Tag 692: Überschwemmung im Reisegepäck

von Heiko Gärtner
25.11.2015 02:41 Uhr

Gerade als wir uns in unser Zelt zurückgezogen hatten, begann es zu regnen. Zunächst nur leicht, dann immer stärker und schließlich pendelte es sich bei einer mittleren Sintflut ein. Es regnete die ganze Nacht und auch am Morgen fielen die Tropfen noch immer fleißig vom Himmel. Wir warteten nach dem Aufwachen noch etwa eine halbe Stunde, dann gaben wir es auf. Es würde ewig weiterregnen und auch wenn wir noch drei Stunden warteten, machte es die Sache nicht besser. Wir mussten also im Regen einpacken.

Während ich innen alles vorbereitete machte sich Heiko bereits daran, das Zelt abzubauen.

„Ach du Scheiße, Tobi!“ rief er plötzlich.

„Was ist los?“ fragte ich erschrocken.

„Du hast gestern vergessen, deinen Wagen zuzumachen. Er stand die ganze Nacht offen. Alles ist komplett nass. Da stehen mindestens fünf Liter Wasser in deinem Packsack!“

Völlig entgeistert sprang ich nach draußen um mir das Desaster anzuschauen. Er hatte Recht, der Wagen war fast zu einem drittel mit Wasser gefüllt. Die Computer- und Kamerabeutel hatten wir am Abend rausgenommen und sicher im Zelt verwahrt, aber einige Dinge schwammen dennoch in der Wasserlache herum. Unser Kocher war darunter, ebenso wie der Tauchsieder, ein Buch, das wir noch durcharbeiten wollten, einige Tupperdosen mit Algenpresslingen zur Entgiftung, unser Needleset und eine Packung Reiß. Schlimm war es vor allem für die elektronischen Geräte wie den Kocher und den Tauchsieder, sowie für die Tabletten. Die Tupperdose mit den Utensilien fürs Needlen war komplett wasserdicht und hatte keinen Tropfen aufgenommen. Die anderen Boxen waren da leider weniger Erfolgreich gewesen. Viele der Tabletten waren durchnässt und aufgeweicht, so dass sie nun eher eine dunkelgrüne Algenmasse ergaben. Auch aus der Box für den Kocher konnten wir einen ganzen Schwall an Wasser gießen.

Für einige Minuten hatte der Regen nun zum Glück etwas nachgelassen, so dass wir alles einigermaßen abtrocknen und zumindest nur noch halbwegs klamm einpacken konnten. Heiko schüttete die Packung Reiß in die Box vom Kocher, damit dieser die Feuchtigkeit aufsaugen konnte.

„Wir müssen dann nur hoffen,“ meinte er, „dass kein Reiß in den Kocher selbst gerät. Nicht dass der zu brennen anfängt, wenn wir die Platte das nächste Mal einschalten.“

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Die Frage, die mich an diesem Vormittag jedoch am meisten beschäftigte war, wie und wieso das ganze Malheur überhaupt passiert war. Wie konnte es sein, dass ich ausgerechnet an diesem Abend die Tasche offen gelassen hatte? Was war da nur in mich gefahren? Und wieso war es mir, wenn es mir schon passieren musste, nicht an einem der vielen Tage passiert, an denen es in der Nacht nicht geregnet hatte? Ich konnte nur Froh sein, dass nicht mehr passiert war, aber dennoch musste es ja irgendeinen Sinn machen. Was wollte mir die Situation spiegeln? Dass ich noch immer ein Problem mit Geld und eine große Angst davor hatte, dass Sachen kaputtgehen würden, die ich anschließend nicht mehr ersetzen konnte? Dass die ganze Reise vielleicht an einem seidenen Faden hing der dadurch hielt, dass mir derartige Pannen nicht passierten? Oder dass ich einfach mehr ins vertrauen kommen sollte, dass Dinge immer nur für eine gewisse Zeit bei uns sind und dann durch neue ersetzt werden? Galt es schon wieder, das Loslassen zu lernen und darauf zu vertrauen, dass es eine unendliche Fülle gab, ich also an nichts festhalten musste?

