Tag 656: Der Tara-Canyon

von Heiko Gärtner
17.10.2015 20:31 Uhr

Auch am nächsten Morgen war die Stimmung bei Paulina noch immer getrübt. Von einer Erleichterung war nicht das Geringste zu spüren und sogar das Wetter schien uns das noch einmal verdeutlichen zu wollen. Die Berge verschwanden fast im dichten Dunst und der Himmel bestand aus einem tristen einheitsgrau, bei dem man sich eine Sonne nicht einmal mehr vorstellen konnte. Die letzten paar Kilometer bis zur Brücke waren schnell erledigt und schon standen wir vor einer der größten Touristenattraktionen, die Montenegro zu bieten hatte.

Kaum hatten wir die Tara-Brücke jedoch erreicht, stellten wir fest, dass sie bei weitem nicht so spektakulär war, wie sie uns angepriesen wurde. Es war eine Brücke über einen Fluss, nicht mehr und nicht weniger. Klar, der Fluss lag ziemlich weit unterhalb der Brücke, aber dann doch auch wieder nicht so weit, dass es einen wirklich beeindruckte. Es war nett und wären wir zufällig über diese Brücke gestolpert, hätte sie uns sicher begeistert, aber ihrem Ruf wurde sie bei weitem nicht gerecht. Vor allem wenn ich heute noch einmal an unsere gesamte Zeit in Montenegro zurückdenke, dann kann ich zweifelsfrei sagen, dass es viele und zwar wirklich viele Flecken gab, die einen vollkommen aus den Socken schlugen. Das Land hat ohne jede Frage einiges zu bieten und es gibt in Europa wahrscheinlich nur wenige Regionen in denen sich die Natur so gigantisch und atemberaubend präsentiert wie in diesem Kleinstaat. Aber nur weil etwas, das Zweitgrößte der Welt ist, heißt das noch nicht, dass es deshalb auch besonders ist. Später sollten wir noch durch einige Canyons kommen, die wesentlich kleiner, dafür aber auch wesentlich schöner und beeindruckender waren. Doch zurück zur Tara Brücke.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Canyons erwartete uns natürlich das, was wir bereits seit gestern morgen auf uns zukommen sahen. Die Straße führte in ebensolchen steilen Serpentinen wieder den Berg hinauf, wie sie zuvor hinab geführt hatte. Es dauerte nicht lange und Paulina war aus unserem Sichtfeld verschwunden. Dafür zog plötzlich eine Französin mit ihrem vollgepackten Fahrrad an uns vorbei, als wäre die Steigung nur eine Illusion. Dass sie Französin war erkannten wir an der großartigen Eigenschaft der meisten Franzosen, jeden Menschen überall auf der Welt mit „Bonjour“ zu grüßen.

Einige Minuten später hörte ich gut fünfzig Meter hinter mir das leise Knacken einer Gangschaltung. Als ich mich umdrehte, sah ich einen zweiten Radfahrer, dieses Mal einen Mann, der, wenn man sich seine Ausrüstung betrachtete, zweifelsfrei zu der Frau gehörte. Auch er überholte uns und grüßte uns freundlich. Hinter der nächsten Biegung wartete er dann jedoch auf uns. Er brachte es doch nicht übers Herz, einfach weiter zu fahren und wenigstens kurz herausgefunden zu haben, wer wir waren und was wir machten. Er selbst war mit seiner Frau auch schon seit einer Ewigkeit unterwegs und hatte große Teile Europas bereist. Die beiden wollten nun ebenfalls in unsere Richtung und sich nach Montenegro auch Mazedonien und Albanien ansehen.

Als wir schließlich den Gipfel erreichten waren wir erschöpft und durchgeschwitzt. Auf der einen Seite freuten wir uns daher ein bisschen darüber, dass wir auf Paulina warten mussten und so einen Grund hatten um uns auszuruhen. Auf der anderen Seite mussten wir jedoch feststellen, dass es hier oben kalt und windig war und dass die Pause schon sehr bald ihren Erholungswert verlor. Als Paulina schließlich auftauchte waren wir so weit, dass wir nur noch aufspringen und weitergehen wollten, um uns wieder warm zu laufen. Das war natürlich nicht ganz das, was sie sich erhofft hatte, aber viel mehr als eine kurze Apfelpause konnten wir ihr nicht gönnen. Zum Glück ging es von nun an eben weiter und teilweise sogar leicht bergab. Hinter dem Canyon erwartete uns wieder ein Hochplateau dessen Anblick uns bei weitem mehr beeindruckte, als der Canyon selbst. Trotz der gemeisterten Anstrengung mussten wir noch etwa sechs Kilometer weiter wandern, bis wir zu einem kleinen Dorf kamen, hinter dem wir unser Zelt aufschlagen konnten.

