Tag 673: Der Lauf der Zeit – Teil 1

von Heiko Gärtner
04.11.2015 22:38 Uhr

Auch in der Nacht arbeiteten die Ereignisse des letzten Tages noch tief in uns. Wir träumten, wälzten uns hin und her, wachten immer wieder auf und kamen kaum wirklich zur Ruhe. Die Gedanken schossen durch unsere Köpfe wie Flintenlaufgeschosse. Was hatten wir falsch gemacht? Hatten wir überhaupt etwas falsch gemacht? Eigentlich ja nein, aber vielleicht irgendwie doch. Nein, wir sicher nicht! Aber Paulina! Die war an allem Schuld! Nein, das stimmte auch wieder nicht! Es waren die Umstände! Wir hatten einfach keine Chance. Zu viele Sachen kamen auf einen Schlag. So viel hätte anders verlaufen müssten. Aber nein! Was-wäre-wenn hat noch niemandem geholfen. Alles war schon genau richtig, so wie es war. Es hätte nicht anders kommen können und sicher hatte alles genau so seinen Sinn! Oder doch nicht?

„Ich weiß ja nicht, wie es dir geht“, sagte Heiko am Morgen „aber ich habe Paulina noch nicht wirklich losgelassen. Rein physisch ist sie zwar nicht mehr hier, aber im Kopf schleppe ich sie noch ordentlich mit mir herum und das fühlt sich gerade nicht wirklich gut an!“

Mir ging es ähnlich und so beschlossen wir eine Meditation zu machen, um Paulina wirklich zu verabschieden, damit wir und sie in Frieden und Freiheit gehen konnten.

Warum warf uns die Trennung eigentlich so durcheinander? Warum beschäftigte und diese Situation so sehr und warum nahmen wir die ganze Angelegenheit als leidvoll und schmerzlich wahr? Im Grunde hatte sich ja nichts verändert. Wir waren eineinhalb Jahre lang zu zweit gewandert und nach einer Kurzen Unterbrechung waren wir nun wieder genau auf diesem Stand. Warum also fühlte es sich so komisch an?

Die Erfahrung, einen für uns wichtigen. geliebten Menschen zu verlieren trat in diesem Moment ja nicht zum ersten Mal in unser Leben. Wir hatten schon viele Menschen kennen, schätzen und lieben gelernt, von denen wir dachten, dass die Verbindung ewig hält, nur um dann zu erleben, dass die besagten Menschen irgendwann einfach wieder aus unserem Leben verschwanden. Dies gehörte zum Leben dazu und war nichts Außergewöhnliches.

Alles befindet sich immer in einer permanenten Wandlung. Alles ist Bewegung, Fluss und Veränderung und dies bedeutet auch, dass stets etwas altes verschwindet, damit etwas neues kommen kann. Da alles im Leben Veränderung ist, kann somit auch jede Form der Beziehung immer nur für eine begrenzte Zeit andauern, ganz gleich ob es sich dabei um eine Freundschaft, eine Partnerschaft, eine Eltern-Kind-Beziehung oder irgendeine andere Form der Beziehung handelt. Selbst unsere Beziehungen zu Gegenständen wie Häusern oder Autos halten immer nur für eine gewisse Zeit und diese Tatsache ist uns nicht unbekannt. Sogar bei der Eheschließung sind wir uns bewusst, dass unser Bund nicht ewig halten kann, auch wenn wir es uns in diesem Moment vielleicht sogar vorstellen. Doch das Gelöbnis lautet nicht „bis in alle Ewigkeit!“ sondern „bis dass der Tod uns scheidet!“

Das Leben ist ein Fluss und funktioniert daher nur, wenn es sich ständig ändert und verwandelt. Es kann keinen Stillstand geben und somit ist auch alles, was in unser Leben tritt nur für eine begrenzte Zeit bei uns. Das ist vollkommen natürlich und wichtig. So wie ständig neue Dinge, Erfahrungen und Beziehungen in unser Leben fließen, müssen stets auch immer alte daraus verschwinden. Andernfalls wären wir irgendwann so sehr in Beziehungen verstrickt, dass wir uns kaum mehr rühren könnten. Stellt euch nur einmal vor, ihr hättet zu jedem Menschen und jedem Tier, dem ihr seit eurer Geburt begegnet seit noch immer einen engen und tiefen Kontakt. Das wäre furchtbar. Wir wären komplett Handlungsunfähig, weil wir stets von Menschenmassen umgeben wären. Selbst wenn wir nicht jeden Menschen sondern nur diejenigen nehmen, zu denen wir einen guten Draht hatten, wäre es noch immer so viel, dass wir es nicht handlen könnten. Es ist wie bei einem Orchesterstück. Zunächst fängt es mit einem oder zwei Musikinstrumenten an, dann kommen weitere hinzu, die eine Symphonie ergeben und schließlich verstummen wieder einige. Würden stets nur neue hinzukommen, wäre es am Ende keine Melodie mehr es wäre der reinste Lärm, den niemand mehr ertragen könnte. Trennung und Verlust sind also ein wichtiger Teil unseres Lebens und ohne sie würden wir nicht funktionieren.