Der Regen wurde wieder stärker und noch ehe wir richtig aufgebrochen waren, waren wir schon nass bis auf die Haut. Wir wanderten den ganzen Vormittag im prasselnden Regen, was uns vor allem das Navigieren etwas erschwerte. Denn unser Handy funktionierte nur, wenn das Display trocken war und hier in der Flachebene gab es ständig jede Menge Straßen zur Auswahl, für die man eine Karte brauchte.

Erst gegen Mittag fanden wir einen trockenen Platz neben einer Statue von Mutter Theresa, an dem wir eine kurze Pause machen konnten. Wir hatten nun schon einige Kilometer im Kosovo gesehen und hatten nun fast das Gefühl, ihn an einem Tag zu durchwandern, wenn es so weiterregnen würde. Doch je weiter wir uns in diesem Land fortbewegten, desto weniger verstanden wir den Aufstand, den man um den Kosovo machte. Es war ein ganz normales Land mit ganz normalen Menschen und es wirkte an vielen Stellen sogar deutlich moderner und gepflegter als beispielsweise Bosnien. Auffällig war auch, dass es hier keine sichtbaren Spuren vom Krieg mehr gab, obwohl der Krieg im Kosovo deutlich jünger war als der in Bosnien.

Schließlich entdeckten wir eine verlassene Bauruine, die Platz genug bot, um unser Zelt darin aufzubauen. Unter dem Dach des Betonhauses hatten wir zumindest die Möglichkeit unsere Sachen einigermaßen trocken zu platzieren und der Regen prasselte nun auch nicht direkt auf unsere Zeltplane. Doch anscheinend wollte uns das Wetter an der Nase herumführen, denn kaum hatten wir das Zelt im Keller des Hauses aufgebaut, hörte der Regen auf und es kamen sogar die ersten Sonnenstrahlen durch. Um damit ausreichend Strom zum Arbeiten zu gewinnen reichte es aber nicht, weshalb ich mich nicht nur auf die Suche nach Essen sondern auch nach einem Anwohner machte, der mir seine Steckdose zur Verfügung stellte. Ich traf dabei auf einen Jungen Mann mit einem langen, dunklen Bart, der ein bisschen aussah, als wäre er ein Rabbi. Er lud mich ein, im Wohnzimmer platz zu nehmen und seine Eltern bereiteten uns in der Zwischenzeit etwas zum Essen vor. Er erzählte mir, dass er mit seinen 28 Jahren bereits drei Kinder hatte. Es sprach gut Englisch und auch ein bisschen Deutsch, weil er einige Freunde hatte, die längere Zeit in Deutschland gelebt haben oder noch immer dort lebten. Früher, so meinte er, habe er auch viel deutsche Musik gehört, so etwas wie Bushido, Sido und dergleichen. Doch inzwischen nahm er seine Religion ernster und die schrieb genau vor, welche Musik erlaubt war und welche nicht.

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Nach unserer Nacht als Kellerkinder stellten wir fest, dass wir zwar dem Regen und der Nässe entkommen waren und dafür aber eine Menge Dreck und Staub eingehandelt hatten. Und diese hafteten natürlich besonders gut an unseren Sachen, weil sie noch komplett feucht waren.

Auch Tagsüber blieb es nun aber trocken und so konnten wir wieder etwas entspannter durch das flache Hügelland wandern. Was wir von oben nicht gesehen hatten war, dass das Land zwar platt, aber dennoch nicht hundertprozentig eben ist. Unsere Freude über das anstrengungsfreie Wandern war also etwas verfrüht, denn auch wenn wir keine wirklichen Berge erklommen brachten wir durch das permanente Rauf und Runter doch einiges an Höhenmetern zusammen.

