Tag 669: Rückblicke – Teil 3

von Heiko Gärtner
31.10.2015 21:11 Uhr

Fortsetzung von Tag 668:

Das war schon einmal eine positive Nachricht. Aber wie? Ich hatte gerade 8-9 Std hinter mich gebracht und die Nacht war noch einmal so lang.

Puh...doofes Rambo-Ego.

Wieso tat ich immer nur so stark und manövrierte mich dadurch in solche Situationen?

Jetzt? Hier?

Ich möchte lernen, wie es ist, wirklich mutig zu sein, denn ich bin kein großkotziger Ich-kann-alles-und-nichts-macht-mir-Angst-Typ, sondern ein verletzliches Mädchen, dass springt und springt um groß und stark zu werden, um sich in Zukunft gewappnet zu fühlen, dass niemand sich mehr traut, ihr weh zu tun.

Weiter lauschte ich dem Lärm der Fiesta und war mir nicht sicher, ob ich wach war oder weg döste, bis ich von einem lauten, für mich nicht definierbaren grunzend-knurrenden Geräusch ins volle Bewusstsein gerufen wurde. Hinter meinem Baum, etwa 1-2m unterhalb wühlten sich Tiere durchs Unterholz. Sie hörten sich groß an. Mein Herz klopfte bis zum Anschlag und Angst schnürte mir die Kehle zu. Was hatte Tobi nochmal über Wildschweine gesagt? Oh Mist... und wenn es die gab, was war dann nochmal mit den Skorpionen und war das mit der Klapperschlange wirklich Ironie? (Da bin ich mir bei den zwei Jungs manchmal nicht so sicher) Ich versuchte zu atmen, mich zu beruhigen, nicht panisch zu werden und zu vertrauen, dass es einen Sinn hat, gerade jetzt hier zu sein und meine Reise morgen weitergehen wird. Und siehe da: die Angst ging sobald ich ihr einige Zeit Raum gegeben hatte um da zu sein. Das war eine sehr interessante Erfahrung, die ich nur jedem ans Herz legen kann, da wir uns meistens Situationen entziehen die uns Angst machen und uns somit in unserer Lebensqualität einschränken.

Solche Momente erlebte ich in dieser Nacht noch einige Male, die Schnaken fanden ihren Weg durch meine Kleidung und Tücher aber ich fühlte mich gut. Mein Wasser teilte ich mir ein obwohl ich gefühlt alles auf einmal trinken wollte. Hunger tauchte hingegen kaum auf. Noch schöner war immer wieder der Gedanke, wie dankbar ich war überhaupt hier sein zu dürfen und im besten Fall morgen wieder um eine Erfahrung reicher geworden war. Als das nervig laute Feuerwerk, der Lärm der Fiesta langsam abklang, wurde es still und einsam. Die Nachtluft war angenehm. Ein paar Grillen, Geraschel und ab und an ein Windhauch waren zu spüren.

Einmal erwachte ich, von einem leise fiependen, quietschend atmenden Geräusch. Erst war ich ähnlich wie zuvor ängstlich, aber vermutlich war es nur eine kleine Maus, die in meinen Kreis gehuscht kam und versucht hat, mir direkt was ins Ohr zu flüstern. Ich wünscht,e ich hätte sie verstehen können.

Ich beobachtete den Mond, wie er wanderte, döste dabei immer wieder ein und nahm schließlich wahr, wie sich hinter den Hügelspitzen die Atmosphäre veränderte. Ein erleichtertes und gleichzeitig glückliches Gefühl machte sich breit. Sollte das heißen, ich hatte es tatsächlich geschafft? Fasziniert versuchte ich das Bild der ersten Sonnenstrahlen zu bannen, wie sie über die Bergkuppe blitzten. Wie viele Scheinwerfer, die gelichzeitig den Berg von hinten bestrahlten und in den blass rosa-blauen Himmel strahlten. Jetzt eine Kamera! Aber erstens hatte ich keine zur Hand und außerdem hatte ich das Gefühl, dass ich diesen Weg nicht in Bildern, sondern in meinem Herzen festhalten sollte. So kommt es, dass ich bisher nur eine Handvoll Bilder gemacht habe, mein Handy aber nun den ganze Tag im Rucksack verstaut habe. (Sorry an alle denen ich bisher auf keine Nachricht geantwortet habe. Ich benötige diese Zeit gerade für mich. Es geht mir gut und ich lebe noch).