Warum also fühlt es sich oftmals so schmerzhaft an?

Das Problem liegt dabei nicht in der Veränderung, in der Trennung oder im Verlust an sich, es liegt in der Art und Weise, wie wir die Dinge wahrnehmen.

Wir vertrauen uns dem Leben nicht an, sondern glauben, dass wir schöne Momente, Glück, Zufriedenheit und Freundschaften nur unter bestimmten Bedingungen erfahren können. Wenn wir sie erfahren wollen wir sie daher festhalten. Wir klammern sie an uns und hoffen, dass dieser wunderschöne, perfekte und einzigartige Moment niemals vorbeigehen wird. Doch so funktioniert das Leben nicht. Das Leben ist kein Kunstwerk, dass man in eine Vitrine stellt, damit man es bis in alle Ewigkeit unter idealen Lichtbedingungen anschauen kann. Es ist viel eher wie ein Musikstück. Es braucht die Wandlung und den Fluss damit es funktioniert. Es anhalten zu wollen ist ein bisschen, als würden wir auf die Pause-Taste drücken, weil wir Angst davor haben, unser Lieblingslied könnte bald vorbei sein. Doch was passiert, wenn wir die Pause-Taste drücken? Der Klang verstummt. Mann kann ein Lied nicht an der schönsten Stelle anhalten, damit diese nicht verklingt, denn dadurch zerstört man es. Und selbst wenn es einem gelingt, das Orchester einzufrieren, so dass alle ihren Ton halten und genau an der schönsten Stelle verharren, dann wird aus der schönen Melodie plötzlich ein nerviges Störgeräusch, das für alle unerträglich wird. Und genau dies machen wir, wenn wir versuchen unser eigenes Leben anzuhalten, bzw. wenn wir versuchen, etwas festzuhalten, das daraus verschwindet oder längst verschwunden ist. Dieser Versuch ist es, der Leid produziert.

Der Schmerz und das Leid entstehen also nicht deshalb, weil wir uns trennen, weil wir verlassen werden oder weil ein geliebter Mensch stirbt. Sie entstehen, weil wir uns der Situation innerlich verweigern und „Nein!“ dazu sagen. Es sind unsere Gedanken, die unser Leid verursachen, nicht die Situation selbst. Tatsächlich gibt es nichts und niemanden auf der Welt, das uns leiden zufügen kann, außer unsere eigenen Gedanken. Jegliche Form des Leides, die wir irgendwann in unserem Leben verspüren, haben wir durch unsere eigenen unwahren Gedanken selbst erschaffen. Damit beziehe ich mich erst einmal natürlich nur auf seelisches Leiden, denn bei körperlichem Leid in Form von Schmerz ist die Sache ein klein wenig komplexer. Oberflächlich betrachtet ist es dabei natürlich schon möglich, dass uns ein anderer Leid zufügt, in dem er uns beispielsweise mit einem Hammer auf den Daumen schlägt. Tiefergehend betrachtet gelten dabei im Endeffekt zwar auch wieder die gleichen Gesetze wie beim seelischen Leid, aber das würde hier jetzt ein bisschen zu weit gehen. Ich erkläre das irgendwann einmal an anderer Stelle.

Aber zurück zum seelischen oder geistigen Leid. Wir haben eine Menge Überzeugungen im Kopf, aus denen wir unser Weltbild aufbauen. Im Laufe unseres Lebens und vor allem in den ersten Jahren übernehmen wir die meisten dieser Überzeugungen von unseren Eltern oder von anderen Personen, die uns nahestehen und erschaffen so unser Weltbild. Später ziehen wir dann genau diese Glaubensmuster wieder zu rate um alle weiteren Erfahrungen in unser bereits vorhandenes Weltbild einzusortieren. Dabei gibt es einige Dinge, die man verstehen muss, wenn man begreifen will, wie wir als Menschen gestrickt sind.