Am Abend kamen wir durch eine Frage von Paulina noch einmal auf einen wichtigen Schluss.

„Wenn ihr so über Lebensbestimmung und Lebensweg sprecht,“ sagte sie, „dann klingt das immer so, als hätte man überhaupt keine Entscheidungsgewalt. Entweder ich lebe so, wie es für mich bestimmt ist, oder ich werde krank oder unglücklich. Aber es kann doch nicht nur einen Weg geben! Man hat doch immer eine Wahl, oder etwa nicht?“

„Ja und nein!“ meinte Heiko nach kurzer Überlegung, „Die Sache ist, dass wir wirklich nur einen einzigen Weg in unserem Herzen tragen, den wir gehen müssen, wenn wir ein glückliches und zufriedenes Leben haben wollen. Natürlich können wir uns jederzeit für etwas anderes entscheiden und fast jeder Mensch tut das ja auch, aber es wird uns nicht heilen, nicht beflügeln, nicht glücklich machen und nicht erfüllen. Natürlich kannst du dir aussuchen, ob du gerne Angeln gehen willst oder lieber Tennis spielst oder eine Pianistin wirst. Aber du kannst dir nicht aussuchen, was dir davon wirklich spaß macht. Du entscheidest nicht, ob dich etwas begeistert, beflügelt oder anmacht. Du spürst es. Du sagst deinem Herzen nicht: ‚Herz, was hältst du davon, wenn wir jetzt total begeisterte Fallschirmspringer werden. Dein Herz sagt dir, ob das zu deinem Weg gehört oder nicht. Das heißt natürlich nicht, dass uns alles vorbestimmt ist und das wir kein Mitbestimmungsrecht für unser eigenes Leben haben. Wir können unseren Weg so gestalten wie wir es möchten. Du kannst es dir ein bisschen so vorstellen, als würdest du in einem Boot auf dem Ozean sitzen. Dein Leben beginnt an einem Ufer und deine Lebensmission ist es, das andere Ufer zu erreichen. Ob du nun mit einem Schnellboot oder mit einem kleinen Segelschiff übersetzt, ob du auf gerader Linie fährst oder Schlangenlinien machst, ob du die Inseln, die dazwischen liegen, links oder rechts herum umfährst oder ob du aussteigst und dein Schiff darüber trägst, das alles ist dir überlassen. Das einzige, was nicht geht ist, dass du den Kurs änderst und in eine Richtung schipperst, die dich nicht an dein Zielufer bringt. Ab diesem Moment wird deine eigene Seele, die nichts anderes ist als ein Teil der Schöpfung, also letztlich ein Teil von Gott, organisatorisch eingreifen und dich mit gezielten Hinweisen wieder auf Kurs bringen. Es gibt also keine Entscheidung, ob du diesen oder jenen Weg gehen willst, es gibt nur die Entscheidung, ob du deinen einen, für dich vorgesehenen Weg einschlagen willst oder nicht. Beides ist vollkommen in Ordnung, aber im zweiten Fall wirst du nicht umhinkommen, dass du automatisch Krankheiten und Leid in dein Leben ziehst, die dir als Wegweiser dienen, damit du vielleicht doch noch deinen Lebensweg einschlägst.“

Der nächste Morgen war noch immer etwas bedeckt, wirkte aber schon wieder etwas lockerer. Wir verließen den kleinen Kiefernwald, der uns als Zufluchtsstätte gedient hatte und wanderten weiter durch eine westernartige Steppe.Als wir dann auch noch an einem alten, verfallenen Friedhof mit schiefen Grabsteinen mitten in der Pampa vorbei kamen, konnten wir uns nicht mehr bremsen. Es wäre einfach eine Verschwendung gewesen, durch diese Kulisse zu wandern, ohne Cowboy zu spielen, vor allem, wo wir diese großartige Knarre dabei hatten, die wir Paulina geschenkt hatten. Abwechselnd maskierten sich Heiko und ich mit unseren Halstüchern im Stil der Daltens von Lucky Luke und positionierten uns wie bei einem Duell. Ihr glaubt gar nicht wie westernmäßig man sich dabei vorkommt, wenn man in so einer Steppe steht.

