Tag 678: Was glauben wir wirklich?

von Heiko Gärtner
09.11.2015 17:24 Uhr

Fortsetzung von Tag 677:

Es kommt nicht so sehr darauf an, was wir denken, sondern viel mehr darauf, was wir glauben. Der Glaube, dem wir einem Gedanken schenken ist gewissermaßen die Maßeinheit für seine Macht. Wenn ich nun also denke „Jetzt in diesem Moment kommt ein frischer, saftiger Pfirsich zum Fenster hereingeflogen“, dann denke ich das zwar, halte es aber selbst für ausgemachten Blödsinn. Denke ich hingegen „Wenn ich meine nackten Füße aus diese kalten Fliesen stelle, dann werde ich kalte Zehen bekommen“, dann bin ich davon vollkommen überzeugt und somit wird das Ereignis auch eintreffen. Wichtig dabei ist aber zu verstehen, dass der Erfolg der Gedanken nichts mit einer objektiven Wirklichkeit zu tun hat, sondern nur mit unserer inneren Überzeugung. Es geht nicht darum, ob ein Gedanke wahr ist, sondern ob wir ihn für wahr halten.

So gibt es beispielsweise im Amazonasgebiet einen Stamm, in dem die Kinder von klein auf von ihren Eltern lernen, dass sich der Körper stets zu 100% wieder regeneriert, wenn er verletzt wurde. Dies gilt nicht nur bei Schnupfen und einer Schramme am Knie, sondern sogar für so große Verletzungen wie abgetrennte Finger oder ausgeschlagene Zähne. Die Kinder, die ihren Eltern glauben und zu 100% davon überzeugt sind, dass dies die Wahrheit ist, entwickeln diese Selbstheilungskräfte wirklich, so dass ihnen abgetrennte Gliedmaßen oder ausgeschlagene Zähne einfach wieder nachwachsen.

Ihr sagt, das ist unmöglich? Genau das meine ich mit der Kraft des Glaubens. Wenn ich euch nun erzähle, dass Haie die Fähigkeit besitzen, sich ihre Zähne jederzeit nachwachsen zu lassen, dann werdet ihr diese Zweifel nicht haben und mir wahrscheinlich sagen, dass dies nicht neu für euch ist. Warum aber sollte ein Hai sich die Zähne nachwachsen lassen können und ein Mensch nicht? Warum sollte unser Körper im Embryonalstadium die Fähigkeit besitzen, Knochen und Glieder zu formen, später aber nicht mehr? Warum heilt ein gebrochenes Bein, sodass Knochenmasse nachgebildet werden muss, ein abgetrenntes Bein kann dies aber nicht? Warum können unsere Zähne als Kinder einmal neu gebildet werden, danach aber nie wieder?

Der Punkt ist, dass es dafür rein biologisch keinen Grund gibt. Es gibt aber einen auf unserer Glaubensebene. Wir „wissen“ dass es nicht so ist und dadurch erleben wir es auch so.

Würden jetzt rein unsere Gedanken unser Weltbild formen, dann müsstet ihr nun in der Lage sein, auch eure Finger nachwachsen zu lassen, denn den Gedanken habt ihr nun. Probiert es aber bitte nicht aus, denn es wird nicht klappen. Denn was euch noch immer fehlt ist die Überzeugung. Ihr seit davon überzeugt, dass ein abgetrennter Finger für immer verloren ist, es sei denn, er wird rechtzeitig wieder angenäht. Diese Überzeugung habt hier allein durch eure Erziehung und durch eure ersten Wahrnehmungen in eurem Leben von den Menschen aus eurer Umgebung übernommen und sie ist fest in eurem Gehirn verankert. Ein neuer Gedanke, auch wenn er sinnvoll erscheint, kann den alten nicht so einfach ersetzen, weil wir dazu stärker an ihn, als an den alten glauben müssten.

