Tag 661: Himmel oder Hölle – Teil 2

von Heiko Gärtner
25.10.2015 17:04 Uhr

Fortsetzung von Tag 660:

In ihren Augen waren wir es, die für ihr Leid verantwortlich waren. Es war unsere Schuld, dass sie Zellulite hatte, dass sie Esssüchtig war, dass sie keine Struktur fand, nicht ins Erschaffen kam und sich selbst nicht mochte. Sie wusste zwar dass dies nicht stimmte, dass sie diese Themen schon ihr ganzes Leben mit sich herumtrug und das wir nur die Boten waren, die sie darauf aufmerksam gemacht hatten, aber das änderte nichts. Das Wissen drang nicht bis in ihr Bewusstsein vor und konnte die Gefühle des Hasses und der Verurteilung nicht abwenden. Die Lösung war also einfach: Wenn wir nicht mehr da waren, dann war wieder alles in Ordnung. Wenn ich in einen Spiegel sehe und dabei bemerke, dass ich einen hässlichen Pickel im Gesicht habe, der mich unattraktiv macht, dann ist es das Beste, den Spiegel zu zerschlagen, damit ich die ekelhafte Eiterblase nicht mehr sehen muss. Und genau das hatte sie nun vor.

An der Hauptstraße gab es zwei Hotels und so machte ich mich auf, um nach einem Schlafplatz zu suchen, während Heiko und Paulina das Gespräch fortsetzten. Es brachte jedoch beides nichts, weder das Gespräch, noch die Fragerei und gingen wir zunächst noch ein Stück gemeinsam weiter. Dann kamen wir an eine Kreuzung, die mit zwei Wegweisern markiert war. Rechts führte die Hauptstraße weiter nach Nikšic, der zweitgrößten Stadt Montenegros. Links gab es einen Abzweig über ein paar kleinere Dörfer, der uns schließlich ebenfalls in diese Stadt führen würde.

„Müssen wir nicht rechts?“ fragte Paulina, als ich gerade abbiegen wollte. „Nach Nikšic geht es doch da entlang.

„Ja“, sagte ich, „aber wir wollen ja nicht in die Stadt, sondern daran vorbei. Außerdem ist der andere Weg schöner!“

Jetzt wurde klar, warum sie diese Frage gestellt hatte. Den letzten Teil des Weges war es wieder relativ ruhig und friedlich gewesen und es hatte fast so gewirkt, als wäre die Idee mit dem Weglaufen wieder vom Tisch. Doch das war nicht der Fall gewesen. es ging lediglich darum, uns nicht zu verschrecken, bevor wir sie sicher nach Nikšic gebracht hatten. Nun, da ihr klar wurde, dass wir nicht direkt dorthin gehen würden, musste sie ihre Karten auf den Tisch legen.

„Ich gehe gerade weiter!“ sagte sie und eröffnete uns damit, dass sie nun endgültig beschlossen hatte, unsere Herde zu verlassen. Ich muss ehrlich sagen, dass ich an dieser Stelle bereits so sauer war, dass ich ihre Entscheidung einfach akzeptierte. Ich sah keinen Weg mehr und konnte mir nicht vorstellen, dass sie von dieser Schnapsidee wieder abzubringen war. Doch Heiko wollte sie nicht so schnell aufgeben. Er versuchte mit allen Mitteln ihr klar zu machen, dass sie gerade dabei war, in ihren eigenen Tod zu laufen. Nikšic war die Stadt, von der das junge Mädchen bei unserem Grillnachmittag in Bosnien bereits erzählt hatte, dass sie für eine Frau die Hölle war. Wir hatten bereits kleine Städte in diesem Land gesehen und die waren jedes Mal so gewesen, dass man es darin nicht aushalten konnte. Doch Nikšic war für hiesige Verhältnisse riesig. Es war eine Industriestadt, von der sogar der Flüchtling, den wir vor kurzem getroffen haben erzählt hatte, dass sie nur so vor Gewalt strotzte. Wie konnte sie also nach allem, was wir erlebt hatten, ausgerechnet in diese Stadt gehen? Wollte sie wirklich um jeden Preis vergewaltigt werden? Das konnte doch nicht ihr ernst sein!

