Tag 675: Der Lauf der Zeit – Teil 3

von Heiko Gärtner
09.11.2015 16:52 Uhr

Fortsetzung von Tag 674:

Der zentralste Sinn ist es vielleicht sogar, uns auf genau dieses Festklammern aufmerksam zu machen, das den Verlust so schmerzhaft macht. Denn die Angst vor Veränderungen sitzt tief in uns und bestimmt unser Leben fast in jeder Sekunde. Wir wissen, dass alles Vergänglich ist, doch wir versuchen es zu leugnen, da uns der Gedanke an Vergänglichkeit Angst macht. Wir wissen, dass wir selbst nur für eine begrenzte Zeit auf der Erde verweilen können, bevor unser Leben wieder endet. Auch dies ist vollkommen natürlich und macht unser Leben nicht schlechter. Im Gegenteil, es macht unser Leben überhaupt erst aus. Es ist eine Reise mit einem Anfang und einem Ende. Es ist ein Traum, den wir zu träumen beginnen, wenn wir auf diese Welt kommen und aus dem wir wieder aufwachen, wenn wir diese Erde wieder verlassen. Das Problem ist nur, dass wir während dieses Lebenstraumes nicht mehr wissen, dass wir träumen und daher glauben, wirklich zu verschwinden, wenn wir sterben. Wir sind von Natur aus geistige, unsterbliche Wesen. Unsere Seelen sind ein Teil der Urquelle und bestehen wie alles andere auch, aus nichts anderem als bedingungsloser Liebe. Wir sind also nichts weiter als Energie, die bekanntermaßen niemals verloren gehen kann. Unser Leben, das wir jetzt im Moment führen ist also nichts weiter als ein Kapitel in einem unendlichen Buch voller verschiedener Erwahrungen. Als unsterbliche Wesen ist uns der Gedanke an ein Ende unserer Existenz also fremd. Doch genau hier liegt das Problem. Sobald wir auf die Welt kommen und nach den Glaubensmustern unserer Gesellschaft erzogen werden, vergessen wir, dass wir unsterbliche, göttliche Wesen sind. Wir glauben, diese Existenz, eingehüllt in diesen einen Körper, sei alles was wir haben und danach ist es mit uns vorbei. Wir sind nun also unsterbliche Wesen, in deren Natur und Bewusstsein so etwas wie der Tod in Form eines Endes nicht vorkommt und auch nicht vorkommen kann, halten uns nun aber für sterblich. Dass und das Angst machen muss, ist eigentlich selbstverständlich. Und dies ist wahrscheinlich auch eines der wesentlichen Dinge, das uns von den meisten Tieren unterscheidet. Denn Tiere vergessen ihren göttlichen und damit unsterblichen Ursprung nicht, wenn sie geboren werden. Sie leben nicht in einer von ihnen selbst erschaffenen Gedankenwelt sondern rein im gegenwärtigen Augenblick und sind damit stets präsent und mit der Schöpfung verbunden. Wir aber glauben, dass wir einzelne, von allem getrennte Wesen sind, die sich vom Rest der Welt unterscheiden und keine direkte Verbindung dazu haben. Wir identifizieren uns mit unserem Verstand unserem Körper und dem, was wir im allgemeinen Ich nennen, da wir vergessen, dass wir eigentlich ein Teil der Schöpfung sind. Wir sind ein Tropfen im Ozean und als solcher verschmelzen wir mit allen anderen Tropfen zu einer einzigen, großen Einheit. Doch durch unsere Überzeugung, ein losgelöstes, auf sich allein gestelltes Individuum zu sein, glauben wir, dass es eine Barriere zwischen uns und allem anderen gibt. Wir glauben, nicht mehr zu sein als dieses eine Leben, dass nur so lange existieren kann, wie unser Körper existiert. Ausgehend von diesem Irrglauben versuchen wir dann, dem Tod zu entgehen, den wir nicht mehr als natürlichen Teil unserer Wandlung von einer Seinsform zur nächsten, sondern als unser Ende betrachten.

Wir haben Angst vor dieser Reise ins Ungewisse und versuchen daher, das Bewusstsein über den Tod komplett aus unserem Leben zu verdrängen. Darum tun wir so, als gäbe es keine Veränderung. Wir leben in einer hektischen Welt, die stolz darauf ist, ständig fortschritte zu machen, doch wir wollen nicht wahr haben, dass unsere Zeit hier begrenzt ist. Deshalb hassen wir alles, was uns an diese Begrenztheit erinnert und versuchen unsere Augen davor zu verschließen. Doch da das Leben selbst Wandlung und Veränderung bedeutet, verschließen wir so automatisch unsere Augen vor dem Leben selbst. Wir fallen in eine Art Tiefschlaf und leben meist völlig unbewusst. Wir konzentrieren uns auf künstliche, selbsterschaffene Konstanten, von denen wir glauben, dass sie unendliche Wichtigkeit besitzen, auch wenn wir keinen blassen Schimmer haben, warum das so sein sollte. Wir glauben, dass wir unsere Arbeit erledigen, unsere Kredite abfinanzieren, die Kunden zufriedenstellen oder unsere Partner glücklich machen müssen. Wir erschaffen uns enge Terminkalender und versuchen immer hektischer immer mehr und noch mehr zu erledigen, von dem wir glauben, es sei zwingend notwendig. So steuern wir wie Zombies beinahe willenlos durch die Gegend, hetzen und stressen uns und versuchen ständig irgendwo anzukommen. Wenn wir es dann geschafft haben, erkennen wir, dass es uns nichts bringt und steuern wieder ein neues Ziel an, nur um uns davon abzulenken, dass wir eigentlich nur Angst vor der Leere in unserem Leben haben. Eine Leere, die entsteht, weil wir uns vor dem eigentlichen Leben verschließen. Wir haben angst davor, über uns selbst nachzudenken und uns bewusst zu machen, dass unser Leben eigentlich einen Sinn hat. Anstatt also im Lebensfluss zu schwimmen und uns über die zeitlich begrenzte Erfahrung in diesem Körper zu freuen, schalten wir eine Art Autopilot an, der aus den Glaubensprogrammen besteht, die wir von unseren Eltern oder anderen Bezugspersonen übernommen haben. Wir hinterfragen weder uns selbst noch unsere Überzeugungen und merken oft gar nicht in welche Richtung wir uns eigentlich bewegen. Dabei reden wir uns selbst ein, es würde ewig so weitergehen, es gäbe keine Veränderung und keinen Tod. Jeden Gedanken daran verdrängen wir aus unserem Bewusstsein und wir verabscheuen alles, was uns wieder daran erinnert. Deswegen mögen wir es nicht, wenn uns unser Körper zeigt, dass wir Krankheiten, Gebrechen oder Belastungen haben. Wir kleistern uns Anti-Aging-Cremes ins Gesicht und versuchen jede Falte und jedes graue Haar zu übertünchen, weil wir nicht wahr haben wollen, dass wir altern. Und wir verdrängen auch jeden Gedanken an einen Verlust von anderen, denn dieser muss uns automatisch an unsere eigene Sterblichkeit erinnern. Doch gerade weil wir diese Gedanken verdrängen muss uns das Leben wieder daran erinnern, denn nur wenn wir uns bewusst sind, dass es auch einen Tod und einen Verlust gibt, können wir wirklich ins leben kommen. Wenn wir also einen Verlust erleiden, dann reißt uns dieser automatisch aus unserem Dornröschenschlaf, der uns vom bewussten Leben abhält. Wir spüren plötzlich wieder, dass das Leben kein Stillstand sondern Bewegung ist und vielleicht ist dies genau der Anstoß, den wir brauchen um den Automatik-Modus u verlassen und unser Leben bewusst selbst in die Hand zu nehmen.

