Tag 679: Ist das wirklich wahr? – Teil 1

von Heiko Gärtner
09.11.2015 17:37 Uhr

Fortsetzung von Tag 678:

Unser nächster Schritt an diesem Morgen war es nun also, uns der Gedanken, die wir im Zusammenhang mit Paulina und ihrem Fortgang in uns hatten erst einmal wirklich bewusst zu werden, damit wir sie überhaupt auf den Prüfstand stellen konnten. Wenn sie uns erst einmal bewusst waren, dann konnten wir auch prüfen, ob sie wirklich wahr waren oder ob es vielleicht an der Zeit war, sie aufzulösen.

Noch einmal versetzten wir uns in den Moment der Trennung zurück und dachten ganz bewusst darüber nach. Welche Gedanken kamen dabei in uns auf? Da wir kein Papier hatten, tippte jeder von uns die Sätze, die ihm in den Sinn kamen in seinen Computer. Nicht selten mussten wir dabei grinsen, denn einige der Sätze kamen uns schon komplett lächerlich vor, als wir sie nur aufschrieben. Doch wir zensierten nichts. Gerade die Gedanken, die besonders viel in uns auslösten, die uns besonders unangenehm oder peinlich waren, die wir selbst komisch fanden oder die besonders starke Gefühle in uns auslösten, waren es, die besonders wichtig waren.

Einige der Gedankensätze kamen sowohl bei Heiko als auch bei mir vor. Darunter waren zum einen Vorwürfe an Paulina wie die folgenden:

  • Paulina ist schuld daran, dass es mit unserer Herde nicht funktioniert hat, weil sie nicht bereit war, etwas zu lernen.
  • Mit ihrer Unfähigkeit eine klare Entscheidung zu treffen, hat sie alles kaputt gemacht.
  • Wieso konnte sie nicht einfach zu sich selbst, zu ihrem Leben und zu uns stehen?
  • Sie ist gemein, hinterhältig und manipulativ und hat.
  • Sie wollte nie wirklich ein Teil unserer Herde sein und hat uns nur als Sprungbrett benutzt.
  • Sie ist undankbar! Alles was wir für sie getan haben tritt sie mit Füßen!
  • Sie hat es gar nicht verdient, ein Teil unserer Herde zu sein.
  • Sie hat nur auf unsere Kosten gelebt und jetzt haut sie einfach ab!
  • Wie kann man so blöd sein und nach dem, was sie alles verstanden hat, einfach gehen und sein Leben wegwerfen?
  • Sie ist schuld daran, dass es uns jetzt nicht gut geht und dass wir so viel Chaos im Kopf haben.
  • Sie hat uns als Herdenmitglied eh nichts gebracht, weil sie nie ins Erschaffen gekommen ist und uns mehr Arbeit verursacht als abgenommen hat.

Gleichzeitig waren aber auch jede Menge Vorwürfe gegen uns selbst dabei:

  • Wir hätten nicht so streng mit ihr sein dürfen!
  • Wir sind als Herde gescheitert, weil wir nicht gut genug waren!
  • Wir haben als Freunde und Mentoren versagt!
  • Wir sind schuld, dass es nicht funktioniert hat, weil wir ihr mehr Zeit hätten geben sollen!
  • Wir hätten sie gar nicht erst kommen lassen dürfen. Es war ja von vornherein klar, dass es nicht klappen würde und so haben wir nur ihr und uns geschadet.
  • Wir haben sie im Stich gelassen.
  • Wir hätten viel mehr auf uns selbst achten müssen und schon viel früher einen Strich ziehen sollen!
  • Wenn ihr jetzt etwas zustößt ist es unsere Schuld!
  • Wir sind dafür verantwortlich, dass es ihr jetzt nicht gut geht!
  • Was stimmt nur nicht mit uns, dass wir es einfach nicht akzeptieren können, wenn ein Mensch seinen Raum braucht und wir uns deswegen eingeengt fühlen?