Seit ihrer Entscheidung waren keine zwanzig Minuten vergangen und es hatten bereits fünf Männer aus ihren Autos nach ihr gerufen, die sie anmachen oder mitnehmen wollten. Wie sollte das gut gehen?

Heiko versuchte so sehr, sie zur Vernunft zu bringen, dass er auch mich wieder ansteckte. Vielleicht hatte er Recht. Wir konnten sie nicht einfach in ihren sicheren Tod gehen lassen. Es mag schon sein, dass ihr nichts passierte, doch konnten wir das wirklich verantworten?

Wieder kamen wir auf die Gründe zurück, warum Paulina überhaupt abhauen wollte. Es waren ja nicht wir, vor denen sie fliehen wollte, sondern sie selbst. Und sie wusste es auch. Immer wieder schon sie die Streitereien als Grund vor. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass wir jemals eine harmonische Gruppe werden würden und auf eine gewisse Weise hatte sie damit ja auch recht. So lange sie sich nicht entscheiden konnte, wirklich hier zu sein und zu sich zu stehen, würde es Streit geben. Das Problem war nur, dass sie Harmonie wollte, ohne diese Entscheidung zu treffen, obwohl sie wusste, dass sie sie treffen musste. Sie war ein bisschen wie der Mann in diesem einen Witz, der unter der Straßenlaterne kniet und mühsam jeden Quadratzentimeter absucht. Als er von einem zweiten Mann gefragt wird, was er denn da tue, antwortet er: „Ich habe meine Kontaktlinse verloren und suche sie hier!“ Der zweite bietet seine Hilfe an und sucht mit, bis er schließlich davon überzeugt ist, dass sich keine Kontaktlinse unter dieser Laterne befindet. „Bist du sicher, dass du sie hier verloren hast?“ fragt er den anderen. „Nein!“ antwortet dieser, „Ich habe sie dort drüben verloren, aber da ist es dunkel und da finde ich sie eh nicht. Hier ist einfach mehr Licht, deshalb suche ich sie hier!“

Wie dieser Mann wusste auch Paulina, was getan werden musste, damit das Leben in unserer Herde ein harmonisches und erfülltest werden konnte. Doch es war ihr zu anstrengend und sie hatte zu viel Angst davor, deshalb suchte sie lieber an einer Stelle, von der sie genau wusste, dass es nicht funktionieren konnte.

Es dauerte nicht lange und ich verlor erneut die Geduld. Zwei mal wurde ich so wütend, dass ich wieder laut los schrie, um nicht innerlich zu zerplatzen. Dann sah ich ein, dass es keinen Sinn hatte, wenn ich mich weiter an dem Gespräch beteiligte. Heiko versuchte es weiter.

Plötzlich hielt ein Auto neben den beiden an, die noch immer direkt in der Kreuzung standen. Eine Frau sprang aus dem Auto, kotzte voller Inbrunst auf die Straße, stieg wieder ein und fuhr weiter. Besser hätte sie kaum beschreiben können, wie die Grundstimmung in diesem Moment zwischen uns aussah.

Nach einer knappen Stunde voller Hin und Her, voller Gefühlsausbrüche, Wutschreie, Tränen, Verzweiflung, Liebeserklärungen, Hoffnungsschimmer, Sturheit und unzähliger Worte, war Paulinas Standpunkt noch immer der gleiche, den sie bereits am Anfang gehabt hatte: „Ich will keinen Streit mehr! Ich will nicht mehr streiten! Streit ist etwas Negatives und muss daher abgeschafft werden, egal ob er Fortschritte bringt oder nicht! Ich will auch keine Probleme mehr lösen. Ich will einfach meine Ruhe!“

So wie sie es sagte klang es fast wie von einem Menschen, der nach langer Chemotherapie beschlossen hatte, den Kampf gegen den Krebs einzustellen, um sich einfach nur noch zum Sterben hinzulegen. Hatte sie wirklich jeden Lebensmut verloren?

„Ihr sagt ja auch immer, dass es so nicht weitergehen kann und dass ihr euch endlich wieder Frieden wünscht. Den habt ihr ja dann! Wenn ich weg bin, dann geht es euch ja endlich wieder gut und ihr braucht euch keine Gedanken mehr über mich machen!“ sagte sie.

