Tag 691: Endloses Niemandsland

von Heiko Gärtner
25.11.2015 02:28 Uhr

So kalt wie die Nacht wurde auch der nächste Morgen. Der Tau, der auf den Bäumen und den Wiesen lag, wirkte sogar schon leicht weißlich, so als wäre er kurz davor zu gefrieren. Während wir das Zelt abbauten, packten wir uns so dick und warm ein, wie es nur ging. Doch kaum hatten wir uns auf den Weg gemacht wurde es auch schon wieder warm, denn die Straße stieg fröhlich weiter an, bis auf eine Höhe von etwas über 1800 Höhenmetern. Bei all den Bergen die wir in letzter Zeit erklommen hatten, war dies doch seit Andorra der höchste.

Irgendwo im Wald, kurz vor dem Gipfel tauchte dann der Grenzposten vor uns auf. Außer den Beamten trafen wir hier auch auf einige Fahrzeuge mit insgesamt zehn amerikanischen Soldaten. Sie standen an der Seite und unterhielten sich, ohne großartige Notiz von uns zu nehmen. Dennoch fielen sie uns auf. Wir wussten noch immer wenig über den Kosovo, aber dass die Amerikaner hier irgendwo ihre Finger im Spiel hatten zeichnete sich immer deutlicher ab. Der Grenzübertritt verlief ansonsten ereignislos. Nicht einmal einen Ausreisestempel bekamen wir. „Stempel gibt es erst an der anderen Seite der Grenze!“ meinte der Beamte nur knapp.

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Doch die andere Seite der Grenze ließ erst einmal auf sich warten. Die Straße schlängelte sich weiter zwischen den Bergen hindurch in ein schier unendliches Niemandsland. Um uns herum gab es nun nur noch steile Hänge und dichte Wälder. Für Wildtiere musste es das reinste Paradies sein.

Nach einer knappen Stunde sahen wir in einem kleinen Tal einige Bauwerke. Hier musste nun dann wohl doch die Grenze sein! Doch als wir näher kamen bemerkten wir, dass es sich dabei lediglich um ein kleines Dorf handelte. Es gab nur einige einfache Hütten sowie eine Reihe von Zelten, wodurch das Dorf aussah, als wäre es nur eine vorübergehende Lagerstätte eines Nomadenvolkes. Es gab einige Felder, ein paar Esel und mehrere alte Frauen, die uns genauso erstaunt anschauten wie wir sie. Auch ihre Kleidung wirkte so, als gehörte sie zu einem Volk der Tuareg oder zu einem mongolischen Klan. Am meisten faszinierte uns jedoch die Toilette, die aus einem kleinen Häuschen bestand, ähnlich wie die die man bei uns immer mit dem Herz in der Tür kennt. Nur wurde es hier direkt über einen kleinen Bachlauf gebaut, so dass die Notdurft, nachdem sie entrichtet worden ist, gleich im Trinkwasser davonschwimmen kann. Wenige Meter unterhalb des Häuschens grasten die Kühe, die ihren gut zerkauten Grasbrei anschließend mit dem Notdurftwasser herunterspülten. Ihnen selber machte das wahrscheinlich wenig aus, denn sie waren es ja gewohnt, am gleichen Ort zu fressen und zu kacken. Aber etwas komisch wirkte es schon.

Nach dem kleinen Nomadendorf im Niemandsland dauerte es noch weitere fünf Kilometer, bis wir die Grenze erreichten. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich wahrscheinlich nicht die gesamten zwei Stunden der Wanderung unsere Reisepässe vorzeigebereit in der Hand gehalten. Mehrere Male war ich schon kurz davor sie wieder einzupacken, in der felsenfesten Überzeugung, dass man den Grenzposten auf der Seite des Kosovo einfach abgeschafft hatte. Dann aber kam er doch noch.

Nach all den Warnungen über die Gefährlichkeit des Krisengebietes Kosovo waren wir fast ein bisschen enttäuscht darüber, wie reibungslos alles vonstatten ging. Es war eine ganz normale Grenze mit einem Wachpersonal, das nicht gerade vor Lockerheit übersprudelte, aber auch keineswegs unfreundlich war.

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„Dober Dan!“ grüßten wir die Beamten auf serbisch.

„Mirëdita!“ korrigierte uns der Mann daraufhin und fügte auf Englisch hinzu: „Die Landessprache hier ist Albanisch. Wenn ihr guten Tag sagen wollt, müsst ihr also Mirëdita sagen.“

„Stimmt!“ rief ich und war ganz begeistert davon, dass uns der Mann gleich ein neues Wort beigebracht hatte. „Wo Sie gerade davon sprechen, könnten Sie uns vielleicht bei ein paar Vokabeln behilflich sein?“

Völlig verdutzt schaute uns der Mann an. In seiner kompletten Amtszeit als Grenzposten hatte er noch nie zwei Wanderer gesehen, die je einen großen Karren hinter sich herzogen. Das allein war schon ungewöhnlich genug. Doch nun auch noch als Sprachlehrer herhalten zu müssen, überstieg seine innere Vorstellungskraft bei weitem. Vor lauter Verwirrung nickte er einfach mit dem Kopf. Sofort zückte ich mein Diktiergerät und begann damit, die ersten Vokabeln abzufragen. Der Mann Antwortete brav und gab uns die wichtigsten Wörter: „Danke, Sprechen Sie Englisch, Deutsch, Spanisch oder Serbisch, Bitte, Ja, Nein, Guten Tag, Auf Wiedersehen“ Dann war seine Bereitschaft erschöpft und wir ließen es erst einmal darauf beruhen.

„Oh mein Gott!“ meinte Heiko als wir die Grenze hinter uns gelassen hatten. „Das lernen wir ja nie!“ Trotzdem wir es jetzt auf dem Diktiergerät haben, kann ich mir nicht vorstellen, dass wir auch nur ein Wort davon jemals aussprechen können. Geschweige denn auswendig lernen!“

Ganz unrecht sollte Heiko damit wirklich nicht behalten. Albanisch war mit Abstand die schwerste Sprache, die ich je zu lernen versucht hatte und es dauerte ganze drei Tage bis wir in der Lage waren auch nur „Danke!“ zu sagen. Bis zum Schluss gelang es uns nicht, unsere Sätze auswendig zu lernen und so konnten wir nur mit unseren Zetteln kommunizieren. Dafür muss man sagen, kamen wir dann aber erstaunlich gut durch!

Seit wir den Pass hinter uns gelassen hatten waren wir nun permanent bergab gegangen. Doch erst ein knappes Stück hinter der Grenze öffneten sich die Berge zum ersten Mal und gaben einen Blick auf das Tal frei. Vor uns lag es, der Kosovo, als eine gigantische Flachebene umgeben von hohen Bergen. Es wirkte fast unwirklich, so wie das Tal dort eingebettet war. Auf der einen Seite freuten wir uns schon riesig, endlich wieder einmal ein paar Tage lang wandern zu können, ohne permanent bergauf oder bergab gehen zu müssen. Gleichzeitig konnten wir uns aber auch noch nicht so ganz vorstellen, wie man auf so einer Flachebene überhaupt zurechtkommen sollte. Wo wollte man zelten, wenn es keine Berge mehr gab, die einem Sichtschutz gaben? Wälder konnten wir von hier oben nur wenige erkennen. Das meiste waren Straßen und Häuser. Was immer uns dort unten also erwartete, es würde noch einmal spannend werden.

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Die Straße schlängelte sich nun wieder in Serpentinen am Hang entlang und wand sich dabei insgesamt 1200 Meter in die Tiefe. Hinter einer Kurve trafen wir einen Amerikaner mit einem beeindruckend dicken Bauch, der ein paar Worte mit uns wechselte. Er war laut eigenen Angaben im Urlaub, doch das wirkte wenig überzeugend. Sein Reisegepäck bestand nur aus einem Aktenkoffer und auch seine Kleidung war etwas zu geschäftig um als Freizeitkleidung durchgehen zu können. Hätte er einen Schriftzug mit „Dienstfahrzeug“ auf seinem Wagen stehen gehabt, wäre es nicht deutlicher gewesen, dass er sich auf einer Geschäftsreise befand. Warum also hatte er uns angelogen?

Zwei, drei Serpentinen tiefer machten wir eine kurze Rast für ein Picknick um dabei die Aussicht zu genießen. Hier war es noch angenehm ruhig und wer wusste schon, wie es im Tal werden würde. Kaum hatten wir unser Brot ausgepackt, bekamen wir auch schon besuch von ein paar kontaktfreudigen Damen mit üppigen Brüsten. Mit fast unverschämter Zutraulichkeit bestaunten sie unsere Wagen und einige von ihnen schnupperten sogar daran. Dann drängten sie sich dicht neben uns als hätten sie gerade erkannt, dass dies der einzig wahre Picknickplatz im Umkreis von sieben Kilometern ist. Fast gierig machten sie sich an den Brombeersträuchern zu schaffen und wedelten uns dabei mit ihren Hintern direkt vor der Nase herum.