Dann waren da die Vorwürfe an die Situation selbst, an das Universum und an den ganzen Rest:

  • Die ganze Aktion war sinnlos und hat uns nur geschädigt!
  • Man kann sich einfach auf niemanden verlassen!
  • Das hätte nicht passieren dürfen!
  • Wie sollen wir jemals eine Herde finden, wenn es mit Paulina nicht geklappt hat?
  • Es kann doch nicht sein, dass wir so viel investieren und am Ende kommt doch wieder nichts dabei heraus!
  • Wir hatten niemals eine echte Chance! Die Umstände waren einfach zu krass!

Natürlich hatte jeder von uns auch noch eigene Gedankensätze im Kopf, die der andere nicht oder nur bedingt teilte. Bei Heiko waren unter anderem die folgenden vorne mit dabei:

  • Auf Frauen kann man sich einfach nicht verlassen! Immer wenn ich eine Frau mag wird es kompliziert und am Ende ist eine Trennung unausweichlich!
  • Ich habe als Freund und als Heiler versagt!
  • Sie hat mich nie wirklich geliebt sondern immer nur benutzt, weil ich der leichteste Weg in die Freiheit für sie war.
  • Wenn es mit Paulina nicht geklappt hat, dann wird es niemals klappen! Es gibt einfach keine Frau, mit der ich wirklich glücklich werden kann.
  • Wieso falle ich immer wieder auf die gleichen Fehler rein, so dass am Ende immer wieder das gleiche Desaster dabei heraus kommt.

Meine eigenen Gedanken sahen hingegen eher so aus:

  • Oh mein Gott! Wenn Paulina es nicht geschafft hat, sich zu wandeln, wie soll ich es dann jemals schaffen?
  • Wie sehr hätten wir uns gegenseitig unterstützen können und nun ist diese Chance vorbei!
  • Ich habe kein Recht sauer auf sie zu sein, weil ich wahrscheinlich in ihrer Situation genauso gehandelt hätte. Und trotzdem bin ich genau aus diesem Grund sauer auf sie!

Gleichzeitig kamen aber auch hier wieder viele Gedanken auf, die sich nicht auf Paulina sondern auf meine Eltern bezogen:

  • Meine Eltern sind Schuld an meinen Lebensthemen!
  • Sie sind schuld daran, dass ich nicht in vollkommener Gesundheit lebe.
  • Sie engen mich ein und machen mich krank!
  • Ich habe kein Recht, mein eigenes Leben zu leben.
  • Ich bin ein schlechter Sohn, weil ich nicht so bin, wie es meine Eltern von mir erwarten.
  • Meine Eltern sind schlechte Eltern, weil sie überhaupt etwas von mir erwarten und mich nicht einfach so sein lassen, wie ich bin.
  • Ich muss meine Eltern stolz machen und bin ein schlechter Sohn, wenn ich das nicht kann oder will.
  • Ich brauche die Anerkennung meiner Eltern um glücklich zu sein.
  • Ich bin ein schlechter Mensch, weil ich den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen habe.
  • Meine Eltern müssen mich lieben und ich muss meine Eltern lieben.
  • Meine Eltern müssen mich so akzeptieren wie ich bin!
  • Wenn meine Mutter nicht einsehen will, dass ich auf dem richtigen Weg bin, dann soll sie bleiben wo der Pfeffer wächst.
  • Mein Vater ist ein schlechter Vater, weil er nicht zu mir steht.
  • Meine Mutter will mich nur manipulieren und verdrehen, damit sie mit mir angeben kann und dafür Anerkennung bekommt.
  • Ich bin ein Nichtsnutz und deswegen lieben mich meine Eltern nicht.
  • Nur wenn ich den Kontakt zu meinen Eltern abbreche, kann ich wirklich frei sein!
  • Ich muss mich mit meinen Eltern aussöhnen, sonst werde ich es immer bereuen, wenn sie sterben.
  • Weil wir keinen Kontakt haben, heißt das automatisch, dass kein Frieden zwischen uns herrscht.