Wir müssen unsere Kindheitsüberzeugung also durch die neue Überzeugung ersetzen, was jedoch nicht ganz so leicht ist. Denn es gibt hierbei einen großen unterschied zwischen einer wirklichen Überzeugung und einer geglaubten. Es kommt häufig vor, dass wir glauben etwas zu glauben, weil es sich schlüssig für uns anhört oder weil wir es ein paar Mal von jemandem aufgeschnappt haben, der dabei sehr überzeugend war. Doch solange in uns eine alte Überzeugung haben, die im Widerspruch zur neuen Idee steht, können wir sie nicht vollständig aufnehmen.

Dies ist auch der Grund, warum unser „positives Denken“ meist nicht funktioniert. Wir befinden uns in einer Situation, die uns missfällt und reden uns ein, dass wir sie einfach nur positiv sehen müssen, dann wird schon alles gut. Das stimmt auch und trotzdem will es nicht klappen. Der Grund ist, dass wir zwar glauben wollen, dass alles gut wird, es aber nicht wirklich tun. Wir sind nicht davon überzeugt.

Und hier stoßen wir dann auf einen weiteren Irrtum im Umgang mit Gedanken, der uns auch in Gesprächen oft widerfährt. Wir glauben häufig, dass etwas überzeugender oder gar wahrer wird, wenn wir es besonders laut oder besonders oft sagen. Gerade hier in Italien begegnet uns das in Gesprächen mit den Einheimischen sehr oft. Aufgrund der Sprachbarriere verstehen wir etwas nicht und sofort glaubt der Gesprächspartner, dass es besser wird, wenn er es noch einmal wiederholt und dabei lauter wird. Das gleiche machen wir auch oft, wenn jemand einer anderen Meinung ist. Anstatt uns zu fragen, was ihn vielleicht überzeugen könnte, wiederholen wir ein uns das selbe Argument immer und immer wieder und schreien es ihm am Ende fast ins Ohr.

Die gleiche Taktik wenden wir mit dem gleichen Misserfolg auch immer wieder gerne bei unseren Gedanken an.

Permanent wiederholen wir Gedanken wie „bleib locker!“ „entspann dich!“ „kein Grund, dich aufzuregen!“ Ja, wir schreien uns innerlich mit diesen Gedanken fast an. Doch kaum eine Sekunde später sind die guten Vorsätze vergessen und wir handeln wieder genau wie die tausend Male zuvor. Warum?

Weil ein Gedanke nicht an Macht gewinnt, weil er besonders Laut oder oft gedacht wird. Entweder, er überzeugt uns oder eben nicht. Wenn er uns nicht überzeugt, dann können wir ihn zwar immer wieder vor uns hersagen, aber er wird nichts ändern.

Es ist wie bei einer Diskussion mit anderen Menschen. Wenn jemand besonders energisch einen Standpunkt vertritt, wenn er laut wird und seine Meinung ständig wiederholt, dann schafft er es vielleicht, die Diskussion an sich zu reißen und alle anderen für einen Moment zum schweigen zu bringen. Doch sie werden ihre eigene Meinung dadurch nicht ändern und sobald der Redner verstummt werden sie wieder nach dem handeln, was sie am meisten überzeugt und nicht nach dem, was am lautesten geschrien wurde.

Oft sind es gerade die unauffälligen, gewohnheitsmäßigen Gedanken, denen wir den meisten Glauben schenken. Jene Gedanken, die so normal für uns geworden sind, dass wir sie gar nicht mehr richtig als Gedanken erkennen. Wir denken sie nicht mehr laut und bewusst, aber wir denken sie. Und genau diese Gedanken sind unsere Überzeugungen. Es ist das, was wir selbst als unser Wissen bezeichnen.

