Tag 694: Orchester des Grauens

von Heiko Gärtner
25.11.2015 03:08 Uhr

Nässe wurde langsam zur Normalität. In den Nächten kühlte es nun regelmäßig so sehr ab, dass unser Zelt von innen und außen voller Kondenswasser stand. Auch unsere Kleidung und sogar die Computerbeutel waren klamm. Tagsüber konnten wir vieles wieder trocknen und auch die Tabletten und die Kochplatte hatten sich von meiner unfreiwilligen Material-Badeaktion fast wieder erholt. Und doch zerrte das Gefühl an uns, nie wieder vollkommen trocken zu werden. Auch Sauberkeit wurde langsam ein Zustand, den wir nur noch aus Gerüchten und Sagen kannten. Die letzte Dusche hatten wir auf dem Pferdehof in Montenegro abbekommen und dies war nun schon fast einen Monat her. Unsere Kleidung konnten wir zwar noch ein paar Mal unter einer Quelle oder einem Wasserhahn waschen, aber auch das war jedes Mal recht dürftig gewesen. Vor allem führte es uns wieder zum ersten Problem zurück, nämlich zu dem, das ohnehin schon alles nass war.

Mit ruhigen Nebenstraßen war es heute erst einmal vorbei. Wir mussten an der Hauptstraße entlangwandern, bis wir auf die Autobahn kamen und uns dann noch einmal dreieinhalb Kilometer auf dem Seitenstreifen besagter Autobahn halten. Erst dann konnten wir wieder nach rechts in die Walachei ausweichen. Ein großartiger Fortschritt wurde das jedoch zunächst auch nicht, denn nun wanderten wir wirklich durch eine Müllhalde. Zuvor hatten wir zwar geglaubt, dass wir in Müllhalden gekommen waren, doch dies war jedes Mal nur eine normale Landschaft mit etwas Müll gewesen. Dieses Mal jedoch wanderten wir mitten zwischen Müllbergen hindurch und das auf einer Länge von rund vier Kilometern. Dann, fast übergangslos, kamen wir wieder in ein kleines Dorf. Einige Kinder spielten in den Straßen. Eine von ihnen hatte sich eine Art Skatebord aus einem einzelnen Rollschuh gebaut, auf dem er nun sitzenderweise den Berghang hinabfuhr. Wie er seine Arme, sein Beine und seinen Hintern so koordinierte, dass er sich auf dem winzigen Schuh halten konnte, blieb uns ein Rätsel. Ein zweiter Junge versuchte das gleiche mit einem alten Rollkoffer, hatte damit aber weit weniger Erfolg und beschloss daher, sein Spielzeug einfach nur neben sich herzuziehen. Der Spaßfaktor mochte dabei eindeutig auf Seiten des Rollschuhjungen liegen, doch vom Lärmpegel, den sie durch ihr Spiel verursachten, unterschieden sie sich wenig. Als sie uns sahen kamen sie sofort auf uns zugelaufen und stellten uns alle möglichen Fragen auf albanisch, von denen wir nichts verstanden. Das wir ihnen mitteilten, dass wir nichts verstanden änderte an ihrer Begeisterung wenig. Stattdessen wollten sie uns nun noch einmal ganz speziell ihre Spiel- und Fahrkünste präsentieren und rollten, knatterten und tollten um uns herum, so gut sie nur konnten. Angenehm war das ganze nicht, aber es war lieb gemeint. Sicher hätten wir es unter anderen Umständen auch etwas besser würdigen können, doch gerade waren wir vom Autolärm und dem ständigen Müllgestank ohnehin schon leicht gereizt, so dass wir einfach nur froh waren, als wir die Kinder hinter uns lassen konnten.

