Tag 664: Heißer als in Spanien

von Heiko Gärtner
25.10.2015 17:50 Uhr

Als wir vor gut einem Jahr die Extremadura durchquerten hätten wir uns nicht erträumen lassen, dass wir in Europa einmal eine Zeit erleben würden, die noch bedeuten härter und vor allem heißer werden würde. Doch dieser und die kommenden Tage sollten alles übertreffen, was wir bislang an Hitze erlebt hatten. Die Thermometer zeigten heute bereits 40°C im Schatten an und morgen sollten die Höchsttemperaturen noch einmal 5°C mehr erreichen. Wir hatten nur Glück, dass es überwiegend bergab ging und wir nicht auch noch starke körperliche Anstrengungen hinlegen mussten. Dennoch, oder gerade deswegen nutzte mein Körper die Gelegenheit um auch mir eine heftige Heilungskrise zu bescheren. Mein Kopf fühlte sich an als wollte er explodieren und ich fühlte mich so schwach und schlapp wie selten zuvor. Sobald ich mich drehte oder bückte wurde mir schwindelig und bereits nach wenigen Metern bekam ich Seitenstiche, die so stark waren, dass ich kaum mehr laufen konnte. Was war nur los?

In einer Pause testeten wir einige Möglichkeiten durch und wie sich herausstellte, war auch mein Leid nichts weiter als die Begleiterscheinung einer positiven und heilsamen Veränderung. Durch das viele Schwitzen begannen meine Lymphe zu entgiften und mein Körper jagte nun in kurzer Zeit einen Großteil der angelagerten Giftstoffe aus mir heraus, die ich schon seit langem mit mir herumtrug. Gleichzeitig fanden aber auch einige wichtige Prozesse auf der geistigen und seelischen Ebene statt. Seit Tagen beschäftigte ich mich nun schon intensiv mit den Lebensthemen von Paulina und damit, wie sie sie aufarbeiten konnte. Da sie jedoch fast kein Thema hatte, das ich nicht auch von mir kannte, beschäftigte ich mich eigentlich nicht in erster Linie mit ihr, sondern mit mir selbst. Sie war aus meiner Perspektive im Grunde nichts anderes, als ein Stellvertreter-Ich, das mir im außen all die Dinge zeigte, die in meinem inneren los waren, die ich dort aber nur schlecht oder gar nicht wahrnehmen konnte. In den Wochen, in denen sie nun bei uns war, hatte ich mehr über meine eigene Lebens- und Familiendynamik, sowie über meine eigenen Gedankenmuster und Glaubenssätze verstanden, als je zuvor in meinem Leben. Dies blieb natürlich auch bei mir nicht ohne Folge. Beim Schreiben wurden mir viele Sachen noch einmal bewusst, die dann im Traum und beim Wandern in meinem Unterbewusstsein weiterarbeiteten. Auch dadurch lösten sich einige Dinge, die seit Ewigkeiten in mir festsaßen und dies wiederum führte dazu, dass auch ich eine Heilungskrise bekam, in der mein Verstand gegen die geistigen Veränderungen rebellierte.

Doch die Hitze schaffte nicht nur mich. Als wir schließlich in der Flachebene ankamen, waren auch Heiko und Paulina kurz vor ihrer Erschöpfungsgrenze. Es waren nun nur noch wenige Kilometer bis zur größten Stadt von Montenegro. Podgorica war die Hauptstadt des Landes und beherbergte alleine die Hälfte der gesamten Bevölkerung. Es war also ratsam, sich einen Schlafplatz zu suchen, der gut versteckt und nicht allzu nahe an der Großstadt lag. Nach einigem Suchen fanden wir dann tatsächlich einen Platz, an dem wir von Menschen verschont blieben, nicht aber von Mücken. Auch der Hitze konnten wir nicht entkommen und so wurde das Schreiben an weiteren Texten fast unmöglich. Außen wurde man so zerstochen, dass jede Form der Konzentration unmöglich wurde und im Zelt zerfloss man wie eine Kerze im Backofen. Dafür hatten wir aber besuch von einer Schildkröte, die neugierig zu unseren Zelten krabbelte.