Wenn wir nun also denken: „Die Situation ist genau so, wie sie sein sollte und alles ist so richtig wie es ist“ dann ist dies ein recht neuer Gedanke, den wir gerade erst erkannt haben. Er leuchtet uns ein und er erklärt viele Zusammenhänge, die sich durch unser altes Weltbild nicht erklären ließen. Dennoch ist unser altes Weltbild durch diesen Gedanken nicht verschwunden. Es ist noch immer in uns und da wir die Überzeugungen aus denen es aufgebaut ist, schon seit unseren Kindertagen fest verankert haben, lässt es sich durch eine neue Idee nicht so leicht ins Wanken bringen. Diese Überzeugungen haben bei unseren inneren, gedanklichen Diskussionsrunden noch immer einen festen Platz am Rednerpult und sie besitzen noch immer ein Stimm- und ein Veto-Recht. Auch wenn wir also auf einer Ebene wissen, dass weder Paulina noch wir etwas verbockt haben und dass wir alle diese Situationen genau so benötigten, um wachsen zu können, gibt es auf einer anderen Ebene immer auch die alten Überzeugungen, die dagegen wettern. Anders als die neuen Ideen, die gerade zur Tür hereinkommen und dadurch die ganze Aufmerksamkeit unseres Bewusstseins auf sich ziehen, verbergen sich die alten Überzeugungen jedoch im Hintergrund. Sie stehen daher nicht auf dem Prüfstand und auch wenn sie uns heute keine Sekunde mehr überzeugen könnten, behalten sie ihre Macht allein schon dadurch, dass wir sie nicht mehr hinterfragen. So blödsinnig sie auch sein mögen, man erkennt ihre Inhaltsleere nur dann, wenn man weiß, dass man diese Gedanken überhaupt hat. Solange man sich dessen nicht bewusst ist, vertraut man ihnen blind und handelt nach ihnen, ohne zu wissen warum. Doch auch wenn sie uns bewusst werden, lassen sie sich oft nicht so ohne weiteres abschütteln. Sie haben einen Stammplatz in unserem Verstand solange wir Denken können und wir haben uns sehr stark an sie gewöhnt. Je älter und tiefgreifender eine Überzeugung ist, desto schwerer ist es sie loszulassen oder zu verändern. Denn die ältesten sind auch die hartnäckigsten, sie haben eine ganze Reihe an Tricks, mit denen sie sich immer wieder aus unserem Bewusstsein schleichen um im Verborgenen weiter zu agieren. Selbst wenn wir sie in einer Situation erkannt und entlarvt haben, kann es sein, dass sie in einer neuen Situation, die sich vielleicht nur um Nuancen von der anderen unterscheidet, wieder versteckt auftaucht. So kommt es, dass wir häufig das Gefühl haben, etwas wichtiges in uns gelöst und befreit zu haben, dann jedoch merken, dass sich unser Leben deshalb noch nicht großartig verändert und dass wir auch im Nachhinein noch immer die gleichen „Fehler“ machen und die gleichen Gefühlsketten durchlaufen. Was sich über unser ganzes, bisheriges Leben in uns verankern konnte, lässt sich nicht von einer Sekunde auf die nächste entfernen. Wobei auch dies nur eine Überzeugung ist, die ich habe, weil sie zum Rest des Weltbildes passt, das ich mir als Kind aufgebaut habe.

Dies versteckten und tief verankerten Überzeugungen sind es jedenfalls, die unser aktives Denken, unsere Gefühle, unsere Wahrnehmung und unsere Handlungen maßgeblich beeinflussen. Auf diese Weise tauchen immer wieder Gefühle in uns auf, die wir uns nicht wirklich erklären können. Doch genau dies ist die Aufgabe der Gefühle. Sie zeigen uns, dass wir Gedanken in uns haben, von denen wir überzeugt sind, obwohl sie vielleicht längst keinen Bestand mehr haben und obwohl sie keinen Wahrheitsgehalt in sich tragen. Durch sie können wir also erkennen, was es alles in uns denkt, damit wir diese Gedanken dann noch einmal bewusst auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen können.

Fortsetzung folgt...

 

Spruch des Tages: Unsere Welt ist das Produkt unserer Überzeugungen

Höhenmeter: 130 m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 12.069,27 km

Wetter: sonnig und herbstlich warm

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 74014 Laterza, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare