Tag 659: Der Flüchtling – Teil 2

von Heiko Gärtner
23.10.2015 18:47 Uhr

Fortsetzung von Tag 658:

Wieso aber hatte er unser Essen abgelehnt? Geld konnte er kaum welches haben und wenn er die Leute nach Essen fragte, riskierte er jedes Mal, dass ihn jemand an die Polizei verpfiff. Selbst uns hatte man hier in diesen Ländern mehrere Male die Polizei auf den Hals gehetzt und wir sehen eigentlich nicht so sehr wie Flüchtlinge aus. Paulina bereute im Nachhinein zutiefst, dass sie dem Fremden erzählt hatte, wir seien Journalisten und arbeiteten mit verschiedenen Medien zusammen. Diese Informationen waren oft wichtig, wenn man bei Läden oder Hotels um Unterstützung fragte, doch in diesem Fall führten sie nur dazu, dass sie den ohnehin schon ängstlichen Mann noch weiter verschreckten, so dass er sich am Ende gar nichts mehr zu sagen traute, was ihn vielleicht hätte verraten können. Dabei wäre das sicher spannend gewesen.

Eine weitere ungeklärte Frage war, warum er von Kroatien nach Bosnien und Montenegro gereist war. Mit Kroatien war er bereits in der EU und hätte locke in Länder weiterreisen können, in denen es ein soziales Versorgungsnetz gab und in dem man ihn für einen ganz gewöhnlichen Obdachlosen gehalten hätte. Hier machte er sich das Leben hingegen besonders schwer, vor allem auch deshalb, weil die Wahrscheinlichkeit hier kontrolliert zu werden deutlich höher lag, als beispielsweise in Italien. Oder galten für Schwarzafrikaner da vielleicht andere Gesetze? Das wussten wir natürlich nicht. Was wir jedoch einsehen mussten war, dass eine Polizeikontrolle in Montenegro weniger Konsequenzen nach sich zog als in der EU. Wenn er hier kontrolliert wurde, musste er wahrscheinlich einen Nachmittag auf der Wache verbringen. In den EU-Ländern bestand hingegen die Chance, dass er wieder abgeschoben wurde. Wahrscheinlich war es ein Spiel mit dem Teufel.

Die Straße führte uns heute wieder durch einen Canyon und wechselte dabei stetig zwischen auf- und abstiegen. Schließlich erreichten wir Šavnik, die Hauptstadt der Region, die von oben jedoch nicht größer aussah, als ein kleines Dorf.

Wie sich herausstellte hatte Šavnik tatsächlich beides mit einander vereint, die Größe und die fehlende Logistik eines Dorfes, mit der Ungemütlichkeit, der Lautstärke und den hässlichen Wohnblocks einer Stadt. Das ganze lag dann noch direkt an der Hauptstraße in einem engen Tal, das zwar hübe war, aber keinen Schall entkommen ließ. Die perfekten Bedingungen also für einen Ort, den man sich sparen kann. Der Nachteil war nur, dass man, wenn man die Dorfstadt verlassen wollte, den ganzen Berg wieder hinauf musste. Aus einem entspannten Wandertag wurde also nichts. Dennoch bot Šavnik auch zwei Vorteile. Einer davon war die winzig kleine Tankstelle, an der wir unsere Benzinflasche für den Kocher wieder auffüllen konnten. Ohne sie hätte es an den nächsten Tagen wohl eher kalte Ratte gegeben. Der zweite Vorteil, den uns die Stadt einbrachte war die Begegnung mit dem deutschen Pärchen, die wir während des Tankens hatten. Die beiden kamen aus dem frankfurter Raum, wenngleich sie gebürtig aus Montenegro stammte. Wir kamen ins Gespräch und zum ersten Mal seit langer Zeit wurde es ein richtiges Gespräch, ich meine eines, das Spaß machte, bei dem ein gegenseitiges Interesse herrschte und bei dem sogar hilfreiche Informationen ausgetauscht wurden. Heiko sprach vor allem mit der Frau, die verschiedene Hinweise und Anleitungen von ihm einholte, wie sie ihren Gesundheitszustand verbessern konnte. Währenddessen erzählte mir der Mann, dass sie gerade von einem Urlaub von der Küste zurückkehrten. Sie besaßen dort ein Grundstück und ein Ferienhaus, zu denen es eine lustige Geschichte gab. Früher waren sie an verschiedene Orte in dieser Region gefahren und auf einer dieser Reisen hatten sie sich in einen der Flecken besonders verliebt. Als sie sich dort umschauten, trat der Mann aus versehen auf eine Schildkröte, die ihn daraufhin ganz verdutzt anschaute. Dabei bemerkte er, dass das Grundstück zum Verkauf stand, woraufhin er sich einige Informationen darüber einholte. Das Grundstück kaufte er zunächst nicht, aber die Schildkröte nahm er mit nach hause. Hier lebte sie dann eine ganze Weile und schien sich zunächst auch wohl zu fühlen, doch irgendwann machte sie einen immer matteren Eindruck. Für den Mann stand fest, dass er das kleine Panzertier wieder in seine Heimat zurückbringen musste und bei dieser Gelegenheit kauften sie dann das Grundstück. Wenn wir vorgehabt hätten, uns die montenegroianische Küste anzuschauen, dann wären wir von den beiden sogar in ihr Gästehaus eingeladen worden. Vom Mann und seiner Frau natürlich, nicht von der Schildkröte, wobei die sicher auch nichts dagegen gehabt hätte.