Nachdem sie vor einigen Wochen ihren Song of Mosquito so gut überstanden hatte, suchte sich Paulina heute nun noch einmal freiwillig die Herausforderung aus, den kleinen, juckenden Plagegeistern stand zu halten. Sie kochte unser Abendessen direkt vor unseren Zelten, wo sie mitten in einem Schwarm aus Mücken saß. Warum sie nicht auf die Idee kam, ihren Standort auf die Straße zu verlegen, wo kein kleiner Bach in der Nähe war, blieb uns ein Rätsel. Auch warum sie sich nicht wenigstens eine Jacke oder eine lange Hose anzog verstand ich nicht wirklich. Vielleicht wollte sie sich beweisen, dass sie die Ruhe bewahren konnte. Vielleicht war ihr das andere auch einfach nur zu anstrengend. Auf jeden Fall kochte nicht nur das Essen, sondern auch Paulina nach kurzer Zeit. Alle unterdrückten Gefühle der letzten Tage brodelten in ihr hoch und schäumten förmlich über. Dass sie dabei trotzdem noch ein leckeres Essen zustande brachte, verdient allergrößte Anerkennung. Wenngleich man sagen muss, dass sie es selbst kaum genießen konnte, da sie so damit beschäftigt war, sich zu kratzen. Bereits zuvor war uns schon des Öfteren aufgefallen, dass Paulina es mit dem Kratzen von Mückenstichen gerne übertrieb. Fast jeder Mensch kratzt sich, wenn es ihn juckt, doch meist bleibt man damit in einem gewissen Rahmen und früher oder später sieht man in der Regel ein, dass es nichts bringt und dass der Juckreiz schneller wieder verschwindet, wenn man ihn in Ruhe lässt. Paulina kratzte aber so intensiv und aggressiv, dass sie am Ende blutige Stellen davontrug. Es war nicht nur ein Versuch, den Juckreiz loszuwerden, es war ein Akt der Selbstzerstörung. Wenn auch ein dezenter.

Das Thema Borderline hatte bereits früher in ihrem Leben eine größere Rolle gespielt und in ihrer Jugendzeit hatte sie bereits einmal für sich erkannt, dass es sich sehr befreiend anfühlen konnte, wenn sie ihrem Selbsthass dadurch nachgab, dass sie sich selbst schmerzen zufügte. Sie hatte schon vor Jahren erkannt, dass das nicht besonders sinnvoll war und war davon überzeugt gewesen, diese Phase längst hinter sich gelassen zu haben. Doch häufig wenn wir glauben, Süchte oder andere destruktive Verhaltensmuster abgelegt zu haben, haben wir die Probleme nicht wirklich gelöst, sondern nur umgeleitet oder versteckt. So hatte auch Paulina noch immer unterbewusst den Drang, sich selbst zu bestrafen, wenn sie mit sich unzufrieden war. Daher kratzte sie ihre Mückenstiche vor allem dann besonders aggressiv, wenn wir über Themen sprachen, die ihr nahe gingen und mit denen sie sich unwohl fühlte.

Wie angekündigt kletterte das Thermometer an kommenden Tag noch weiter in die Höhe. 45°C im Schatten hatten wir locker und es fühlte sich sogar nach weit mehr an. Podgorica sahen wir auf unserer Wanderung jedoch nur von weitem. Direkt hinein in die Stadt mussten wir nicht, worüber wir bei dieser Hitze gleich doppelt dankbar waren. Das einzige, was wir von der Stadt wirklich mitbekamen, waren die großen Müllhalden, die gleichzeitig auch als Parkanlagen genutzt wurden. Zwischen unserer Straße und der Stadt verlief ein tiefer Graben, der fast kein Wasser führte. Hier wurden alle Abfälle entsorgt, die von den Menschen verursacht wurden. Das Gelände dahinter war der Park, in dem man mit seinem Hund oder seinem Partner spazieren ging. Unsere Wasservorräte neigten sich dem Ende und so begann Paulina bei den anliegenden Häusern nach neuem zu fragen. Wie sich herausstellte war das gar nicht so einfach, denn der Wasserverbrauch der Großstadt lag offensichtlich deutlich über dem, was seine Umgebung zu bieten hatte. Ähnlich wie in Sarajevo gab es auch hier einen akuten Wassermangel, der dazu führte, dass viele öffentliche Wasserquellen komplett abgestellt worden waren und dass man die Wasserreserven der Privathaushalte stark rationiert hatte. Hier allerdings wirkte er etwas authentischer, als in der Hautstadt des größten, europäischen Trinkwasser Reserveurs überhaupt.

Die Straße führte uns schließlich wieder in einen Canyon hinein, an dessen Ende uns morgen einer der heftigsten Aufstiege unserer ganzen Reise erwarten sollte. Es war noch immer brüllend heiß und wir waren heilfroh, dass wir zunächst noch überwiegend geradeaus laufen konnten.

An einem kleinen Hostel fragten wir wegen eines Schlafplatzes. Die Zimmer kosteten nur 7€ pro Person und waren sicher nicht so komfortabel wie unser Zelt, aber in Bezug auf Strom und Internet hätte uns eine Indoornacht mal wieder gut getan. Der Besitzer war jedoch nicht überzeugt.

