Tag 702: Ein Land voller Esel

von Heiko Gärtner
05.12.2015 22:19 Uhr

Kurz bevor wir die Grenze erreichten kamen wir doch noch durch ein winziges Dorf. Es war nicht so unheimlich wie das letzte, dafür aber wesentlich touristischer. Es bestand eigentlich nur aus einem kleinen Marktplatz mit einigen Verkaufsständen, einem Campingplatz und einem Kloster, das gleichzeitig als Hotel verwendet wurde. Wir stellten unsere Wagen ab und besichtigten das Klostergelände. Von hier aus hatte man einen hervorragenden Blick über den See, bis hinüber zur albanischen Seite und weit zurück bis nach Ohrid. Am spannendsten waren jedoch die vielen kleinen Eichhörnchen, die im Park ihre Nüsse verbuddelten. Das Eichhörnchen das tun weiß jedes Kind, aber wie selten bekommt man die Gelegenheit, ihnen dabei wirklich einmal zuzuschauen?

Als wir das Parkgelände wieder verlassen wollten wurden wir von zwei humorlosen Männern aufgehalten. Sie teilten uns unmissverständlich mit, dass wir auf dieser Seite nicht weiter gehen konnten, denn das angrenzende Gelände war eine Militärbasis. Die Mazedonier hatten schon einen eigenartigen Sinn für die Verteilung ihrer Infrastruktur. In einem Moment steht man noch an einem heiligen Ort, der gleichzeitig eine der größten Touristenattraktionen des Landes ist und drei Meter weiter beginnt ein militärisches Sperrgebiet. Und irgendwo in der Mitte liegt dann noch der Campingplatz, an dem sich die Urlauber tummeln.

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Auch wenn Freundlichkeit vielleicht nicht gerade seine herausragendste Eigenschaft war, war der Mann doch freundlich genug um uns einen Schleichweg zu zeigen, auf dem wir die Militärbasis umrunden konnten, ohne ganz zurück auf die Hauptstraße zu müssen. Von hier aus waren es nun nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze.

Dieses Mal merkte man den Übertritt zunächst fast gar nicht. Der Grenzposten wirkte fast eher wie einer der Souvenirstände an der Promenade, nur dass man hier nicht einfach vorbeigehen konnte, ohne seinen Ausweis zu zeigen. Danach änderte sich zunächst einmal nichts. Wieder kamen Hotels und Restaurants, die sich am Ufer aneinander ketteten. Auch hier legte man keinen Wert darauf, den Müll irgendwo zu entsorgen, wo er den Augen und Nasen der Menschen verborgen blieb. Es war sogar noch etwas schlimmer als zuvor und das obwohl wir nicht geglaubt hätten, dass es nach Mazedonien noch einmal eine Steigerung geben konnte. Der Gipfel des Umwelthohns war ein fünf Sterne Hotel, das seine Abwässer direkt vor der eigenen Eingangstür in den See leitete. Links und rechts neben dem großen Abwasserrohr standen sie Liegestühle und der hauseigene Kiosk, an dem man Eis und Süßwaren kaufen konnte, war keine drei Meter entfernt. Bereits die ersten dreißig Meter genügten also um sicher zu sein, dass das Wasser in diesem Land auch wieder nicht trinkbar war.

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Nachdem wir die kurze Hotelmeile verlassen und ins Hinterland abgebogen waren, änderte sich das Bild dann doch noch. Albanien präsentierte sich uns nun als eine Mischung aus modernem Großstadtslum und mittelalterlicher Bauernkultur. Wir waren gleichzeitig fasziniert und entsetzt davon, dass wir uns noch immer mitten in Europa befanden. Wären wir in Indien oder Pakistan gelandet, hätten wir genau dieses Bild erwartet, aber hier?

An den Flüssen türmte sich der Müll zu langen Wällen auf. Asphaltiert waren nur die Hauptstraßen, während fast alle Nebenstraßen, selbst innerhalb der Ortschaften, aus reinem Schotter und Sand bestanden. Am meisten aber beeindruckten uns die Esel. Wir hatten schon zuvor immer mal wieder einen oder zwei Esel gesehen und im Balkan war es keine Seltenheit, dass man sie als Arbeitstiere gebrauchte. Doch in dieser Menge war es etwas Neues für uns. Überall auf den Feldern standen die Menschen mit ihren Eseln. Einige zogen eine Art Pflug, andere kleine oder große Karren mit Feldfrüchten und wieder andere waren mit Körben bepackt. Wenn sie richtig arm dran waren, mussten sie sogar den Bauern tragen. Im Normalfall jedoch stand der Bauer neben dem Esel und hielt ihn am Zaumzeug, während die Frau die Feldarbeit erledigte. Vieles in diesem Land blieb uns bis zum Schluss ein Rätsel, aber die Arbeitsaufteilung verstanden wir sofort. Körperlich leichte Aufgaben übernahm der Mann, für schwere gab es die Esel und für richtig schwere hatte man ja seine Frau.