Der Eindruck, im wilden Westen unterwegs zu sein, wurde kurz darauf noch einmal verstärkt als uns ein Traktor entgegen kam, der von zwei kleinen Jungs gesteuert wurde. Der Traktor selbst war natürlich nicht sonderlich wildwestlich, aber die Tatsache, dass der Fahrer gerade einmal sieben oder acht Jahre alt war und dass er mit einem Affenzahn über die staubige Landstraße heizte, hatte definitiv etwas wildes.

Die Steppe zog sich noch über viele Kilometer hin. Wir kamen an zwei kleinen Seen vorbei, die uns bei den aktuellen Temperaturen jedoch nicht zum Baden einluden. Schließlich kamen die Berge auf beiden Seiten wieder näher und verwandelten die Ebene erneut in einen Canyon. Hinter einem kleinen Dorf am Eingang der Talenge bauten wir unsere Zelte auf. Bei meinem Rundgang durch den Ort stellte ich fest, dass das Armutsgefühl der Menschen hier wieder deutlich größer war, als in den Dörfern zuvor, weshalb es schwerer war, ausreichend zum Essen aufzutreiben. Verhungern mussten wir jedoch nicht.

Nachmittags klärte sich der Himmel dann sogar noch etwas auf und ließ die Sonne hindurch, kurz bevor diese unterging. Dann wurde es saukalt. So kalt, dass es uns richtig unangenehm wurde. Das Problem, dass uns schon seit einiger Zeit verfolgte und was uns auch noch immer verfolgt ist, dass die Daunen in unseren Schlafsäcken fast vollständig verklumpt sind. Daunen sind ein super Isolationsmaterial, doch damit sie funktionieren müssen sie trocken sein und die Gelegenheit bekommen, sich immer wieder aufzuplustern. Zuhause schüttelt man sein Bettzeug daher regelmäßig aus. Das machten wir zwar auch mit unseren Schlafsäcken, doch die meiste Zeit des Tages verbrachten sie zusammengeknautscht irgendwo tief im inneren unserer Wagen. Außerdem konnten wir sie nun schon seit fast einem Jahr nicht mehr waschen und seit wir keine Indoorschlafplätze mehr hatten waren sie fast immer feucht oder klamm. So großartig die Schlafsäcke auch sind, für den Dauereinsatz ohne Unterbrechung im Außenbereich sind sie leider nicht geeignet. Das bedeutete, dass wir teilweise nur noch unter einen doppellagigen Stofftuch schliefen, während sie Federn als kleine Knäule links und rechts von uns herunter fielen. Das klingt zwar irgendwie ganz lustig, wärmt aber nicht besonders und so kam Heiko an diesem Abend zum ersten Mal seit langem auf die Idee, ein Lagerfeuer zu machen.

Das letzte war nun schon so lange her, dass wir fast vergessen hatten, wie schön die Stimmung war, die davon ausging. Ein Feuer im Wald, das war früher alles gewesen, was wir brauchten, um uns zuhause zu fühlen. Und daran hatte sich noch immer nichts geändert.

Anders als sonst nahmen wir unser Abendessen dieses Mal also nicht im Zelt sondern am Feuer ein und konnten es dabei sogar noch mit ein paar dampfenden Glutkartoffeln bereichern. Kurz bevor die Sonne unterging bekamen wir dann sogar noch Besuch, den wir verpasst hätten, wenn wir uns vorzeitig in unsere federlosen Schlafsäcke zurückgezogen hätten. Ein kleines Mauswiesel tollte direkt vor uns über die Wiese. Noch nie zuvor hatte ich eines in freier Natur gesehen und schon gar nicht so nah, so deutlich und so lange. Der kleine Kerl hüpfte und tollte und hatte dabei offensichtlich so viel Freude, dass wir alle drei nicht umhinkamen, uns mit ihm zu freuen. Er war der Meister der Leichtigkeit und des Frohsinns und wenn er eine Botschaft für uns hatte, dann war es sicher die, dass auch wir wieder viel mehr Lockerheit und Leichtigkeit in unser Leben lassen durften.

Spruch des Tages: Das Größte ist doch nicht immer das Beste.

 

Höhenmeter: 5 m

Tagesetappe: 10 km + 268km per Fähre

Gesamtstrecke: 11.691,27 km

Wetter: erst neblig, dann sonnig

Etappenziel: Oratorio Don Bosco, 72100 Brindisi, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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