Es war ein schönes Gefühl diesen Tag und diese Nacht erlebt zu haben. Als Abschluss versuchte ich noch einmal die Übung mit meinem Medizinkörper.

Was ich Stufe für Stufe ablegen möchte:

Stufe 1: Meine eigene Überheblichkeit

Stufe 2: Manipulatives Verhalten

Stufe 3: den Wunsch immer geliebt werden zu wollen

Stufe 4: Unachtsamkeit

Stufe 5: ungesunde Ernährung

Stufe 6: meinen kranken Körper

Stufe 7: Menschen und Dinge, die mich davon abhalten mein Sein anzunehmen und meine Berufung zu finden.

Dieses Mal gelang es mir, mich zu entspannen und etwas zu visualisieren. Ich sah von Weitem in einem dunklem Raum einen bleichen, liegenden Körper. Ich näherte mich langsam und betrachtete ihn. Es war mein Eigener. Er lag kalt und leblos vor mir, denn ich hatte ihn verlassen.

Bei dieser Erkenntnis änderte sich das Bild. Ich sah eine große, muskulöse, sehr weiblich wirkende, starke Frau mit dunkler Haut und vollem Haar die barfuß und würdevoll durch trockene Landschaft lief. Mich durchfuhr eine sehr positive Energie und ein Gefühl von Kraft. Zum Einen strahlte diese Person eine sehr große Ruhe und zugleich auch eine große Entschlossenheit und Kraft aus. Außer Frage stand, dass niemals jemand wagen würde diese Frau zu verletzen oder dass sie sich einschüchtern lassen würde.

Ich sah die Frau die ich gerne sein möchte oder besser gesagt, die ich in meinem Herzen bin – ich bin eine Indianerin.“

All dies ist nun über ein Jahr her. Als wir den Bericht noch einmal lasen spürten wir, wie gleichzeitig eine tiefe Traue und Verwunderung in uns aufstiegen. Wie schnell solche Erkenntnisse doch wieder verloren gehen. Vor einem Jahr empfahl sie jedem und damit natürlich auch sich selbst einschließlich ihres zukünftigen Ichs, sich seinen Ängsten zu stellen, damit sie einen nicht mehr einengen und begrenzen konnten. Es war eine Herausforderung, aber sie befreite ungemein. Wo aber war diese Bereitschaft in den letzten Wochen gewesen? Als wir beispielsweise die Nacht im Wald verbrachten, wo sie sich der Angst vor Geistern stellen wollte und uns für den Schupser in diese Richtung fast gelyncht hätte? Wo war diese Bereitschaft bei der Visionssuche in Bosnien?

An die Stelle der Begeisterung war die Überzeugung getreten, dass es besser war, lieber etwas früher aufzugeben, als es zu versuchen und dann am Ende doch zu scheitern.

Damals hatte sie erkannt, dass ihr Rambo-Syndrom nicht förderlich war und dass es darum ging weich und offenherzig zu werden anstatt hart und kriegerisch.

Doch am Meisten beeindruckten uns die sieben Dinge, die sie auf dem Weg zu ihrem Medizinort loslassen wollte:

Stufe 1: Meine eigene Überheblichkeit

Stufe 2: Manipulatives Verhalten

Stufe 3: den Wunsch immer geliebt werden zu wollen

Stufe 4: Unachtsamkeit

Stufe 5: ungesunde Ernährung

Stufe 6: meinen kranken Körper

Stufe 7: Menschen und Dinge, die mich davon abhalten mein Sein anzunehmen und meine Berufung zu finden.

Es waren genau die Kernthemen, die uns auch jetzt immer wieder begleiteten. Es waren genau jene Punkte, über die wir immer wieder mit ihr sprechen wollten und für die sie uns vorwarf, sie unbegründeter Weise schlecht und nieder machen zu wollen.