Nachdem wir die Sätze zusammengetragen hatten, lasen wir sie uns abwechselnd gegenseitig noch einmal laut vor und achteten darauf, welche von ihnen besonders viele oder starke Gefühle bei uns auslösten. Diese markierten wir dann in einer anderen Farbe. Dann leitete Heiko eine Übung an, die er vor ein paar Tagen beim Recherchieren entdeckt hatte. Sie wurde von der Amerikanerin Byron Katie unter dem Namen „The Work“ entwickelt, die sich sehr intensiv und tiefgründig mit dem Thema Gedanken und Überzeugungen auseinandergesetzt hat. In ihrer Arbeit geht es genau um die Frage, welche unserer Gedanken wir glauben und ob sie es wirklich verdient haben, dass wir sie glauben. Bevor wir uns jedoch an die Übung machten, nahmen wir uns noch einmal einen Moment Zeit um nach innen zu spüren und zu prüfen, ob wir auch wirklich bereit waren, unsere eigenen Gedanken zu hinterfragen. Waren wir bereit, zu prüfen, ob das was wir glaubten oder dachten, wirklich wahr sein konnte? Oder ob es nicht vielleicht sogar das Gegenteil der Wahrheit war? Waren wir bereit, wirklich auf unser Gefühl und unser Herz zu hören um herauszufinden, was wirklich wahr war, oder wollten wir weiterhin blind dem Plappermann unseres Verstandes vertrauen, dass seine konstruierten Ansichten schon irgendwie stimmten?

Denn ein Lernschritt wie dieser kann nur funktionieren, wenn man sich darauf auch wirklich einlässt. Wenn man das Gefühl hat, dass der eigene Verstand oder das Ego auf sein Recht beharren will und es einem unmöglich macht, einen Gedanken wirklich zu prüfen, dann ist die Übung in diesem Augenblick zwecklos. Wenn das der Fall ist, dann spürt man meist einen inneren Widerstand oder ein Gefühl von Trotz, Groll, Hader, Ärger, Wut oder Selbstmitleid. Es ist dann besser, erst einmal alles auf sich beruhen zu lassen und später noch einmal zu prüfen, ob man bereit ist. Das gilt übrigens nicht nur für diese Übung sondern für jede Art von Lern- oder Veränderungsprozess. Wenn man nicht bereit ist, etwas anzunehmen und spürt, dass man sich innerlich dagegen sträubt, dann verinnerlicht man es eh nicht und kann sich die Zeit sparen. Im Nachhinein betrachtet ist dies wohl auch einer der Gründe, warum unsere Gespräche mit Paulina immer so ausgeufert sind. Wir waren zwar bereit, ihr die Sachverhalte zu erklären, doch sie war oft nicht bereit, sie wirklich anzunehmen. Das Hadern und das innerliche Sträuben war sogar für uns spürbar gewesen doch hatten wir geglaubt, dass es nur eine Erstreaktion war, die auf dem noch fehlenden Verständnis basierte. Sobald der Groschen gefallen war, würde sich auch der Widerstand auflösen und das Aha-Erlebnis würde sie sowohl begeistern als auch überzeugen. Doch das war nicht der Fall. Es konnte nicht der Fall sein, weil der Groschen nicht fallen konnte, da sie sich innerlich dagegen sträubte. Nur wussten wir das in diesem Moment noch nicht.

In uns kam nun aber ein solches Gefühl nicht auf. Im Gegenteil, wie waren eher gespannt und neugierig, was uns die Übung bringen würde.

„Such dir mal einen deiner Sätze aus, der für dich besonders brisant und gefühlsgeladen ist!“ forderte mich Heiko auf. Ich schaute meine Liste noch einmal durch und wählte den folgenden Satz: „Paulina ist undankbar! Alles was wir für sie getan haben tritt sie mit Füßen!“

„Lass den Satz einfach mal einen Moment auf dich wirken und schau, was er mit dir macht!“ sagte Heiko.

„Paulina ist undankbar! Alles was wir für sie getan haben tritt sie mit Füßen!“ Sofort als ich das dachte spürte ich, wie Wut und Enttäuschung in mir aufstiegen. Etwas in mir verkrampfte sich und mein Herzschlag wurde gleich ein bisschen schneller.

„Ich stelle dir jetzt nacheinander vier Fragen zu diesem Satz“, fuhr Heiko fort, „die du für dich selbst beantwortest. Bist du bereit?“

„Jetzt fang schon an!“ sagte ich ungeduldig.