So wie der Verlust ein allgemeiner Weckruf aus der Unbewusstheit sein kann, kann er aber auch ein gezielter Befreiungsschlag aus einem Abhängigkeitsverhältnis sein. Oft kommt es vor, dass wir uns zu sehr um andere Menschen kümmern, vor allem wenn uns diese Menschen besonders am Herzen liegen. Dabei stellen wir unsere eigenen Bedürfnisse hinter denen des anderen zurück, da wir besonders für ihn da sein wollen. Dies ist jedoch gegen das Gesetz der Liebe, denn auf diese Weise gehen wir selbst verloren. Bedingungslos zu lieben bedeutet auch alles gleichermaßen zu lieben und dies schließt uns selbst ein. Wenn wir uns also vernachlässigen und hinter jemand anderem zurückstellen, dann mag sich das zwar im ersten Moment edel anhören, doch es ist weder für uns noch für den anderen auf Dauer hilfreich.

Die Schöpfung ist ein einziger, lebendiger Organismus. Alles ist also miteinander verbunden und letztlich ist alles eins. Für die Natur ist also alles genau gleich viel wert. Es gibt keinen Unterschied, ob es sich dabei um einen Wurm, einen Elefanten, einen Menschen oder einen Stein handelt. Wenn ein Tier ein anderes jagt, dann ist es für die Natur egal, ob es gelingt oder nicht. Es macht keinen unterschied, ob der Wurm, die Mücke, die Maus, der Fuchs oder der Mensch stirbt. Entweder überlebt der eine oder es überlebt der andere und somit ändert sich unterm Strich nichts. Wenn wir uns also aufopfern um einem anderen zu Helfen, dann hat die Natur daraus keinen Mehrgewinn erzielt. Dass was an Plus bei einem ankommt, fehlt beim anderen. Einen Beitrag leisten können wir nur dann, wenn wir für uns selbst und für die Schöpfung gleichermaßen sorgen. Stellen wir uns und unsere Bedürfnisse zurück, weil wir glauben, einem anderen damit helfen oder ihn stolz machen zu müssen, dann führt dies zu einer Unzufriedenheit in uns selbst und es entsteht ein Ungleichgewicht, dass die natürliche Ordnung stört. Jeder Mensch und jedes Wesen hat eine bestimmte Aufgabe, für die es auf der Welt ist. Diese Aufgabe zu vernachlässigen, weil man glaubt, weniger wert zu sein, als jemand anderes, kann nur zu Leid führen. Doch weil wir uns oftmals so sehr an diese Art der Beziehungen gewöhnt haben, merken wir gar nicht mehr, dass wir uns selbst aufopfern. Teilweise vergessen wir unsere eigenen Träume sogar und glauben, unsere Lebensaufgabe bestünde einzig und allein darin, für den anderen da zu sein. In diesem Fall kann und der Verlust eben dieses Menschen zeigen, dass wir auch ein eigenes Leben haben. Es ist eine Art Zeichen des Universums, um uns aufzufordern, wieder für uns selbst zu sorgen und uns zu fragen, was wir wirklich von ganzem Herzen wollen. Oft kommt dieses Erwachen bei Menschen vor, die viele Jahre verheiratet waren. Wenn dann einer der Partner stirbt, passiert es häufig, dass der andere noch einmal richtig auflebt und lauter Dinge tut, von denen er selbst nicht einmal mehr wusste, dass er sie tuen kann und möchte. Der gleiche Effekt tritt aber auch auf, wenn sich Kinder von ihren Eltern lösen, oder Eltern ihre Kinder aus dem Nest entlassen. Die Eltern entdecken dann häufig, dass sie nicht nur Eltern sondern auch Menschen mit eigenen Bedürfnissen sind und die Kinder erkennen, dass sie ihr Leben nach ihren Regeln und nicht nach denen der Eltern leben können.