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Die Esel ersetzten die Traktoren, Autos und Fahrräder nicht komplett, aber zu einem großen Teil. Wenn man von A nach B wollte dann war es ebenso normal auf seinem Esel zu reiten oder sich auf die Kutsche zu setzen, die von einem oder zwei Eseln gezogen wurde, wie mit dem Auto oder mit dem Fahrrad zu fahren. Das einzige, was den Menschen fremd zu sein schien war es, zu Fuß zu gehen. Lieber nahm man all sein Gepäck in die Hand, setzte sich auf den Esel und zog die Beine bis zum Kinn an, damit sie nicht am Boden schleiften. Selbst wenn man dadurch einen Krampf bekam und sich drei Tage lang nicht mehr bewegen konnte, hatte man dennoch gezeigt, dass man ein kraftvolles Lasttier besaß und es nicht nötig hatte, seine eigenen Beine zu benutzen.

Wer etwas mehr Wohlstand besaß, konnte sich eine Kutsche leisten und sich hinter den Esel, oder in besonders seltenen Fällen sogar hinter das Pferd setzen.

Wir schlugen unser Zelt mitten in den Feldern auf, so dass die Straßen in alle Richtungen möglichst weit von uns entfernt waren. Es gab hier zwar weniger motorisierte Fahrzeuge als in vielen anderen Ländern, doch die die es gab, waren dafür umso lauter. Meist waren es kleine Traktoren, die eher an übergroße Rasenmäher erinnerten und deren Motoren vollkommen frei zwischen den kleinen Vorderreifen lagen. Wir hatten solche Gerätschaften auch in den anderen Balkanländern schon oft gesehen, doch hier schienen sie am häufigsten und gleichzeitig auch am lautesten zu sein. Dabei tuckerten sie ganz gemütlich mit ca. 6km/h vor sich hin, fast so als würde die Energie des Kraftstoffes eins zu eins in Lautstärke umgewandelt, so dass für Geschwindigkeit nichts mehr übrig blieb.

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Die Menschen, die ich bei meiner Essenssuche kennenlernte waren größtenteils sehr nett, doch die Verständigung mit ihnen gestaltete sich deutlich schwieriger als erwartet. Anders als im Kosovo sprach hier so gut wie niemand eine andere Sprache. Kein Deutsch, kein Englisch, kein Italienisch, ja nicht einmal Serbisch. Als einzige Kommunikationsmöglichkeit blieb also nur noch mein Zettel mit den vorbereiteten Sätzen. Dafür muss man aber sagen, war ich sehr erfolgreich.

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Weit schwieriger als die Nahrungssuche gestaltete sich jedoch die Aufgabe, Wasser aufzutreiben. Leitungswasser wäre kein Thema gewesen, doch wir wollten es nach Möglichkeit vermeiden, uns zu vergiften. Doch um Flaschenwasser zu bekommen brauchte ich Bars, Tankstellen, Supermärkte, Tante-Emma-Läden oder wenigstens einen Kiosk. Diese waren jedoch mehr als nur Mangelware. Sie waren Raritäten, mit denen man hier locker auf dem Schwarzmarkt hätte dielen können. Als ich schließlich einen Minimarkt in einer kleinen Holzhütte fand, war ich fast drei Kilometer weit gewandert. Nun hatte ich das nächste Problem, denn den Satz „haben sie eine große Wasserflasche?“ hatte ich nicht auf meinem Zettel vermerkt. Mit Händen und Füßen versuchte ich der verwirrten Verkäuferin klarzumachen, was ich wollte. Auf Wasser kamen wir schnell, doch sie hatte nur Miniflaschen im Regal und ich musste ihr irgendwie verständlich machen, dass ich einen Kanister brauchte. Schließlich verstand sie mich und kramte ganz unten aus der hintersten Ecke eines versteckten Regals einen 5l-Kanister Wasser hervor. Er musste ewig dort gestanden haben, denn die Staubschicht auf seiner Oberfläche war fast einen Zentimeter dick. Sie nannte mir einen Preis und erst in diesem Moment wurde mir klar, dass wir mit der Grenzüberschreitung auch wieder eine neue Währung bekommen hatten. Meine Mazedonischen Dinara waren hier wertlos, doch albanisches Geld besaß ich noch keines.