Die Frau war am Ende so von dem Heilungsgespräch mit Heiko begeistert, dass uns die beiden sogar noch 30€ schenkten. Unser erstes Geld, das wir seit dem Verlassen von Bosnien überhaupt bekommen hatten.

„Wie hast du das gemacht?“ fragte Paulina im Weitergehen an Heiko gewandt. „Die Frau war ja völlig begeistert von dem Gespräch mit dir und hat den Anschein gemacht, als wäre dies die wertvollste Begegnung der letzten drei Jahre für sie gewesen.“

Heiko grinste nur und meinte: „Ich hab einfach das Gefühl gehabt, dass sie ein paar Informationen braucht und dass sie diese auch wirklich annehmen kann. Du sagt immer, ich hätte kein Interesse daran, mich mit Menschen zu unterhalten, aber das stimmt so nicht. Wenn ich das Gefühl habe, dass sich eine Unterhaltung lohnt, dass sie mir Spaß macht und auch den anderen etwas bringt, dann mache ich es sehr gerne. Ich habe nur keine Lust auf die immer gleichen Smalltalk-Runden, die einfach nur Zeit kosten, aber zu nichts führen.“

Spannender Weise hatten Paulina und Heiko zuvor ein Gespräch darüber geführt, was es bedeutet, seiner Lebensbestimmung zu folgen. Paulina hatte nicht wirklich etwas damit anfangen können, doch durch diese Begegnung wurde ihr einiges klarer. Es ging nicht darum, allen Menschen zu gefallen und immer freundlich und zuvorkommend zu sein. Es ging darum echt zu sein und die Chancen, die sich ergaben um jemandem weiterhelfen zu können, auch wirklich wahrzunehmen.

Wie bereits erwähnt führte uns die Straße hinter der Dorf-Stadt wieder in engen Serpentinen steil nach oben. Am Ortsausgang lag die Schule, deren Bibliothek bis unter die Decke mit Holz voll gestapelt war, das man benötigte, um im Winter die Klassenräume zu heizen. Die alte Mehrzweckhalle, die sich daneben befand war zu einer Müllhalde umfunktioniert worden, wobei ein Großteil durch halb vergammelte Wolle eingenommen wurde, die man hier einfach achtlos weggeworfen hatte. Der Anblick machte mich traurig, vor allem in Anbetracht dessen, wie man in der industriellen Produktion die Schafe misshandelte, weil man mehr Masse in kürzerer Zeit brauchte. Angeblich, um den Bedarf zu decken und um zu verhindern, dass die Wollpreise an die Decke steigen würden. Und dann sah man so etwas! Die Schäfer hier hatten ihre Schafe vor allem für den Fleischertrag. Die Wolle verwendete man, wenn man etwas hatte, wofür man sie verwenden konnte. Der Rest war ein Abfallprodukt, das man einfach irgendwo in die Walachei warf. Oder eben in ein leerstehendes Schulgebäude.

Wir suchten uns einen Schlafplatz zwischen zwei Serpentinen. Er war nicht ideal, aber es war besser, als noch mehr den Berg hinauf zu laufen. Außerdem hatten wir festgestellt, dass sowohl PAulinas als auch mein Wagen einige Reparaturarbeiten an den Bremsen benötigten. Bei Heikos wollten wir zudem schon seit einiger Zeit zwei Speichen tauschen, die gebrochen waren. Also machten wir uns an einen Reparaturnachmittag. Paulina hätte bei dieser Gelegenheit eigentlich lernen sollen, wie man bei einem Pilgerwagen die Reifen und die Bremsbeläge wechselt, doch sie war zu erschöpft. Als sie sich erholt hatte, war es so spät, dass sie mit dem Kochen beginnen musste und so blieb die Reparatur dann doch erst einmal bei den Männern hängen. Auch diese Situation war von uns dreien nicht besonders schlau gewählt wenn man bedenkt, dass es Paulinas einzige Chance gewesen wäre, zu lernen, wie sie mit ihrem Wagen zurecht kommt, wenn mal nicht alles nach Plan läuft. So aber verließ sie unsere Gruppe am Ende ohne auch nur einen Funken an technischem Know-how.

 

Spruch des Tages: Erkenne wo du wirklich helfen kannst.

 

Höhenmeter: 12 m

Tagesetappe: 17 km

Gesamtstrecke: 11.750,27 km

Wetter: bewölkt und leichter Nieselregen

Etappenziel: Gästewohnung des Gemeindehauses der Kirche Santa Famiglia, Trepuzzi, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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