Denn das Problem bei dieser Art der Welterschließung ist, dass unser Kriterium dabei nicht Wirklichkeitsnähe oder Wahrheit ist, wie wir es gerne behaupten, sondern Glaube und Überzeugung. Wenn wir als Kinder eine Weltsicht von unseren Eltern oder von anderen übernehmen, dann halten wir sie für wahr, ganz gleich ob sie es ist oder nicht. Auf diese Weise erschaffen wir uns in der Regel zwei konträre Weltbilder, die mit der wirklichen Welt leider nicht besonders viel zu tun haben.

Die eine Sicht auf die Welt ist unsere Erwartungshaltung. Wir haben eine Vorstellung davon, wie die Welt sein sollte. Wie diese Erwartung letztlich aussieht ist von Person zu Person unterschiedlich, aber allen ist gemein, dass sich die Welt dummerweise nicht an diese Erwartung hält. Wir glauben beispielsweise dass die Menschen nett zu uns sein sollten, dass uns unser Chef mit Respekt und unsere Kinder mit Dankbarkeit begegnen sollten, dass das Wetter schön sein sollte, wenn wir in den Urlaub fahren und dass uns ein Partner nicht mit einem anderen betrügen sollte, wenn wir gerade eine Beziehung haben. Wir glauben also, dass wir der Welt vorschreiben können, wie sie zu sein hat. Doch die Welt sieht das etwas anders. Sie hält sich nicht an unsere Erwartungen und somit leben wir in einem permanenten Dilemma, weil wir uns die Realität fast immer etwas anders wünschen, als sie gerade ist.

Auf der anderen Seite haben wir aber auch eine Vorstellung davon, wie die Welt ist. Und diese ist paradoxerweise oft das genaue Gegenteil von unserer Erwartung. Weil wir so oft festgestellt haben, dass unsere Erwartung an die Welt enttäuscht und als die Illusion enttarnt wird, die sie nun einmal ist, halten wir die Welt plötzlich für etwas schlechtes. Wir ändern nicht unsere Erwartungshaltung sondern sind sauer auf die Welt als solche und bauen ein paralleles Weltbild auf, das diese Verbitterung zum Ausdruck bringt. Wir glauben also, dass Menschen zwar nett sein sollten, es aber nicht sind. Wir glauben, dass unser Chef ein Arsch ist, unsere Kinder undankbar und unser Partner ein verlogener Dreckskerl.

Auch diese Gedanken haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun und entsprechen nicht der Wahrheit. Denn die Wahrheit ist, dass die Welt ist, wie sie ist. Sie ist weder gut noch schlecht und sie sollte auch nicht anders sein, als sie ist. Indem wir dies jedoch glauben, geben wir die Verantwortung für unsere eigenen Gefühle ab. Wir glauben nun, dass nicht mehr wir für unser Glück und unser Leid verantwortlich sind, sondern die äußeren umstände, die anderen Menschen und die Außenwelt als solche. Anstatt zu überlegen, was wir in unserem Geist ändern können, damit wir mit der Welt so wie sie ist in Zufriedenheit leben können, überlegen wir uns, wie sich die Welt ändern müsste, damit sie uns glücklich machen kann. Diese Gedanken kommen ständig in uns auf und sorgen dadurch permanent für ein latentes Gefühl der Unzufriedenheit. Sie sind es letztlich, die uns dazu veranlassen, immer mehr zu wollen, immer irgendwo anders hinzustreben und immer größer, schneller, reicher und beliebter werden zu wollen. Doch am heftigsten spüren wir ihre Auswirkungen in Momenten, in denen uns eine Situation begegnet, in der wir starke, unangenehme Gefühle verspüren. Wie beispielsweise im Falle einer Trennung oder eines Verlustes.