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„Euro?“ fragte ich vorsichtig.

„Po!“ sagte die Frau. Als Deutscher könnte man meinen, dass dies soviel war wie die Kurzform von „Leck mich am Arsch!“ aber auf albanisch bedeutete es wirklich einfach „Ja!“

Nun aber stand ich vor den nächsten Problem, den unsere Euro beliefen sich auch nur noch auf ein paar Cent. Ich schüttete alles aus was ich besaß und die junge Frau schaute es sich genau an.

„Mira!“ sagte sie dann lächelnd – „In Ordnung!“

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Ich glaube, dass ihr mein Auftritt und die ganze verworrene Situation bereits Bezahlung genug waren. Auch die Oma, die bislang schweigend in der Ecke gesessen hatte, amüsierte sich köstlich. Zum Abschied stand sie auf, gab mir die Hand und schenkte mir sogar noch einen Schokoriegel obendrauf.

So ruhig unser Platz in den Feldern zunächst auch gewirkt hatte, so sehr zeigte sich, später, dass hier ein reger Durchgangsverkehr herrschte. Ständig kamen Bauern und Hirten vorbei, schauten, staunten, fragten alle möglichen, unverständlichen Dinge und gingen wieder. Ich hatte mich zum Schreiben in den Schatten eines Baumes gesetzt, was sich im Nachhinein nicht als allzu gute Idee herausstellte. Denn dadurch konnte nun jeder sehen, dass wir Laptops bei uns hatten. Ein älterer Mann kam und fragte mich regelrecht aus. Das ich auf all seine Fragen mit „Ich verstehe dich nicht!“ antworten musste, schreckte ihn nicht ab. Er blieb einfach stehen und schaute mich an. Der zweite war sogar noch dreister und setzte sich drei Zentimeter neben mich, um mir beim Schreiben mit in den Bildschirm zu starren. Ich bat ihn mehrmals zu gehen und jedes mal nickte er höflich, um dann doch sitzen zu bleiben. Erst als ich wütend wurde und ihn anfuhr stand er auf und verabschiedete sich. Kurz darauf kam der Dritte. Er hielt zwar mehr Abstand, war aber noch weitaus unangenehmer als die anderen. Missmutig starte er meinen Computer an und wiederholte immer wieder vorwurfsvoll „Deutschland viele Geld! Viele Geld in Deutschland!“

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Eine junge Frau auf dem Fahrrad kam in diesem Moment vorbei und schaute mich mitleidig an.

„Du Depp!“ schnauzte mich meine Verstandsstimme an als der Mann verschwunden war, „wie kommst du auch auf die Idee, dich in so einem Land öffentlich mit einem teuren Computer hinzusetzen? Dass muss doch Neid wecken!“

Später am Abend kam die junge Frau noch einmal zurück.

„Darf ich euch kurz stören?“ fragte sie auf Englisch, „Ich glaube ihr habt euch hier einen sehr gefährlichen Platz ausgesucht. Ich habe vorhin mitbekommen, was der Mann gesagt hat und ich könnte mir vorstellen, dass er euch ausrauben will. Nachts ist hier draußen auf den Feldern niemand, der euch beschützen kann. Geht lieber in die Stadt und zeltet dort im Park, da ist es sicherer!“

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Wir bedankten uns für die Warnung und dachten eine Weile darüber nach. Die Sorge war nicht ganz unberechtigt, wenngleich ihre Alternatividee natürlich wahnwitzig war. Wenn es einen Platz gab, an dem wir mit Sicherheit überfallen worden wären, dann war es der Park inmitten einer Großstadt. Der Mann hatte zwar etwas zwielichtig gewirkt und er war ganz sicher kein Sympathieträger, aber er war alt und gebrechlich gewesen. Nachts würde er sich nicht hier aufs Feld hinauswagen und wenn doch dann war er kein ernstzunehmender Gegner. Wir stuften die Situation daher als sicher genug ein, um die Nacht hier zu bleiben. Doch in Zukunft würden wir genauer darauf achten, dass niemand mitbekam, was für Werte wir bei uns trugen.

Spruch des Tages: So viele Esel auf einem Haufen.

 

Höhenmeter: 180 m

Tagesetappe: 14 km

Gesamtstrecke: 12.539,27 km

Wetter: sonnig aber kühl

Etappenziel: Altes Pfarrhaus, 88833 Santa Rania, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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