„Verstehst du eigentlich gar nichts?“ fragte Heiko mit einer Mischung aus Verzweiflung und Unglauben, „wir lieben dich! Wir wollen dich bei uns haben! Klar wollen wir Frieden und es kann nicht sein, dass wir den nicht mehr haben. Aber wir möchten den Frieden mit dir, mit der Paulina, die wir vor einem Jahr kennengelernt haben. Du bist ein Teil unserer Gruppe und da ändert auch dein Weglaufen nichts daran. Wenn du jetzt gehst, heißt das ja nicht, dass wir uns keine Gedanken mehr über dich machen. Im Gegenteil, wir denken dann ja noch viel mehr darüber nach, was du dir alles in dein Leben ziehst, wenn du heute nacht alleine irgendwo in dieser Stadt herumirrst.

Schließlich kehrte auch Heiko um und kam zu mir in die Seitenstraße. Paulina blieb stehen und schien noch immer zu überlegen, was sie wollte. Wieder hielt ein Mann mit einem Pickup neben ihr und fragte, ob er sie mitnehmen sollte.

Wir warteten.

Schließlich schnallte sie ihren Wagen ab und kam zu uns herüber. Sie wolle sich nur verabschieden und dann gehen. Ihre Meinung stand fest und wir mussten sie akzeptieren. Das einzige, was wir noch tun konnten war es, sie einen Zettel unterschreiben zu lassen, auf dem sie uns erklärte, dass sie im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten ging und dass wir nicht für eventuelle Folgen dieser Entscheidung verantwortlich waren. Ein bisschen hofften wir, dass sie es sich vielleicht noch einmal überlegen würde, wenn sie ihre Entscheidung schriftlich festhielt, aber zum größeren Teil wollten wir das Schriftstück haben, damit sie die Entscheidung wirklich bewusst traf und nicht nur aus einer Trotzreaktion heraus.

Sie unterzeichnete das Dokument und verabschiedete sich dann von uns. Anschließend ging sie u ihrem Wagen zurück und folgte der Hauptstraße.

Kopfschüttelnd machten wir uns auf den Weg um der anderen Straße zu folgen. So wirklich begreifen konnten wir die Sache noch nicht. Doch auf eine abstruse Art fühlte es sich auch richtig an. Vielleicht hatte sie ja Recht und das, was sie brauchte wartete wirklich in der großen Stadt auf sie. Vielleicht fand sie dort ja den Schlüssel, der ihr fehlte um wirklich zu sich selbst zu finden. Das Universum würde die Sache schon richten, auch wenn es vielleicht schmerzhaft werden konnte.

Die Sonne neigte sich bereits wieder dem Horizont zu und wir durchwanderten nun eine weitere, ausgedehnte Steppe. Ich hatte diese Tagesetappe als eine besonders lange eingeplant, weil ich auf den Satellitenbildern keine Ortschaften hatte erkennen können. Nun zeigte sich, dass meine Vermutung richtig war. Dieses Land war menschenleer. Wunderschön aber leer. Wir konnten uns also noch auf einen längeren Marsch einstellen, was wahrscheinlich nicht verkehrt war, denn nach den ganzen hochgekochten Gefühlen tat es nun gut, einfach nur durch die Stille zu wandern und die Einsamkeit der Steppe auf sich wirken zu lassen.

Im Nachhinein betrachtet war der Schritt, Paulina loszulassen vielleicht doch gar nicht so schwer, wie wir erst geglaubt hatten. Wir hatten auf unserer Reise schon so viele Dinge, Situationen, Plätze, Orte und Menschen loslassen müssen, dass wir uns inzwischen daran gewöhnt hatten. Paulina war ein wertvolles und bereicherndes Mitglied unserer Herde gewesen, das wir gerne bei uns hatten. Doch es ging uns nun auch nicht schlecht, weil sie nicht mehr da war. Uns viel auf, dass es auch im Bezug auf Beziehungen und Freundschaften einen großen Unterschied zwischen der ‚Freude über etwas‘ und einer ‚Abhängigkeit von etwas‘ gab. Es war ein bisschen wie der Unterschied zwischen einem Genießer und einem Junkie.