Wenige Tage nach ihrer Heimreise hatte sie dann eine Liste mit weiteren Themen geschrieben, an denen sie arbeiten wollte. Dazu gehörte unter anderem das Opferbewusstsein, von dem sie sich im Klaren war, dass sie damit Täter in ihr Leben zog, bei denen es sich überwiegend um Männer handelte, in deren Augen sie eine leichte Beute für sexuelle Gefälligkeiten war. Der Glaubenssatz, der in ihr steckte und den sie bereits damals ausformuliert hatte, lautete: „Mit mir kann man es ja machen!“

Weitere Punkte auf der Liste waren das Gefühl, permanent von anderen abhängig zu sein, sich für die Liebe anderer Menschen immer wieder zu verbiegen und sich vor sich selbst zu schämen und zu ekeln. Auch die Themen mit der Esssucht in Verbindung mit Bulimie als Ausdruck dafür, dass sie sich selbst nicht so lieben und anerkennen konnte, wie sie war, sowie die Tendenz zur Selbstverletzung um sich selbst für ihr eigenes Unvollkommensein zu bestrafen, waren ihr bereits damals vollkommen bewusst.

Als wir all diese Dinge lasen, fühlten wir uns ein bisschen, als würden wir plötzlich aus einem Traum gerissen. In den vergangenen sechs Wochen hatten wir immer wieder geglaubt, vollkommen neue Erkenntnisse gewonnen zu haben, die nun endgültig den Knoten zum Platzen bringen würden, so dass dann ein Leben in Harmonie möglich war. Doch all diese Erkenntnisse waren schon einmal da gewesen. Nichts war neu und vor allem war nichts „unbewusst“ oder „unerwartet“ gekommen. Paulina war nicht von uns in eine Situation gestürzt worden, der sie nicht gewachsen war oder die sie nicht hatte kommen sehen. Sie hatte sich vor einem Jahr selbst genau diese Situation ausgesucht. Nicht trotz eventueller Knackpunkte, sondern genau deswegen!

Am letzten Tag ihres ersten Besuchs bei uns hatten wir gemeinsam eine Liste erarbeitet, auf der lauter Dinge standen, die sie zuhause erledigen wollte, um sich auf ihr Leben als Nomadin vorzubereiten. Auch diese Liste fanden wir nun wieder. Viele der Punkte, die darauf standen hatte sie eine Weile durchgehalten und dann wieder unter den Tisch fallen lassen, ähnlich wie ich es auch immer gerne mache. Doch in diesem Fall waren darunter auch einige Vereinbarungen, die wir als Grundvoraussetzungen für ihr Leben in unserer Herde getroffen hatten. Dazu gehörte, dass sie sich körperlich, geistig und seelisch auf die Reise vorbereiten wollte, so dass sie keine Belastung für die Gruppe sein würde. Sie wollte täglich 2,5Std. trainieren, um körperlich fit zu werden, wollte entgiften, sich gesund, also zucker-, milch-, fluor-, jod-, schweinefleisch- und getreidefrei ernähren, wollte bereits vor der Reise an verwertbaren Texten für Heilungs- und Wildnisbücher arbeiten und sich auf diese Weise gleich einen Grundstock an Wissen aneignen, wollte Wildniskurse belegen um aus das Leben in der Natur vorbereitet zu sein, wollte Traum- und Gefühls-Tagebücher schreiben um sich selbst besser kennenzulernen und um offen für neue Impulse und für ihre eigene Wandlung zu werden.

Was von dem war aber letztlich umgesetzt worden, bis zu dem Termin, an dem sie zu uns gestoßen war? Wenn man es einmal faktisch betrachtet und die Bilanz zieht, dann lautet die traurige Wahrheit: Nichts!