„Ich kann nichts positives an diesem Projekt erkennen!“ meinte er nur und bezog sich dabei vor allem auf den Nutzen in Bezug auf sein Hostel. Im Nachhinein betrachtet hätte ich ihn vielleicht überreden können, aber ich was offensichtlich nicht motiviert genug. Immerhin durften wir für eine Weile sein w-LAN benutzen und einige Mails abrufen. Für Heiko und mich war nichts wirklich spannendes dabei, doch Paulina bekam eine Nachricht, die sie schwer traf und die aus einem paradoxen Grund mit zu ihrer späteren Entscheidung beitragen sollte. Es war eine Nachricht von ihrem Kreditinstitut, das sie darüber informierte, dass 150€ von ihrer Kreditkarte abgebucht wurden, die sie nicht zuordnen konnte. Der Abbuchungstermin war der selbe, an dem auch die Kosten für ihre Hotelnacht abgebucht wurden, die sie in der Zeit ohne uns verlebt hatte. Sie zermartere sich den Kopf, was wohl dahinterstecken könnte und ob es nicht doch eine plausible und harmlose Erklärung dafür gab, doch es war zwecklos. Alles deutete darauf hin, dass man sie betrogen hatte. Sie hatte dem Hotelbesitzer die Karte überlassen und dieser musste weitere Abbuchungen vorgenommen haben, ohne sie darüber zu informieren. Mit einem Schlag stand es wieder im Raum, das Thema mit dem leichten Opfer, das sie so begeistert nach außen strahlte. Sie wurde sauer auf sich selbst und auch auf uns, weil wir ihr keine Lösung anbieten konnten, mit der sie ihr Geld wieder bekam. Dementsprechend schlecht war ihre Stimmung auf dem weiteren Weg durch den Canyon.

Als wir dessen Ende erreichten bogen wir rechts in ein kleines Dorf ab und schlugen unsere Zelte neben einem Weinfeld auf. Es war so heiß, dass wir sie so nah wie möglich an die wenigen Bäume heran quetschten, um jeden Millimeter an Schatten abzubekommen, der irgendwie möglich war. Bewegungen, die nicht unbedingt nötig waren, wurden vermieden und kaum war unser Lager aufgebaut lagen wir auch schon wie drei sterbende Hunde hechelnd im Gras.

Die ganze Zeit über hatte uns ein echter Hund begleitet, dem die Hitze nicht ganz so viel ausmachte. Er tollte freudig um uns herum und lebte sogar richtig auf, weil er zur Ausnahme einmal Menschen begegnet war, die es nicht übel mit ihm meinten. Er wirkte fast überrascht, dass er keine Schläge und Tritte sondern Streicheleinheiten und Spielgefährten bekam. Bis zum Abend blieb er bei uns. Dann verschwand er ins Dorf, wo er sich wieder zurück in die Gefangenschaft seines schlagenden Herrchens begab. Es war das zweite Mal innerhalb kürzester Zeit, dass wir einen Hund trafen, der dieses Verhalten an den Tag legte. Erst im Nachhinein begriffen wir, dass auch die Hunde bereits Boten waren, die uns die Entwicklung unserer Herde vor Augen führten.

Als es etwas abgekühlt war, machten Paulina und ich uns auf den Weg in den Ort, um nach Wasser und Essen zu fragen. Das Ergebnis war wie erwartet. Nach so langer Zeit, in der wir uns auf Weintrauben und Feigen gefreut hatten, bekamen wir nun nichts anderes mehr. Aber man muss die Früchte ernten, wie sie reif werden und es gibt definitiv schlechtere Gerichte, als Reis mit frischen Weintrauben und saftig süßen Feigen.

Die Wolke, die sich seit der Nachricht vom Kreditkartenbetrug über Paulinas Gemüt zusammengebraut hatte, verzog sich auch am Abend nicht. Wieder einmal kam es zu einer längeren Diskussion, die schließlich in einem Streit endete, der eigentlich nicht hätte sein müssen. Es fühlte sich nicht gut an, die Dinge so im Raum stehen zu lassen, doch es gelang uns nicht, ein zufriedenstellendes Ende zu finden. Schließlich brachen wir das Gespräch ab und gingen schlafen, ohne dass es zu einem guten Gefühl kam. Ich selbst muss sagen, dass ich mir deswegen keine großen Gedanken machte, denn irgendwie war das alles ja nicht mehr neu. Es war für mich einfach wieder das alte Spiel, das sich immer wieder im Kreis drehte. Irgendwann würde es sich schon einmal lösen, warum sollte ich mich deshalb also vom Schlafen abhalten? Ich ahnte nicht, dass es sich schon so schnell lösen würde. Heiko hingegen spürte bereits, dass dieses Mal mehr im Busch war. Ein Teil von ihm tat das Gespräch auch nur als eines von vielen ab, dem sicher noch weitere folgen würden, doch ein anderer Teil rechnete bereits damit, dass Paulina am Morgen beim Aufwachen nicht mehr bei uns sein würde.

In Paulina jedoch rumorte es die ganze Nacht. Ihr Kopf ließ sie nicht mehr los und je länger die Gedanken in ihr kreisten, desto dicker wurde die Mauer, die sie zwischen ihr und uns errichtete. Eine Mauer, die bei Sonnenaufgang bereits unüberwindbar sein würde.

Spruch des Tages: Die Extremadura war ein Dreck dagegen

 

Höhenmeter: 20 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 11.836,27 km

Wetter: sonnig bei 23°C im Schatten

Etappenziel: Mehrzwecksaal der Kirche, 73014 Gallipoli, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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