Hier aber sind sie tödlich. Das habe ich gestern begriffen. Ich merke jetzt, dass eure Hinweise, unsere Gespräche und selbst das Laut werden nicht böse gemeint war, sondern dass es notwendig war, damit ich mich hier zurecht finde. Ich möchte euch nur Danke sagen dafür, dass ihr mich nicht aufgegeben habt!“

Da war sie! Zum ersten Mal auf unserer gemeinsamen Reise war sie aus ihrem Gesellschaftsschlaf erwacht. Sie war wirklich bei uns und wir konnten nun wieder sehen, warum wir sie vor einem Jahr zu uns eingeladen hatten. Sie war ein wunderbarer Mensch in dem eine großartige Seele steckte, die wirklich und wahrhaftig nach außen strahlte und die mit ihrer Begeisterung auch die Welt um sich herum in Flammen setzen konnte. Das Feuer in ihrem Herzen brannte wieder und vielleicht brannte es höher als je zuvor.

Bei den Menschen in unserem Kulturkreis gibt es eine weit verbreitete Tradition. Wenn morgens in der Früh der Wecker klingelt und einen aus dem wohligen Schlaf reißt, dann ist man für einen Moment hell wach. Doch fast jeder Wecker verfügt über eine Snoozle-Taste, die ihn wieder zum Verstummen bringt. „Nur noch 5 Minuten!“ sagen wir uns, drehen uns noch einmal um und kuscheln uns wieder in die warmen Kissen. Meist klingelt der Wecker dann erneut und bringt einen wirklich zum Aufstehen. Manchmal aber erwischt man nicht die Snoozle-Taste, sondern den Ausschalter. Wenn das passiert schlafen wir wieder ein, ohne es wirklich zu merken. Wir schlafen und schlafen und schlafen…

Spruch des Tages: Denn du bist einzigartig und ein wunderbarer Mensch, strecke deine Hände dem Lebensball entgegen und fange ihn auf.... (Unbekannt)

 

Höhenmeter: 40 m

Tagesetappe: 22 km

Gesamtstrecke: 11.661,27 km

Wetter: erst neblig, dann sonnig

Etappenziel: Zeltplatz im Orangenfeld neben Olivenbäumen, 46100 Ragio, Griechenland

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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