Tag 695: Schlafstörungen

von Heiko Gärtner
01.12.2015 16:28 Uhr

Meine Nacht wurde wieder einmal besonders unruhig. Ich konnte zunächst stundenlang nicht einschlafen und wälzte mich anschließend im Schlaf hin und her. Auch meine Träume drehten sich um Unruhe und um schwierige Situationen. Ich träumte unter anderem, dass mein Wagen auseinander fiel, mir die Reifen abbrachen und ich irgendwie versuchte, alles zu kitten und trotzdem weiter zu kommen, auch wenn ich riesige Angst davon hatte, das alles schief gehen würde. Irgendetwas machte mich nervös, hektisch und unausgeglichen. Die Frage war nur: Was?

Hatte es vielleicht damit zu tun, dass sich nun bereits die Berichte von fast einem Monat angestaut hatten, die ich alle irgendwie nachholen wollte, damit jedoch kaum voran kam? Ich spürte jedenfalls einen permanenten Zeitdruck in mir und hatte das Gefühl, immer mehr schaffen zu wollen, als ich schaffen konnte. Allein zum Einstellen würde ich nun schon einen ganzen Tag brauchen und bald musste ich auch schon wieder eine neue Strecke heraussuchen. Sobald ich morgens aufstand hoffte ich darauf, dass wir möglichst bald ankamen, damit ich so viel und so effektiv schreiben konnte, wie nur möglich. Ich war also wieder einmal in meiner alten Stressschleife angekommen und lebte nur noch in der Zukunft. Das Wandern rückte für mich in den Hintergrund und ich konnte mich kaum noch auf spontane Gegebenheiten einlassen. Alles wollte ich so schnell wie möglich abhandeln. Angefangen beim vorankommen über das Zeltaufbauen bis hin zum Fragen nach Essen und Wasser. Doch das klappte natürlich nicht, denn je größer meine Hektik wurde, desto mehr sorgte ich unbewusst dafür, dass mich alles ausbremste. So war es dann wohl auch zum Malheur mit meinem vollgelaufenen Wagen vor drei Tagen gekommen und so hatte ich sicher auch die Sache mit dem Hund und dem gefressenen Essen angezogen. Je mehr ich in Hektik verfiel, desto mehr zeigte mir das Universum, dass ich dadurch keinen Schritt schneller wurde. Ich konnte mich also auch einfach entspannen. Doch obwohl ich das wusste, wollte es mir nicht gelingen. Stattdessen stiegen nur die Angst davor, dass mir noch mehr dazwischenkam und die Sorge, niemals wieder auf einen Nulllevel in Sachen Tagesberichte zu kommen.

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Auch heute durften wir wieder durch eine weite, schöne Landschaft laufen, die leider komplett mit Müll übersäht war. Der Hund, den wir gestern kennengelernt hatten, war nicht der einzige, der von diesem Müll lebte. Er hatte viele Kollegen, die es ihm gleich machten und teilweise schienen sie sich zu wahren Müllhalden-Gangs zusammengerottet zu haben.

Auf unserem Weg durch die kleinen Dörfer fiel uns auf, dass es in diesem Land unverhältnismäßig viele Kinder geben musste. Es gab zum Teil nur wenig Häuser, aber selbst die kleinsten Dörfer hatten riesige Schulen, die immer voll mit Kindern waren. Gleichzeitig spielten aber auch immer Kinder auf den Straßen. Zunächst konnten wir uns das nicht erklären, doch dann kamen wir zu dem Schluss, dass es hier Schichtunterricht geben musste. Weil die Schulgebäude nicht ausreichten, hatten immer einige Kinder vormittags und andere am Nachmittag Unterricht. Wenn man beides zusammen nahm, dann kam man auch eine Menge an Kindern, die wir uns kaum mehr vorstellen konnten.