Im letzten Sommer habe ich diese Erfahrung mit meinen eigenen Eltern gemacht. Es war mir zuvor nie bewusst gewesen, wie sehr ich meine Wünsche und Bedürfnisse zurückgestellt hatte um es meinen Eltern recht zu machen. Erst als ich mich damals dafür entschied, den Kontakt zu beenden, wurde mir klar, dass ich unbewusst auch in der Ferne immer so gehandelt hatte, wie ich glaubte, dass es meinen Eltern recht wäre. Auch mit Paulina hatten wir ein ähnliches Szenario durchgespielt. Seit sie zu uns gekommen ist, wurde sie zum Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Das war keinesfalls ihre Absicht und unsere war es auch nicht, es schlich sich nur einfach ein. Heiko und ich kannten uns nun durch das jahrelange Zusammenleben gegenseitig in etwa genauso gut wie uns selbst und auch wenn wir stets an unseren eigenen Themen arbeiteten, waren diese für uns doch längst nicht mehr neu. Anders war es bei Paulina. Sie war ein bisschen wie ein Wesen aus einer fremden Welt und sie brachte einen ganzen Berg an Themen mit, die für uns so offensichtlich waren, dass wir einfach nicht anders konnten, als uns damit zu befassen. So drehten sich am Ende fast all unsere Gespräche um das, was gerade in Paulina präsent war, während wir unsere eigenen Themen deutlich zurück nahmen. In meinem Fall änderte das zwar nicht viel, weil die meisten Themen von Paulina ja auch meine waren, aber trotzdem verlagerte sich der Fokus. Ohne es wirklich zu beabsichtigen strukturierten wir unseren Alltag, unsere Arbeitsweise und sogar unseren Streckenverlauf um die Bedürfnisse von Paulina herum und verloren dabei nicht selten das große Ganze aus den Augen. Auf diese Weise entstand ein Ungleichgewicht in unserer Herde, das sowohl für Heiko und mich als auch für Paulina eine Belastung war. Da es uns nicht gelang, das Gleichgewicht wieder herzustellen und für eine Harmonisierung in der Gruppe zu sorgen, weil jeder Versuch in diese Richtung das Gewicht noch mehr auf Paulinas Seite verlagerte, musste die Schöpfung am Ende selbst für ein Gleichgewicht sorgen und unsere Herde trennen, damit wieder eine Balance entstehen konnte.

Doch schließlich gibt es noch eine weitere Funktion, die ein Verlust erfüllen kann. Alles, was in unserem Leben passiert spiegelt unsere Gedanken und Überzeugungen. Die Welt ist das, wofür wir sie halten. Das bedeutet, dass wir nichts erleben können, das wir nicht zuvor in unseren Gedanken selbst erzeugt haben. Unsere Erlebnisse sind wie eine Spiegelfläche, durch die wir einen Blick auf unsere eigenen, inneren Glaubensstrukturen werfen können. Wenn wir also einen Verlust erleben, dann zeigt uns dieser Verlust, dass wir in unserem inneren eine tief verwurzelte Verlustangst hegen, die aufgrund einer alten Wunde entstanden sind, die nie wirklich verheilen konnte. Im Bauch unserer Mütter sind wir noch direkt mit ihrem Organismus verbunden. Wir nehmen nicht nur ihre Stimmungen und Gedanken sondern auch ihre Worte, ihre Bewegungen und alles wahr, das ihr Leben ausmacht. Dann aber kommen wir in ein Krankenhaus, werden aus ihrem Leib gerissen und landen in einer grellen, kalten, sterilen und lauten Welt. Noch ehe wir uns recht besinnen können wird dann mit einem schnellen Schnitt die letzte Verbindung zu unserer Mutter gekappt. Plötzlich sind wir alleine und anstatt liebevoll aufgenommen und getröstet zu werden bekommen wir einen Schlag auf den Hintern, der uns so erschreckt, dass wir zum ersten Mal in unserem Leben vor Angst zu schreien beginnen. Unsere Lungenflügel sind wie die Flügel eines jungen Schmetterlings noch klein zusammengefaltet und nicht in der Lage, große Mengen an Luft aufzunehmen. Durch den Schreck saugen wir dennoch mit einem Zug Luft ein und zwingen unsere Lungen dadurch sich mit einem einzigen schnellen Ruck auszufalten. Dies ist das eigentlich schmerzhafte an der Situation. Und die ganze Zeit über sind wir vollkommen allein in einer für uns unbekannten und unwirtlich wirkenden Welt. Wie will man sich da nicht alleingelassen fühlen?

Fortsetzung folgt...

 

Spruch des Tages: Segne die Gegenwart. Vertraue dir selbst. Erwarte das Beste. (Huna-Leitsätze)

Höhenmeter: 90 m

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 12.023,27 km

Wetter: sonnig und herbstlich warm

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 74016 Massafrata, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare