Tag 657: Wer kann da schon Nein sagen?

von Heiko Gärtner
23.10.2015 17:28 Uhr

Langsam fühlten wir uns vom Wetter ein bisschen verarscht. Fast den ganzen letzten Tag war es bewölkt gewesen, so dass wir nahezu keine Sonne abbekommen hatten. Dann am Abend hatte sich der Himmel aufgeklart, so dass die Nacht sternenklar und bitterkalt wurde. Und nun am nächsten Morgen war alles wieder wolkenverhangen. Was sollte das denn?

So als hätte der Wettergott unseren Beschwerdeeinwand gehört und ernst genommen, dauerte es jedoch nicht lange und die Sonne kam hinter den immer dünner werdenden Wolken hervor. Tatsächlich war es auch eigentlich nicht der Wettergott, der diese Wolken produziert hatte, sondern viel mehr der Mensch. Schon seit Bosnien war uns aufgefallen, dass es hier verdammt viele Chem-Trail-Wolken gibt. Fast täglich wird der Himmel von einem Gitternetz aus Kondensstreifen durchzogen, die so lang und beständig sind, dass sie einfach nicht natürlich sein können. Im Laufe der Stunden fächern sie dann immer weiter auf ohne dabei jedoch schwächer zu werden, wie es sich für einfache Kondensstreifen gehören würde. Und schließlich bilden sich dann großflächige Schleierwolken, die am Ende den ganzen Himmel bedecken. Ihre komplette Struktur ist dabei jedoch bis zum Schluss noch immer eckig. Sie behalten also das Raster der Flugzeugstreifen bei, durch die sie erzeugt wurden. Natürliche Wolken könnten solche Formen niemals annehmen.

Unsere Wanderung durch den Canyon beeindruckte uns wieder einmal aufs Neue. Innerhalb von einem Kilometer konnte sich in diesem Land die Landschaft so sehr wandeln, dass man nicht mehr glauben konnte, auch nur auf dem gleichen Kontinent zu sein. Gestern noch fühlten wir uns wie im wilden Westen, heute glaubten wir eher, irgendwo in Kanada oder in Schweden zu sein. Gemeinsam war den unterschiedlichen Landschaftstypen nur, dass sie alle rau und wild wirkten - und dass sie unglaublich schön waren.

Immer wieder waren die lustigen Heuhaufen in diese Landschaften eingebettet, die ihr ja schon einige Male auf den Fotos gesehen habt. Dieses Mal konnten wir jedoch einmal live beobachten, wie sie gebaut wurden. Bislang hatte ich immer geglaubt, dass das trockene Gras mit langen Gabeln übereinander geschichtet wurde, oder dass die Bauern von einer Leiter aus arbeiteten. Das war jedoch ein Irrtum. Einer der Männer stand unten und warf das Heu mit seiner Heugabel nach oben. Der zweite stand einfach mitten auf dem Haufen, nahm das Heu an, verteilte es ordnungsgemäß und drückte es platt. Die Leiter wurde nur benötigt, damit der Mann am Ende wieder nach unten kam.

Kurz vor unserem Zielort fragten Paulina und ich wieder einmal gemeinsam nach Essen. Dabei wurden wir von einem Hauseigentümer eingeladen, auf seiner Terrasse Platz zu nehmen und obwohl wir mehrfach ablehnten, ließ er uns von seinem Sohn je einen „Saft“ bringen. Gegen Saft war an sich nichts einzuwenden, nur das Saft hier leider immer Zuckersirup bedeutete, der aus etwas Wasser, drei Brombeeren und einem Kilo Zucker bestand. Er war absolut ungenießbar und dazu auch noch so ungesund wie nur irgendetwas sein konnte.

„Wir können ihn jetzt wohl schlecht ablehnen, oder?“ meinte Paulina, „jetzt wo sich der Junge die Mühe gemacht hat, ihn extra für uns zu holen.“

Ich stimmte ihr zu und quälte mir die klebrige Flüssigkeit runter.

„Wollt ihr noch einen?“ fragte der Mann als ich ausgetrunken hatte.

„Gott bewahre, Nein!“ rief ich sofort und fügte der Höflichkeit halber ein „Danke!“ hinzu.

Wieso war es mir so schwer gefallen, von vorn herein so deutlich zu sein? Wieder ging es um das alte Thema mit der Grenze von Nein. In so vielen Bereichen gelang es mir nun schon, sie durchzusetzen, aber in so vielen Bereichen auch wieder gar nicht. Warum war mir meine Höflichkeit an dieser Stelle wichtiger gewesen als meine Gesundheit und mein Wohlbefinden? Denn zum Wohlbefinden trug dieses Gesöff ganz sicher nicht bei, von Gesundheit wollen wir erst gar nicht sprechen.

Bei Paulina war es etwas anderes. Sie hatte nun bereits einige Tage auf Zucker verzichtet und sah in der offensichtlich ausweglosen Situation des Nicht-Ablehnen-Könnens einen Grund, um ihrer Zuckersucht noch einmal zu frönen. Sie genoss den Saft sogar und aus irgendeinem, mir vollkommen rätselhaften Grund schmeckte er ihr auch. Doch zum ersten Mal war sie sich dabei vollkommen bewusst, dass sie gerade aus ihrer Zuckersucht heraus handelte und als wir später darüber sprachen, konnte sie sogar humorvoll damit umgehen. Es war also bei weitem nicht so, dass sie keine Fortschritte machte. Sie konnte zumindest einige Aspekte bereits annehmen und auch, wenn sie die Sucht noch nicht abstellen konnte, so konnte sie sie sich doch schon einmal eingestehen. Damit hatte sie das Fundament geschaffen, um überhaupt eine Veränderung zu ermöglichen.

Aber was war nun mit meiner Grenze? Ich wollte diesen Saft nicht und hatte ihn trotzdem getrunken. Warum?

Später fiel mir ein Satz ein, den ich vor langer Zeit einmal gehört hatte: „Jeder Mensch erlaubt einem anderen Menschen ihn nur so weit zu verletzen, wie er es auch mit sich selbst tut.“ Was bedeutet das im Klartext?

Jeder Mensch ist mehr oder weniger Bereit, sich auf Dinge einzulassen oder Dinge mitzumachen, die er eigentlich nicht will, bei denen er sich nicht wohl fühlt und die gegen seine Herzensstimme verstoßen. Wir lassen uns zu Überstunden hinreißen, obwohl wir ohnehin schon so überarbeitet sind, dass wir kaum noch ein oder aus wissen. Wir lassen uns von unserem Ehepartner herumkommandieren, wehren uns nicht gegen Hänseleien in der Schule und lassen uns manchmal sogar am Arbeitsplatz begrapschen oder belästigen, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen. Oder in meinem besagten Fall, lassen wir uns zu einer Zuckerbrühe überreden, die wir eigentlich gar nicht trinken wollten. Dann aber gibt es wieder Dinge, bei denen wir überhaupt keinen Spaß verstehen. Und diese Dinge können die gleichen sein, die ein anderer ohne zu murren über sich ergehen lässt. Warum?

Weil wir ein inneres Konzept davon haben, wie viel wir Wert sind und wie viel Leid, Schmerz, Unterdrückung und Unannehmlichkeit wir verdient haben, weil wir uns selbst als nicht richtig empfinden. Denn egal, wie grausam die Menschen zu uns auch manchmal sein mögen, niemand ist härter mit uns, als wir selbst. Wenn wir uns selbst für einen nichtsnutzigen Trottel halten, der es verdient hat ausgenutzt zu werden, dann lassen wir das ohne zu müssen mit uns geschehen. Halten wir uns jedoch für einen jochqualifizierten Fachmann oder eine jochqualifizierte Fachfrau, dann haben wir für jeden, der uns auch nur einen etwas zu niedrig honorierten Job anbieten nur ein müdes Lächeln übrig. Eine Frau, die sich selbst als liebenswert und wertvoll ansieht, wird nicht zulassen, dass sie von ihrem Mann geschlagen oder sexuell misshandelt wird. Sollte er es versuchen ist sie sofort weg und er muss mit einer Anzeige rechnen. Fühlt sie sich jedoch klein und wertlos und glaubt sie von sich tief in ihrem Herzen, dass sie nichts anderes Verdient hat, als geschlagen zu werden, dann wird sie es sich weiterhin gefallen lassen. So lange, bis der Punkt erreicht ist, an dem die Zerstörung von Außen stärker wird, als sie es selbst unbewusst für angemessen empfindet. Ab diesem Moment setzt sie eine Grenze. Vorher nicht.

Das gleiche passiert uns im Kleinen und Großen täglich viele Male. Hätte mir der Mann statt des Saftes einen Schnaps angeboten, hätte ich keine Sekunde gezögert, ihn abzulehnen, da ich nicht bereit gewesen wäre, meinen Körper mit Alkohol zu vergiften. Das gleiche wäre bei einem Kaffee passiert, weil ich nur zu genau gewusst hätte, dass ich von dem Koffein den Rest des Tages einen Flattermann bekommen hätte, so wie es mir die vielen Male zuvor ergangen ist, in denen ich noch bereit war, diese Grenze zu überschreiten. Was jedoch Zucker anbelangte steckte auch ich, genau wie Paulina noch immer in einer Sucht fest. Bei weitem nicht mehr so stark wie früher, aber sie war noch immer da. Anders als bei Kaffee und Alkohol war ich durchaus bereit, mir für das Geschmackserlebnis der Süße, selbst zu schaden, in dem ich hin und wieder ein paar Kekse, etwas Schokolade oder eben einen süßen Saft trank. Bevor ich den ungenießbaren Sirup probiert hatte, wusste ich noch nicht, dass er ungenießbar war und hatte somit die Hoffnung, vielleicht doch eine leckere Süßspeise zu bekommen, die eine kleine Selbstverletzung in Form des Zuckers, in meinen Augen wert gewesen wäre. Daher konnte ich nicht so deutlich Nein sagen, dass es akzeptiert wurde, denn ein Teil von mir wollte den Saft ja haben. Erst als ich ihn hinuntergewürgt hatte, war die Grenze in mir erreicht, so dass ich mit Bestimmtheit und mit allen Aspekten meines Seins wusste, dass ich mir das nicht noch einmal antun wollte.

Schließlich klapperten wir noch einige weitere Häuser ab, bis wir genug für ein Abendessen hatten und schlugen unser Lager dann auf einer kleinen Wiese auf, die gut versteckt hindre zwei Baumreihen lag. Die Sonne strahlte nun Hell am Himmel, doch bald schon war sie hinter den Hohen Bergen verschwunden. JE nachdem, wo man sich im Gebirge befand, konnten die Tage hier ganz schön kurz sein.

 

 

Spruch des Tages: Niemand kann uns stärker verletzen, als wir es selbst tun.

 

Höhenmeter: 15 m

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 11.707,27 km

Wetter: sonnig

Etappenziel: Umkleide des kirchlichen Sportplatzes, Tuturano, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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