 

Gerade wenn es um Beziehungen geht ist das Idealbild in unserer Gesellschaft meist das eines Junkies. „Ohne dich kann ich nicht leben!“ „Du machst mich vollständig!“ „Durch dich erhält mein Leben einen Sinn!“ „Du bist das Glück, meines Lebens!“ All diese Sprüche die nicht nur unsere Filme, Lieder, Gedichte und Geschichten zieren, sondern uns auch im Alltag immer wieder begegnen, zeigen, dass wir uns gerne in eine Abhängigkeit von anderen begeben. Wir glauben, dass diese Abhängigkeit Liebe ist und dass wir deswegen einen anderen Menschen brauchen, um Liebe empfinden zu können. Doch auch wenn es wohl stimmen mag, dass ein Cracksüchtiger eine gewisse Liebe für seinen Stoff empfindet, ist dies nicht wirklich das, was man sich unter einem erfüllten Leben vorstellt. Wenn eine Beziehung darauf begründet ist, dass einer nur wegen dem anderen glücklich sein, oder gar überleben kann, ist das keine gute Voraussetzung für eine erfolgreiche Partnerschaft. Man ist ein Junkie nach der Anerkennung des anderen und macht sein eigenes Glück von diesem Menschen abhängig.

Anders ist es hingegen bei einem Genießer. Ähnlich wie ein Mensch, der sich über einen guten Wein oder ein edles Stück Schokolade freut, ohne danach süchtig zu sein, kann man sich auch über einen Partner und die gemeinsame Zeit mit ihm freuen. Man genießt es, zusammen zu sein, doch das bedeutet nicht, dass es einem schlecht geht, wenn der andere nicht da ist. Man ist auch ohne den anderen Menschen, ohne die Schokolade, ohne das gute Essen, ohne den Lieblingssport und so weiter rund um glücklich. Und man genießt es, wenn man sie da sind.

Ähnlich erging es uns auch mit Paulina. Die gemeinsame Zeit mir ihr hat uns viel bedeutet, sie hat uns weiter gebracht und viel Spaß und Freude gemacht, auch wenn nicht immer alles perfekt war. Doch es ging uns nun nicht schlechter, weil die Zeit offensichtlich vorbei war, genauso wie es uns zuvor auch nicht schlechter gegangen war, weil sie noch nicht bei uns gewesen war.

Unterhalb einer Böschung tauchte ein einsames kleines Haus vor uns auf. Eine alte Frau und ein ebenso alter Mann standen im Garten und hantierten gerade mit einer großen Kanne Milch herum. Ich stieg den Hang hinab und fragte die beiden nach Essen und Wasser. Als ich zu Heiko hinauf schaute, sah ich die Silhouette einer zweiten Person neben ihm. Einen Moment lang glaubte ich, es sei Paulina. Dann verwarf ich den Gedanken und wandte mich wieder dem Ehepaar zu, dass mir gerade etwas Brot und Käse brachte. Anschließend füllte ich einen unserer Wasserbeutel und wurde plötzlich aufgeschreckt.

„Hallo!“ sagte eine Stimme neben mir. Ich schaute auf und stellte fest, dass es wirklich Paulina war.

„Was machst du denn hier?“ fragte ich überrascht.

„Ich hatte Angst!“ sagte sie, „deshalb bin ich umgedreht und doch in eure Richtung gegangen!“

„Ok!“ sagte ich, womit das Thema für mich erst einmal wieder erledigt war. Erst als Paulina eine Woche später dann wirklich verschwand und Heiko und ich noch einmal über alles reflektierten, viel uns auf, dass auch hier schon wieder einige Ungereimtheiten drin steckten, die wir zunächst nicht bemerkt hatten. Denn Heiko und Paulina hatten oben am Hang in etwa das gleiche Gespräch geführt. Nur hatte ihre Antwort dabei etwas anders und - sagen wir mal - etwas weniger ehrlich ausgesehen: „Ich habe dich vermisst! Ich liebe dich und habe es nicht übers Herz gebracht, dich zu verlassen!“

 Fortsetzung folgt ...

 

Spruch des Tages: Es gibt eine Zeit um zu gehen und es gibt eine Zeit um zu bleiben.

 

Höhenmeter: 5 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 11.783,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Kommunionsräume der Kirche, Sternatia, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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