Natürlich hatte Paulina für alles eine gute Erklärung und es ist uns vollkommen bewusst, dass die Vorbereitung nicht deshalb ausgeblieben war, weil sie sich nicht hatte vorbereiten wollen. Doch wie bereits einmal beschrieben hilft ein Training, das man aus gutem Grund nicht absolviert genauso wenig wie eines, dass man einfach aus purer Faulheit schwänzt. Es ging uns an dieser Stelle auch nicht darum, Paulina irgendwelche Vorwürfe zu machen oder etwas in der Richtung. Das Thema war viel mehr, dass wir uns selbst plötzlich noch einmal auf eine andere Art und Weise verstehen konnten. Die tiefe Endtäuschung, die immer wieder in uns aufgetaucht war und die auch jetzt noch immer in uns brannte, kam unter anderem daher, dass wir etwas vollkommen anderes vereinbart hatten, als letztlich eingetroffen war. Anhand von dem, wie wir Paulina vor einem Jahr kennengelernt hatten und wie das Jahr, in dem sie sich zuhause auf ihre Reise vorbereiten wollte geplant war, hatten wir eine gewisse Erwartungshaltung aufgebaut, die einfach nicht erfüllt wurde. Das war niemandes Schuld, denn das Leben läuft nun einmal nicht nach Plan und es liegt in der Natur der Dinge, dass eine Erwartungshaltung, die man einer Sache, einer Person oder einer Situation entgegenbringt grundsätzlich für Leid sorgen muss. Denn jede Erwartungshaltung sorgt dafür, dass man die Dinge so wie sie sind nicht mehr annehmen kann. Eine Erwartung bedeutet, dass wir das Gefühl haben, etwas müsste so sein, wie in unserer Vorstellung. Doch die Chance, dass es genauso ist, geht gegen null und somit ist eine Enttäuschung gewissermaßen vorprogrammiert. Wenn man nun trotzdem an der Erwartung festhält, dann entsteht daraus automatisch der Glaubenssatz, die Realität sei falsch oder schlecht oder müsse anders sein. Doch die Dinge sind wie sie sind und das einzige, was wir machen können um uns selbst kein Leid zuzufügen, ist es, sie so anzunehmen, wie sie nun einmal sind.

Die bloße Tatsache, dass man dies weiß, ändert jedoch leider nichts daran, dass man nicht trotzdem immer wieder eine Erwartungshaltung gegenüber allem Möglichen aufbaut. In diesem Fall hatten wir eine solche Erwartung für unsere Beziehung mit Paulina und jetzt, da wir diese Liste lasen, wurde uns noch einmal wirklich bewusst, warum wir sie hatten.

Fast noch beeindruckender als die Dinge, die Paulina im vergangenen Jahr nicht gemacht hatte war jedoch das, was sie gemacht, oder besser gesagt angefangen hatte, ohne es jemals fertig zu stellen. In ihrer Visionssuche hatte sie festgestellt, dass es eines ihrer größten Probleme war, nicht an einer Sache dranbleiben zu können und auch damit sollte sie Recht behalten. Denn unter den Unterlagen fanden wir auch die vollständige Konzeption einer eigenen Homepage, die sie entworfen hatte und die bis ins kleinste Detail ausgefeilt worden war. Sie hatte bereits ein großartiges Design, schön formulierte Texte, Bilder, Logos und sogar schon einen vielversprechenden Domainnamen eine Guerilla-Marketing-Strategie mit Stempeln, Flyern und ähnlichem bis hin zu verschiedenen Ideen für eine eigene Produktionskette von Schmuck und anderen Dingen zum Verkauf. Das einzige, was noch fehlte war die Veröffentlichung. Es war wie mit der Reise selbst. Sie hatte Unmengen an Energie, Kraft, Kreativität, Mut und Herzblut hineingesteckt, um es zu 90% fertig zu stellen. Dann aber hatte sie die Idee verworfen und sich etwas anderem gewidmet.

Fortsetzung folgt...

 

Spruch des Tages: Sind die ersten 99 Mauern in die Freiheit wirklich so viel leichter zu überwinden, als die letzte?

Höhenmeter: 0 m

Tagesetappe: 3 km

Gesamtstrecke: 11.938,27 km

Wetter: bewölkt, leichter Regen

Etappenziel: Konferenzsaal eines leerstehenden Klosters, 72028 Torre Santa Susanna, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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