Je weiter wir in Richtung Osten und Süden kamen, desto mehr wandelte sich das Bild von einer ländlichen Agrarregion zu einer Ansammlung von Schwerindustrie. Das Land wurde immer wieder von einigen großen Straßen durchzogen, an denen sich alles angesammelt hatte, was zu einer modernen Zivilisation dazu gehörte. Dazwischen gab es hingegen nahezu nichts, das einer Infrastruktur gleichkam. Dummerweise führte diese Art der Verteilung dazu, dass wir fast nichts von dem nutzen konnten, was uns das Land bot, denn immer wenn wir an einen Laden, ein Restaurant oder eine Imbissbude kamen, war es so ungemütlich, dass wir nicht stehenbleiben wollten. Die einzige Ausnahme bildete heute ein italienisches Restaurant, in dem wir zwei Burger geschenkt bekamen. Der Besitzer erzählte uns, dass er eine weile in Italien gelebt hatte. Langsam zeichnete sich da eine gewisse Regelmäßigkeit ab. Fast jeder hier hatte eine gewisse Zeit seines Lebens im Ausland verbracht und diese Zeit hatte sie sowohl von der Mentalität als auch von ihrem Berufsfeld her stark geprägt. Wenn man ein italienisches Restaurant fand, dann gehörte es eigentlich immer jemandem, der in Italien gelebt hatte. Die Besitzer von Schlossereien, Handwerksbetrieben oder Autowerkstätten hatten hingegen meist eine Weile in Deutschland, Österreich oder der Schweiz gelebt.

Kurz vor einem kleinen Dorf errichteten wir unser Zelt dieses Mal an einem Waldrand. Einen Ort zu finden, an dem es vollkommen still war, war unmöglich, denn in dem flachen Land hörte man jede Straße viele Kilometer weit. Aber es war schon mal ein Platz, an dem es deutlich ruhiger war, als an den beiden vorherigen.

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Meine Tour durch den Ort bestätigte dann noch einmal mein Gefühl vom morgen. Am ersten Haus wurde ich komplett abgewiesen, was hier zulande selten vorkam. Die zweite Familie nahm mich hingegen etwas zu freundlich auf. Ein alter Mann mit nur einem Auge lud mich ein, auf der Terrasse mit ihm Platz zu nehmen, während seine Tochter und seine Frau mir etwas zu Essen zubereiten wollten. So jedenfalls verstand ich es, doch aus dem kurzen gemeinsamen Teetrinken wurde dann ein beisammensitzen von über einer Stunde. Die Kinder kamen und spielten auf der Terrasse, der Schwiegersohn unterhielt sich mit mir und alle setzten alles daran, dass ich mich wohl fühlte. Sogar eine Nachbarin kam vorbei, die ein bisschen Deutsch sprach und daher einige Zeilen übersetzen konnte. Alles war so nett, dass ich es nicht übers Herz brachte, die Sache abzukürzen und wieder zu gehen. Doch innerlich saß ich wie auf heißen Kohlen und diese machten die Hummeln langsam unruhig und nervös, die durch meinen Bauch schwirrten. Immer wieder schaute ich auf die Uhr und versuchte dann, mich irgendwie verständlich zu machen um zu sagen, dass ich nicht so viel Zeit hatte. Doch es war vergebens. Schließlich sah ich es ein und gab meinen inneren und ohnehin vollkommen nutzlosen Widerstand auf. Ich war nicht ohne Grund in diese Familie geraten. Am Morgen hatte ich mich noch gefragt, warum ich so unruhig und nervös war. Jetzt wusste ich es ohne jeden Zweifel. Und wenn ich es selbst nicht schaffte, gelassen u werden, dann musste mich das Leben eben dazu zwingen. Als ich nach rund eineinhalb Stunden wieder ging, ging ich entspannt und langsam. Es war nun eh schon egal, ob ich mich noch beeilte. Viel schaffte ich an diesem Tag nicht mehr, aber das war vielleicht auch gar nicht nötig.

Auch in Heiko wütete etwas, wenngleich es sich auf eine vollkommen andere Art und Weise zeigte, wie bei mir. Sein Magen spielte verrückt, ihm wurde schlecht und er bekam heftigen Durchfall. Lag es am Wasser? Oder vielleicht an dem Burger vom Italiener, der nicht ganz so kräftig durchgebraten war, wie es vielleicht gut für ihn gewesen wäre? Oder hatte es mit der unerbittlichen Hitze zu tun, die nun jeden Tag auf uns hereinprasselte?

Um halb sieben in der Früh war Heiko bereits so schlecht, dass er nicht mehr liegen konnte. Da ich auch bereits wach war und mich nur noch dösenderweise hin und her wälzte, beschlossen wir aufzubrechen um so zumindest der heftigen Mittagssonne aus dem Weg zu gehen.

Es war eine ganze Weile her, seit wir das letzte Mal zu so früher Stunde unterwegs gewesen waren. Die Morgensonne strich sanft über die Felder und ließ einen leichten Dunst aufsteigen, der sich weiter hinten mit dem Smog und der Luftverschmutzung der großen Industriestadt vermischte. Es war gleichzeitig ein idyllisches und vollkommen abartiges Bild, das sich da vor uns abzeichnete. Mit Worten ist es kaum zu beschreiben.

So früh wie wir starteten, kamen wir auch an unserem Ziel an. In der Hoffnung, dass die Sonne so weiterwandern würde, wie wir es berechnet hatten, bauten wir unser Zelt hinter ein paar Büschen auf. Leider lag unsere Berechnung ziemlich daneben und so verfehlte uns der Schatten der Büsche fast den ganzen Tag lang. Für Heikos Zustand war das nicht gerade förderlich, jedenfalls fühlte es sich nicht so an, denn zu seinem permanenten Schlechtigkeitsgefühl kamen nun auch noch Schweißattacken hinzu. Er versuchte dennoch, es sich so kühl und angenehm wie möglich zu machen und schaffte es sogar, einige Stunden Schlaf zu finden. Ich selbst suchte in der Zwischenzeit nach einem Platz zum Arbeiten und traf dabei einen netten jungen Mann, der recht gut englisch sprach und mich zu sich nach hause einlud, wo ich sowohl Strom als auch Internet bekam um zumindest schon einmal drei Tagesberichte einstellen zu können.

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Eigentlich hatten wir gehofft, eine Tropfsteinhöhle besuchen zu können, die hier ganz in der Nähe sein sollte und die genauso vielversprechend klang, wie die, die wir damals in Bosnien besucht hatten. Doch so wie es Heiko nun ging, erschien uns diese Idee bei weitem nicht mehr so sinnvoll zu sein. Vielleicht war es morgen ja wieder etwas besser!

Aber nein! Die Nacht wurde sogar noch schlimmer als die letzte. Heiko musste immer wieder aus dem Zelt sprinten, weil sein Durchfall so stark geworden war, dass er ihn fast nicht mehr aufhalten konnte. So heiß, wie der Tag gewesen war, so kalt wurde nun die Nacht und so kam er jedes Mal vollkommen ausgekühlt zurück. Wenn er dann warm genug war, um wieder einschlafen zu können, musste er fast schon wieder für den nächsten Schub nach draußen.

Auch ich konnte kaum schlafen und wurde von einer neuen, noch stärkeren Unruheattacke geplagt. Was war nur los, dass ich mich selbst so kirre machte?

Wieder beendeten wir die Nacht in aller Herrgottsfrühe und wanderten in der Kühle des Morgens über die Felder. Weit kamen wir nicht, denn Heiko war kurz davor, richtig schlapp zu machen. Nach ein paar Kilometern stellten wir unser Zelt zwischen zwei Maisfeldern auf und richteten es uns halbwegs gemütlich ein. Immerhin hatte ich nun genügend Zeit, um mit meinen Berichten weiterzukommen, weshalb ja zumindest die Unruhe von mir langsam einmal abfallen müsste. Doch so richtig wollte es auch heute noch nicht klappen.

 

 

Spruch des Tages: Auch Weltreisende fühlen sich einmal unwohl

 

Höhenmeter: 60 m

Tagesetappe: 21 km

Gesamtstrecke: 12.410,27 km

Wetter: regen ohne Ende

Etappenziel: Zeltplatz in einem Olivenhain, kurz hinter 87067 Rossano Stazione, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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