In diesen Situationen spüren wir dann meist einen starken Schmerz, dem wir uns hilflos ausgeliefert fühlen. Wir glauben, dass wir diesen Schmerz nicht aushalten können, weil er zu groß für uns ist und wir zu sehr leiden müssen. Wir fühlen uns einsam, verlassen, hilflos, deprimiert, traurig oder wütend. Diese Gefühle sind ganz natürlich und gehören ebenso zum Verlust dazu, wie der Verlust selbst zu unserem Leben. Wenn ein Elefantenbaby stirbt, dann bleibt seine Mutter trauernd bei ihm, bis die Leiche des kleinen erkaltet ist. Doch anders als wir versucht sie die tiefen Gefühle, die der Verlust in ihr auslöst nicht zu unterdrücken. Sie spürt sie in ihrer vollen Intensität und lässt sie zu. Wenn ihre Trauerphase vorbei ist geht sie und schaut nicht mehr zurück. Sie lässt ihr Kind in Frieden zurück und lebt selbst in Frieden weiter. Was aber machen wir? Wir versuchen uns an das zu klammern, das wir bereits verloren haben. Wir versuchen es festzuhalten und wir versuchen, das Geschehene ungeschehen zu machen. „Das Hätte nicht passieren dürfen! Wieso muss das ausgerechnet mir passieren? Ich hätte anders handeln müssen! Ich hätte es verhindern können!“ Gedanken wie diese jagen uns durch den Kopf und quälen uns wie Piranhas, die uns bei lebendigem Leib langsam auffressen. Wenn ein geliebter Mensch gestorben ist, kommen meist noch weitere Gedanken hinzu, die vielleicht sogar mehr quälen als alle anderen: „Habe ich mich vor dem Tod richtig verabschiedet? Gab es Dinge die ich noch hätte klären müssen? Waren wir vielleicht sogar im Streit über irgendwelche Nichtigkeiten?“

Jetzt wo ich diesen Text hier schreibe ist Paulina nun schon über einen Monat nicht mehr bei uns. Wir sind inzwischen in Italien, wo wir überwintern werden und ich habe die letzten drei Tage in verschiedenen Klöstern und Pfarrhäusern an den Zeilen gesessen. Es ist ein Text über das Loslassen und darüber, wie quälend es sein kann, wenn man eine Situation des Verlustes nicht akzeptieren kann. Es mag deshalb kein Zufall sein, dass genau jetzt ein Beispiel auf mich zukam, dass mir den Schmerz eines Verlustes, den man nicht akzeptieren kann, noch einmal deutlich vor Augen führte. Deswegen möchte ich dieses Beispiel an dieser Stelle kurz mit einfließen lassen.

Gestern Abend kamen wir nach einem langen und anstrengenden Tag spät abends in einer Priesterschule an, in der wir übernachten durften. Da ich zu erschöpft war, um noch an so komplexen Themen weiterzuarbeiten, wollte ich mich darauf beschränken, einen neuen Tagesbericht einzustellen. Während ich ihn also vorbereitete, klickte ich auf Speichern und wählte dann die Datei aus, in die der Bericht hinein sollte. Doch stattdessen erwischte ich die Datei von meinem Text über das Loslassen und überschrieb ihn. 25 Seiten waren bereits geschrieben und dumm wie ich war, hatte ich zuvor keine Sicherungskopie erstellt. Nur ein kleiner Auszug der Datei, den ich zuvor an Heiko geschickt hatte, war noch da. Die ganze restliche Arbeit der letzten vier Tage war mit einem einzigen unüberlegten Mausklick verschwunden. Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie es in mir brodelte. Schnell stoppte ich alle Programme und suchte im Internet nach einer Lösung um die Datei wieder herzustellen. Ich konnte einfach nicht akzeptieren, dass sie weg war. Das war doch nicht möglich! Bis nachts um drei ließ ich jedes Wiederherstellungsprogramm über meinen Computer laufen, das ich finden konnte. Stundenlang saß ich auf einem Stuhl und klickte tausende von Dateien durch, die fast ausschließlich aus Hieroglyphen bestanden, in der Hoffnung irgendwo zumindest einen Teil des Dokumentes wiederzufinden. Ich konnte einfach nicht loslassen! Ich wollte nicht wahrhaben, dass es wirklich weg war. Hätte ich die simple Tatsache akzeptiert hätte ich bis zu dem Zeitpunkt vielleicht schon einen Großteil selbst wieder herstellen können. So aber musste ich mir um drei Uhr in der Früh eingestehen, dass meine Suche nahezu erfolglos gewesen war. Das einzige, das ich hatte finden können, waren drei kleine Absätze, die ich zur Einleitung geschrieben hatte. Es sind die ersten dieses Textes. Alles andere war weg.

 

Fortsetzung folgt...

 

Spruch des Tages: Das Leben hat keine Pause-Taste. Es funktioniert nur, wenn es im Fluss ist.

Höhenmeter: 69 m

Tagesetappe: 11 km

Gesamtstrecke: 11.991,27 km

Wetter: sonnig und herbstlich warm

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 74020 Montemesola, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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