[AFG_gallery id='26']

Je mehr wir von den Einheimischen mitbekamen, desto schleierhafter wurde uns das Verhältnis, das hier zwischen Männern und Frauen herrschte. Während die Männer einander und auch uns fast immer kumpelhaft grüßten, grüßten die Frauen überhaupt nicht. Sie reagierten auch auf keinen Gruß, sondern schauten nur so schnell wie möglich weg und versuchten jeden Blickkontakt zu vermeiden. Ein bisschen so, wie Paulina es eigentlich hatte lernen wollen, nachdem sie in Serbien und Montenegro so schlechte Erfahrungen mit den Männern gemacht hatte. Die Frauen untereinander traten schon in einen gewissen Kontakt, doch außerhalb der Häuser schienen Männer und Frauen wie in zwei unterschiedlichen Welten zu leben. Sogar die Jugendlichen, die nach der Schule an einer Bushaltestelle warteten, standen dort streng nach Geschlechtern sortiert mit einem Abstand von gut drei Metern zwischen der männlichen und der weiblichen Gruppe.

Landschaftlich war der Kosovo ein bisschen wie ein Zebrastreifen aufgebaut. Es gab immer wieder eine langgezogene Hügelkette und dazwischen ein langgezogenes, flaches Tal. In den Tälern verliefen, meist mittig die größeren Straßen und Ortschaften, während sich an den Bergketten die kleineren Dörfer verteilten. Für heute hatten wir uns vorgenommen, das vor uns liegende Tal noch bis zur gegenüberliegenden Seite zu durchqueren, um uns dann dort etwas abseits wieder einen ruhigen Schlafplatz zu suchen. Denn Ruhe hatten wir heute noch fast gar nicht abgekommen und die vergangene Nacht war auch nicht gerade voll davon gewesen. Doch die Welt hatte mal wieder andere Pläne mit uns.

Die Straße am anderen Ende des Tals war zwar wenig befahren, aber sie war befahren und der aufgeraute Asphalt sorgte dafür, dass man jedes Auto klar und deutlich wahrnahm. Wir versuchten ein bisschen abzugehen um unser Glück in den seichten Hügel neben der Straße zu finden, doch wohin wir auch schauten, alles war so voller Müll, dass man hier unmöglich schlafen konnte. Schließlich gaben wir es auf und kehrten doch wieder zu der Wiese neben der Straße zurück. So schlimm wird es schon nicht werden, dachten wir und behielten damit Recht. Es wurde bedeutend schlimmer! Denn kaum hatten wir unser Zelt aufgebaut, begannen zusätzlich zum Autolärm noch ein paar Hunde zu bellen. Sogar die Natur schien sich gegen uns verschworen zu haben, denn nun kamen auch noch ein schreiender Eichelhäher dazu, der sich alle Mühe gab, seine Stimmbänder zum zerreißen zu bringen. Und kurz darauf begannen dann auch noch die Frösche im nahegelegenen Teich mit ihrem Balzgesang. Es war ein Orchester des Grauens.

[AFG_gallery id='27']

Einen Moment lang waren wir schon wieder kurz davor, alles wieder abzubauen und weiterzuwandern, doch die nahende Dunkelheit und die Aussicht darauf, alles noch einmal machen zu müssen, hielt uns letztlich dann doch davon ab. Und kaum hatten wir unseren Entschluss gefasst, beruhigten sich zumindest die Frösche und die Vögel wieder.

Für die Nahrungssuche wanderte ich in einen Ort auf der gegenüberliegenden Seite des Berges. Essen aufzutreiben war hier noch einmal eine ganz eigene Sache. Es gab nun so gut wie gar keine Lädchen mehr, in denen man fragen konnte, so dass ich mich vollkommen auf Privatpersonen spezialisierte. Diese waren in aller Regel sehr freundlich und hilfsbereit, doch gehörte in den meisten Fällen auch eine Einladung auf einen Kaffee oder zumindest einen Saft dazu. Auch dieses war sehr nett, doch es führte dazu, dass jeder Hausbesuch eine recht langwierige Angelegenheit wurde. Man konnte nicht einfach kurz klingeln, nach ein paar Tomaten fragen und wieder gehen. Man musste für eine Weile bleiben und die Gastfreundschaft, die einem angeboten wurde, auch annehmen. Das Problem dabei war nur, dass man immer erst am Ende erfuhr, was man letztlich bekam. Es konnte also sein, dass man eine halbe Stunde mit reden verbrachte und dafür lediglich eine einzige Tomate erhielt. Genauso kam es aber vor, dass man von einer Familie gleich das Essen für die nächsten zwei Tage bekam. Vorausgesetzt natürlich, wir hätten es transportieren können.