Trotzdem wir noch immer so gut wie kein Wort in der Landessprache verstanden, kamen wir mit den Einheimischen äußerst gut zurecht. Gleich zwei Mal bekamen wir das Angebot, dass uns jemand mitnehmen wollte, damit wir nicht so viel laufen mussten und immer wieder grüßten uns die Männer freundlich aber mit höflichem Respekt. Mit Frauen hingegen hatten wir so gut wie keinen Kontakt. Auch wenn ich an den Häusern nach etwas zum Essen fragte, sprach ich fast nur mit Männern oder Kindern. Wenn kein Mann im Haus war, liefen die Kinder zu ihren Müttern, diese packten mir etwas ein und ließen es mir dann wieder durch die Kinder überbringen. Nur sehr junge Frauen und Großmütter machten dabei in aller Regel eine Ausnahme. Auch sonst gab es einige Eigenheiten, an die wir uns erst gewöhnen mussten. Als ich später am Abend beispielsweise an eine Tür klopfte, öffneten mir fünf Kinder, die mich erstaunt anstarrten. Die älteste von ihnen las meinen Zettel und rannte damit zu ihrer Mutter. Nach rund zehn Minuten hatte ich eine Tüte voller Gemüse in der Hand, die uns den Abend über versorgte. Doch diese zehn Minuten verbrachte ich damit, vor der Tür zu stehen und mich von den Kinder anstarren zu lassen, ohne dass sich auch nur eines von ihnen rührte oder einen Ton sagte. Zwei Mal nahm ich einen Anlauf, um die unangenehme Situation etwas aufzulockern, doch da mich niemand verstand, blieben beide Anläufe ohne Erfolg.

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Je weiter wir ins Landesinnere kamen, desto mehr mischte sich jedoch ein neues Bild in die Landschaft des Kosovo. Die Dörfer bestanden fast ausschließlich aus größeren Anwesen, die immer von einer hohen Mauer umgeben wurden. Innerhalb dieser Mauern fand das Familienleben statt und hier sorgten die meisten auch dafür, dass sie es sich schön und angenehm gestalteten. Außerhalb der Mauern jedoch wurde relativ wenig Wert auf Schönheit und vor allem auch auf Sauberkeit gelegt. Dadurch gab es ganze Landabschnitte, die zu reinen Müllhalden verkommen waren. Neben den Straßen, teilweise bereits in den Dörfern auf jeden Fall aber kurz davor und kurz danach, lag alles an Müll herum, was man sich nur vorstellen konnte. Von Elektronikabfällen über Bauschutt, Plastikmüll, Altglas und leeren Dosen bis hin zu vergammelten Essensresten. In Bosnien hatte es dafür wenigstens noch einzelne Haufen gegeben, die regelmäßig verbrannt wurden. Hier jedoch verteilte sich der Müll gleichmäßig über den Boden und wartete darauf, dass er irgendwann in ein paar Jahrtausenden zumindest teilweise verrottete. Die Kunst war es nun also, einen Platz zu finden, der weitgehend ungestört und gleichzeitig auch noch Müllfrei war. Heute fanden wir einen solchen Platz in einem kleinen Waldstück kurz vor einem Dorf.

Auch heute fand ich wieder eine nette Familie, die ich am Nachmittag besuchen konnte, um ihren Strom zum Arbeiten zu nutzen. Wieder wurde ich ins Wohnzimmer eingeladen und dieses Mal lernte ich bei dieser Gelegenheit sogar ein traditionell albanisches Wohnzimmer kennen. Die Einrichtung bestand lediglich aus Polstern, die einmal ring um die Wände gelegt worden waren, damit man sich darauf setzen konnte. Es war schlicht, aber ich mochte den Gedanken, dass man hier gemeinsam auf Kissen am Boden saß, wenn man sich traf.

 

 

Spruch des Tages: Alles nass!

 

Höhenmeter: 40 m

Tagesetappe: 11 km

Gesamtstrecke: 12.348,27 km

Wetter: extrem stürmisch

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 87012 Centro Sociale, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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