„Kommt schon Mädels, bitte!“ sagte Heiko, „jetzt aber nicht pinkeln oder kacken! Das muss nicht sein! Geht doch einfach ein kleines Stückchen weiter!“

„Muhhh!“ antwortete die junge Dame mit den braunen Flecken ungerührt und kaute weiter an ihren Brombeerblättern. Ihr Hintern befand sich nun direkt hinter unseren Köpfen und langsam bekamen wir wirklich ein ungutes Gefühl. Es passierte nichts, aber wir waren dennoch erleichtert, als sie gemeinsam mit ihren Freundinnen ein Stückchen weiterzog.

Es dauerte noch knapp zwei Stunden, bis wir schließlich das Tal erreichten. Den Überquerung des Grenzgebirges hatten wir also geschafft. Nun brauchten wir nur noch einen ruhigen Zeltplatz und ein Abendessen.

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Unser erster Eindruck von den Menschen passte nicht im Geringsten zu dem, was man uns prophezeit hatte. Die meisten Einheimischen machten einen sehr freundlichen Eindruck und schienen den Serben in ihrer Mentalität deutlich ähnlicher zu sein, als es sich beide Seiten eingestehen wollten. Auch das Land an sich wirkte nicht wie ein gefährliches Krisengebiet. Es sah ein bisschen aus wie in Bosnien, nur dichter besiedelt und viele der Häuser waren sogar in einem weitaus besseren Zustand. Sie waren auch hier nicht übermäßig schön und so etwas wie Putz oder Klinker schien auch hier ein reiner Luxus zu sein, aber es definitiv auch nicht hässlich. Es sah im Grunde aus, wie überall auf dem Balkan.

Auch die Sprache wurde zunächst weit weniger ein Problem, als wir vermutet hatten. Das erste Pärchen, das wir um Essen baten sprach französisch und betrieb sogar einen kleinen Minimarkt in ihrem Garten, aus dem wir uns einige Dinge aussuchen durften. Anschließend trafen wir noch auf einige englisch- und deutschsprachige Einheimische von denen uns einer einlud, in einem kleinen Laden alles zu kaufen, was wir für den Abend benötigten. Von Unfreundlichkeit, fehlender Hilfsbereitschaft oder Ablehnung gegenüber Fremden gab es also keine Spur. Im Gegenteil schien es sogar, als seien die Menschen hier wieder sehr viel angenehmer als in den Nachbarländern. Auch in den folgenden Tagen bestätigte sich dieser Eindruck. Bauten wir beispielsweise unser Zelt in Ortsnähe auf und wurden dabei entdeckt, führte dies in diesem Land nicht dazu, dass man uns stundenlang belagerte. Man behandelte uns mit einem höflichen Respekt und näherte sich dem Zelt nur, wenn wir zuvor ein Zeichen gegeben hatten, dass es uns recht war.

An diesem Abend fanden wir eine kleine Wiese zwischen zwei Maisfeldern, die uns relativ gut versteckt erschien. Dennoch wurden wir vom Besitzer der Wiese entdeckt. Er kam, fragte ob es uns gut ginge und ob wir etwas brauchten, wies uns auf eine Wasserstelle zum Waschen hin, wünschte uns einen schönen Aufenthalt und verschwand wieder.

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Das einzige, was uns nun noch fehlte war Trinkwasser. Dafür machte ich noch einmal einen kleinen Rundgang und kam schließlich an das Grundstück eines älteren Mannes, der gerade dabei war, sich mit seiner Kuh anzulegen. Sie nahm in so sehr in Anspruch, dass er mich überhaupt nicht bemerkte. Einen Moment lang sah es so aus, als hätte er sie im Griff. Dann aber riss sie aus, lief auf die andere Seite des Gartens und schubberte ihren Rücken an einem großen Heuhaufen, den der Mann zuvor hier aufgeschichtet hatte. So schnell er konnte rannte er ihr hinterher und versuchte sie zu stoppen. Doch es war zu spät. Der Haufen neigte sich zur Seite und das Heu verteilte sich gleichmäßig im Garten. Mit großen Augen schaute die Kuh ihn an, so als wolle sie sagen: „Ups! Wie konnte denn das passieren?“

Spruch des Tages: Wo ist denn nun dieser Kosovo, von dem immer alle sprechen?

 

Höhenmeter: 350 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 12.337,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Priesterseminar, 87011 Cassano Allo Ionio, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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