An diesem Tag erwischte ich drei Familien, die mir jeweils sehr kleine Portionen an Essen mitgaben, die sie aber zuvor mühevoll zubereitet hatten. Meine Sprachkenntnisse reichten leider nicht aus, um sie davon abzuhalten und sie zu bitten, sich keine Mühe zu machen, sondern einfach eine Tüte mit rohem Gemüse aus dem Garten zusammenzustellen.

Am Ende hatten wir daher gerade so viel, dass es wahrscheinlich reichte, aber vielleicht auch ein bisschen zu wenig war. Ein weiteres Haus hätte mir aber nun so viel Zeit gekostet, dass ich sonst überhaupt nichts mehr gemacht hätte. Also kehrte ich zu unserem Zelt zurück und stellte die Sachen ab. Es waren einige Früchte dabei, sowie etwas Gemüse, ein Laib Brot und einige frisch gebratene Cevapcici. Es war nicht besonders gut durchdacht, aber um mir einen Überblick zu verschaffen breitete ich alles vor unserem Zelt aus. Dann verließ ich den Platz kurz, um hinter ein paar Büschen auf´s Klo zu gehen.

[AFG_gallery id='28']

Nun geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Erstens kam ein Kuh-Hirte mit seiner Herde den Berg herunter und alle Kühe bimmelten mit ihren Glocken um uns herum, wobei sich einige von ihnen unangenehm nahe an meinen Toilettenplatz begaben. Zweitens kam ein Autofahrer den Weg von der Hauptstraße zu uns heraufgefahren. Er besaß einen Pickup mit einer Ladefläche voller Müll, den er nun direkt vor unser Zelt kippte. Und drittens schlich sich der Hund wieder an, der zuvor schon einige Male um unser Zelt schlawinert ist. Er entdeckte die Cavapcici und das Brot und schlang alles in sich hinein, so schnell er eben konnte. Heiko lag zwar nur wenige Zentimeter daneben im Zelt, bekam es jedoch nicht mit, weil der Müllmann und die Bimmelkühe zu viel Lärm machten. Und ich war bis vollends damit beschäftigt, mein Geschäft zu verrichten, bevor mich die Kühe erreichten und von meinem Donnerbalken schubsten.

Als Heiko den Hund schließlich doch bemerkte, war es bereits zu spät. Die Cevapcici waren bis auf den letzten Krümel verschwunden und von unserem Brot war nur noch ein angesabberter Rest übrig geblieben.

Dies war der letzte kleine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Den ganzen Tag über hatten die Ungemütlichkeit, der Lärm und der Gestank unsere Gemüter mit einem explosiven Gas gefüllt und nun hatte der Hund mit seinem Mundraub einen letzten Funken gezündet. Heiko war sauer, weil ich das Essen nicht ins Zelt gelegt hatte, ich war sauer, weil er den Hund nicht rechtzeitig verscheucht hatte. Und jeder waren wir sauer auf den Hund, sowie auf uns selbst, weil wir uns das, was der jeweils andere uns vorwarf selbst ebenfalls vorwarfen. Nach allem, mit dem der Tag an uns gezerrt hatte, hatten wir nun zu allem Überfluss jetzt auch noch die Aussicht auf ein wirklich maues Abendessen. Ich verstaute die Reste im Zelt und wollte die Eingangstür schließen. Doch es ging nicht. Der Reißverschluss klemmte. Das Zelt war zu sehr gespannt und die Tür war zu stramm, so dass man sie nicht schließen Konnte, ohne zu riskieren, dabei den Reißverschluss zu zerstören. Ich versuchte die Schnüre zu lockern und probierte es dann noch einmal. Wieder nichts! Was stimmte denn mit dem verdammten Ding nicht, dass es sich nicht mehr schließen ließ.