„Also gut! Erste Frage: Ist dieser Gedanke wirklich wahr?“

Ok, das war wirklich mal eine gute Frage! Auf der einen Seite fand ich schon, dass an dem Gedanken etwas dran war, aber so ganz richtig war er auch wieder nicht. Es stimmte ja nicht, dass sie nur undankbar war. Und mit Füßen treten wollte sie erst recht nichts. Sie war eben einfach in ihren eigenen Themen verstrickt und dementsprechend konnte sie nicht viel anders handeln als sie gehandelt hatte. Im Grunde genommen müsste die Antwort also Nein heißen, wenngleich natürlich nicht zu verachten war, dass sie in Sachen Dankbarkeit nicht allzu viel rübergebracht hatte.

Gerade als ich antworten wollte, kam mir Heiko zuvor und unterbrach mich: „Bevor du irgendetwas sagst, muss ich noch etwas ergänzen. Du darfst die Frage nämlich nicht mit deinem Kopf sondern nur mit dem Herzen beantworten. Dein Verstand ist ein Depp, dass haben wir ja schon herausgefunden. Er hat sich diese Gedanken ausgedacht und will natürlich auch darauf beharren, dass er damit Recht hat. Er wird dich an der Nase herumführen und dir letztlich keine Hilfe sein. Wahrscheinlich gibt er dir zig verschiedene Antworten, die alle widersprüchlich sind und sich gegenseitig aufheben. Am Ende bist du dann entweder von irgendetwas überzeugt, dass genauso in den Raum gestellt ist, wie der erste Gedanke, oder aber du bist noch verwirrter als zuvor. Aber das ist nicht schlimm, denn dein Herz kennt die Antwort. Du bist über dein Unterbewusstsein und über dein muskuläres Gedächtnis mit dem Allwissen verbunden. Deswegen spürst du mit jeder Faser deines Seins, was die richtige Antwort ist, wenn du dich wirklich auf die Fragen einlässt. Wenn ein Gedanke unwahr ist, dann löst er in uns Stress, Nervosität, Unruhe, Beklemmung oder Leid aus. Ein wahrer Gedanke entspannt uns hingegen und gibt uns ein Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit. Achte also bei der Beantwortung der Frage nicht auf deine Gedankenstimmen, die dich mit irgendwelchen Argumenten überzeugen wollen, sondern höre einfach auf dein Gefühl. Ist dieser Gedanke wirklich wahr? Oh, und noch etwas! Es gibt kein ‚Vielleicht’ sondern nur Ja oder Nein. Wenn du nicht das Gefühl hast, dass der Gedanke wahr ist, dann lautet die Antwort einfach ‚Nein’, ohne Herumgedruckse oder Geschwalle.

„Alles Klar!“ sagte ich ohne zu zögern, „dann lautet die Antwort ganz klar Nein. Denn ein gutes, entspanntes und leichtes Gefühl macht der Gedanke nicht!“

„Gut, dann kommen wir also zur zweiten Frage. Sie ist eigentlich eher für den Fall gedacht, dass die erste Frage mit Ja beantwortet wurde, aber ich finde es trotzdem hilfreich, sie in jedem Fall noch einmal zu stellen, um sich selbst wirklich sicher zu werden. Sie lautet: ‚Kannst du dir zu 100% sicher sein, dass dieser Gedanke wahr ist?’ Wirklich zu 100%! Es gibt wieder nur die Antwortmöglichkeiten Ja oder Nein. Wenn du dir nicht zu 100% sicher sein kannst sondern nur zu 99% oder 99,99%, dann lautet die Antwort Nein! Alles Klar?“

„Ja!“ sagte ich, „und Nein! Ich kann mir auf keinen Fall zu 100% sicher sein, dass er wahr ist! Das ist unmöglich!“

 

 

Fortsetzung folgt...

 

Spruch des Tages: Kannst du dir wirklich zu 100% sicher sein, dass dieser Gedanke wahr ist?

Höhenmeter: 60 m

Tagesetappe: 10 km

Gesamtstrecke: 12.079,27 km

Wetter: sonnig und herbstlich warm

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 74013 Ginosa, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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