„Kruzifix noch eins!“ schnaubte Heiko nun wutentbrannt aus dem Inneren des Zeltes los. „Es kann doch gottverdammt nicht so schwer sein, so einen beschissenen Reißverschluss zuzumachen! Muss ich jetzt wirklich erst aufstehen und hier rauskriechen, damit dieses Zelt zu geht? Das kann doch nicht wahr sein!“

Ehe ich darauf reagieren konnte kam er aus dem Zelt gesprungen und versuchte es selbst. Mit dem gleichen Misserfolg. Nach und nach lockerte er alle Heringe und zog den Gurt, der die Tür im richtigen Abstand hielt etwas fester. Es war nichts, was ich nicht auch vorgehabt hätte, nur war ich für alles etwas zu langsam gewesen. Langsamer jedenfalls als es Heikos Geduldsfaden in diesem Moment aushielt.

Auch in mir tobte es nun wie bei einem Gewittersturm, nur dass ich meine Wut wie immer nicht nach außen schreien konnte. Ich war stocksauer darüber, schon wieder alle Schuld auf mich abgewälzt zu bekommen und als Ventil herhalten zu müssen, dafür dass Heiko mit der Gesamtsituation unzufrieden war.

Wir spürten beide, dass es gerade kein guter Zeitpunkt war, um einander auf die Pelle zu rücken und so suchte ich mir einen Baum, der in einiger Entfernung vom Zelt lag und wir machten uns beide wieder daran, zu schreiben.

[AFG_gallery id='29']

Noch immer grummelte und tobte es in mir und mein Magen rumorte wie eine ganze Industriestraße. Ich war nun sauer auf alles, auf mich, auf Heiko, auf die Kühe, den Müll, die Straßen, das ganze Land und ganz besonders auf diesen Scheißköter, der all unsere Mettröllchen gefressen hatte. Heiko ging es ähnlich und auch er brauchte eine Weile, bis sein Ärger wieder verraucht war. Der Tag hatte ihm noch mehr zugesetzt als mir, da er den Lärm ja permanent noch einmal um einiges lauter wahrgenommen hatte. Komplett gereizt hatte er sich dann an seinen Text gemacht, sich aber kaum darauf konzentrieren können. Gerade als er einigermaßen wieder den Faden gefunden hatte, riss ihn die Sache mit der verklemmten Zelttür wieder raus und der ganze Frust des Tages sprengte an die Oberfläche.

Erst als wir uns gemeinsam ans Kochen machten und feststellten, dass wir doch noch immer ausreichend zum essen hatten, normalisierte sich unsere Stimmung wieder. Plötzlich stand der Hund wieder vor uns, der uns das Essen gestohlen und damit den ganzen Ärger ausgelöst hatte.

„Na warte du Drecksau!“ rief Heiko, sprang auf und wollte schon nach einem Stein greifen, um ihn nach dem Hund zu werfen. Dann aber kam der Vierbeiner noch ein Stückchen näher und zeigte sich ganz. Seinen Schwanz hatte er verkrampft zwischen seine Hinterbeine geklemmt. Der Kopf war eingezogen und geduckt und er schaute traurig und verlassen. Sein ganzer Körper war abgemagert, sein Fell glanzlos und jede einzelne seiner Rippen zeichnete sich ab. Traurig und schuldbewusst schaute er uns an.

„Oh, Gott!“ sagte Heiko mitleidig, „du armer Kerl! Verdammt, wenn du so da stehst, kann man dir einfach nicht böse sein!“

Ich nickte und spürte, dass auch meine Wut auf den Essensdieb verraucht war. So gerne wir die Cevapcici auch gegessen hätten, der Hund hatte sie dringender nötig und im Nachhinein gönnten wir sie ihm nun von Herzen.

 

 

Spruch des Tages: Essen ist für alle da

 

Höhenmeter: 160 m

Tagesetappe: 26 km

Gesamtstrecke: 12.389,27 km

Wetter: bewölkt und kühl, zwischenzeitig sonnig, dann heftiger Regen

Etappenziel: Oratorio (Jugendhaus) der Kirche, 87064 Corigliano Scalo, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare