Tag 721: Großlieferung

von Heiko Gärtner
27.12.2015 20:51 Uhr

Im Nachhinein betrachtet hätte uns eigentlich nichts besseres passieren können, als dass wir am Vortag so weit hatten laufen müssen. Denn nun waren es nur noch knapp drei Kilometer bis nach Torre Santa Susanna, dem Ort, in dem untere Pakete auf uns warteten. Wir erreichten die Stadt bei leichtem Nieselregen noch vor 10:00 Uhr in der Früh. Der Pfarrer war ebenfalls schnell gefunden und er versprach uns, gleich zu uns zu kommen. Wir sollten solange in der Kirche auf ihn warten. Heiko nutzte die Zeit, um einiges über Hypnose in Erfahrung zu bringen und ich machte mich daran, in unserem Diagnosebuch die Bedeutung meiner lädierten Zehen nachzuschlagen. Wie viele Male zuvor war ich auch dieses Mal wieder von uns selbst überrascht, wie zielgenau die Beschreibung aus dem Buch auf meine aktuelle Situation passte. Unter anderem trafen mich dabei vor allem die folgenden Fragen: Was zieht in meinem Leben momentan am meisten Kraft und Energie von mir ab? Habe ich Angst vor den möglichen Konsequenzen meiner Handlungen? Warum kann ich nicht zu meiner Aggression stehen? Was macht mich aggressiv? Warum gehe ich mit diesen Dingen in Resonanz? Welche eigenen Themen in mir werden durch mein Gegenüber angetickt? Da waren wir also mal wieder beim guten alten Thema der angestauten Wut.

[AFG_gallery id='219'] Ehe ich mir jedoch noch großartig Gedanken darüber machen konnte, tauchte der Pfarrer in der Tür auf und bat uns, ihn zu begleiten. Zunächst führte er uns in eine Pizzeria, in der wir uns sowohl am Mittag als auch am Abend auf Kosten der Kirche mit Essen versorgen konnten. Dann zeigte er uns ein leerstehendes Kloster, in dem wir einen kompletten Saal für uns alleine bekamen. Wir hatten also einen Festsaal mit Vollpension. Besser hätten wir es für die heutigen Vorhaben nicht treffen können. Nun wurde es spannend. Wir kehrten in die Innenstadt zurück und holten unsere Lieferung vom Postamt ab. Es waren zwei riesige Pakete, die wir zu zweit kaum tragen konnten. Hätten wir nicht gleich einen Platz in so unmittelbarer Nähe des Postamtes bekommen, dann wären wir wirklich aufgeschmissen gewesen. Kaum hatten wir die Riesenpakete in unser Quartier gebracht, begannen wir auch schon damit, alles erst einmal aufzubahren, damit wir uns einen Überblick verschaffen konnten. Der Saal hatte gute 70 Quadratmeter und in seiner Mitte befand sich eine schier endlose Tafel. Trotzdem reichte der Platz fast nicht aus, um alles nebeneinander darauf aufzutischen.

[AFG_gallery id='220'] Der Rest des Tages wurde mit Organisations- und Reparaturarbeiten ausgefüllt. Die Reifen wollten gewechselt werden, meine Bremse bekam eine neue redundante Sicherung, mein Rucksack musste geflickt werden, ebenso das Zelt. Heiko hatte sich verschiedene Materialien besorgen lassen, aus denen er einen neuen Hüftgurt entwickeln wollte, sozusagen einen verbesserten Prototyp, der unseren alten ersetzen sollte. Wenn es klappte, dann würde ich mir bei nächster Gelegenheit wohl einen ähnlichen bauen, doch erst einmal war nun Heiko an der Reihe. Ich kümmerte mich in der Zwischenzeit darum, unsere Wagen mit Rostschutzfarbe zu streichen und neue Schilder in italienischer Sprache an ihre Seiten zu kleben. Zwischendurch machten wir hin und wieder mal eine Pause um unser Essen von der Pizzeria abzuholen oder um uns mit einem der unzähligen Nusspäckchen zu stärken, die Heikos Mutter mit in die Pakete gelegt hatte.

[AFG_gallery id='221'] Als wir die Reparaturarbeiten abgeschlossen hatten, war es bereits mitten in der Nacht. Nun erst konnten wir mit den Umpackaktionen beginnen. Von unserem alten Material musste vieles aussortiert werden. Ein Teil wanderte in einen der Kartons, der am nächsten Morgen wieder nach hause geschickt werden sollte. Ein anderer Teil landete in einer großen Kiste, die später im Müllcontainer verschwand. Unsere kleine, elektronische Herdplatte, die uns so viele gute Dienste geleistet hatte, durfte nun nach hause fahren und wurde durch eine leistungsstärkere ersetzt. Das gleiche geschah auch mit unserem Benzinkocher, der nun einem Multifuelkocher Platz machte, mit dem man so ziemlich alles verbrennen konnte, was es auf dieser Welt gab. Dann machten wir uns an die Schuhe, die mit neuen Einlegesohlen versehen werden wollten. Jeder einzelne Packsack wurde noch einmal genaustens kontrolliert und alles, was irgendwie entbehrt werden konnte wurde aussortiert. Ihr glaubt gar nicht, auf was wir dabei alles stießen und das obwohl wir so sehr darauf achteten, keinen unnötigen Ballast mit uns herumzutragen.

[AFG_gallery id='222'] Dabei durchstöberten wir auch den Packsack, der uns als Badezimmer diente und den man zu einer Outdoordusche umfunktionieren konnte. Als Paulina zu uns gestoßen war, hatte sie uns unter anderem auch neue Flaschen mit MMS mitgebracht. Die Flüssigkeit, mit der man sowohl Krankheiten kurieren als auch Wasser entkeimen konnte, hatte leider auch die Eigenschaft, dass sie Kunststoffe langsam und behutsam in ihre Bestandteile auflöste. Dadurch waren die Flaschen teilweise ausgelaufen und die Flüssigkeit hatte sich in unserem Badezimmer ausgebreitet, wo sie nun begann, auch den Packsack selbst anzugreifen. Als wir das feststellten war es bereits kurz nach drei Uhr in der Nacht. Wir waren müde, erschöpft, gereizt und ausgelaugt. Heiko hatte sich zuvor sicher fünfzig Mal mit einer dicken Ledernähnadel in die Finger gestochen und die Stimmung war ganz allgemein am Siedepunkt. Dies alles zusammen führte dazu, dass die Schäden, die das MMS angerichtet hatten, bei Heiko das Fass zum Überlaufen brachten und er für einen Moment die Fassung verlor. Alles, was sich in letzter Zeit bei ihm angestaut hatte, platzte nun aus ihm heraus und traf mich wie ein harter Schlag mitten im Gesicht.

[AFG_gallery id='223'] Ein Teil seiner Wut war wirklich an mich gerichtet, weil ich es war, der den Schaden in unserem Badezimmer so groß hatte werden lassen. Dass die Flaschen nicht richtig dicht waren und dass sich daher ein dünner Schleimfilm im Packsack gebildet hatte, war mir durchaus schon aufgefallen. Ich hatte ihn nur nicht beachtet und nichts dagegen unternommen, weil ich zum einen nicht wusste, was ich dagegen hätte tun können und zum anderen stets das Gefühl hatte, nicht genügend Zeit zu haben um mich um solche Probleme kümmern zu können. Es war das alte Prinzip der Problemverdrängung, das ich noch immer gut beherrschte und dass sich früher oder später jedes Mal aufs neue wieder rächte. Das Gefühl, nicht genügend Zeit zu haben, um alles erledigen zu können, was ich erledigen wollte, führte zu jener Schludrigkeit, mit der ich mich selbst immer wieder in die Bredouille brachte.

[AFG_gallery id='224'] Doch bei der Wut über dieses Problem von mir blieb es nicht. Heikos Schreiattacke breitete sich weiter aus. Er war sauer auf meine noch immer maue Finanzlage und darauf, dass sich daran in zwei Jahren nichts verbessert hatte. Wie sollte das weitergehen? „Wie stellst du dir das vor?“ schrie er, „Willst du ewig am Existenzminimum rumkrebsten und nur auf Kosten anderer leben?“ Langsam bezog sich die Wut nicht mehr in erster Linie auf mich, sondern auf Paulina, auf sich selbst und auf verschiedenste Dinge, die in ihm wüteten. Ich selbst stand wie immer nur reglos da und nahm alles hin. Bei vielem erkannte ich, dass es nicht oder nicht in erster Linie an mich gerichtet war und so konnte ich es gut annehmen. Anderes traf mich schwerer und ich erkannte, dass ich damit in Resonanz ging, weil ich mir die gleichen Vorwürfe auch selbst machte. Dazu gehörte auch die Wut über den Datenverlust und die Tatsache, dass ich dadurch schon wieder so viele Dinge liegen lassen musste, die ich eigentlich erledigen wollte. In der Nacht, in der ich meinen Text ausversehen gelöscht hatte, war ich selbst so wütend auf mich gewesen, dass ich mich am liebsten nicht nur angeschrien sondern auch geohrfeigt hätte. Ich tat jedoch weder das eine noch das andere sondern schluckte die Wut einfach hinunter und versuchte mich zu beruhigen. Nun wo Heiko vor mir stand und mir genau das an den Kopf war, was ich mir in der Nacht im Stillen selbst vorgeworfen hatte und auch heute noch immer vorwarf, fühlte es sich fast so an als hätte ich die wütende Stimme outgesourced. Ich selbst hatte nicht losschreien können, weil ich mich zurückgehalten und die Wut in mir eingesperrt hatte. Doch rausgeschrien werden musste sie und deshalb übernahm Heiko das jetzt für mich. Da war er wieder, der Gedanke, dass wir letztlich doch alle eins sind. Jeder Mensch in unserem Leben ist ein Aspekt unseres eigenen Geistes, eine Stimme unseres eigenen Unterbewusstsein. Meistens war Heiko die Stimme der Vernunft, der Voraussicht, der Mentors oder einfach die des besten Freundes. Jetzt war er die meiner inneren Aggression.

[AFG_gallery id='225'] Nach etwa zehn Minuten war der Spuk vorbei. Eine Weile ging jeder schweigend seiner Arbeit nach. Dann beschlossen wir, dass dies die optimale Gelegenheit für ein paar Weißwürste sei und kochten uns auf unserem neuen Kocher die erste Mahlzeit. Im Grunde wussten wir beide, dass wir nicht wütend aufeinander waren, sondern viel mehr eine latente, innere Unzufriedenheit spürten. Sie rührte daher, dass wir gerade in letzter Zeit unglaublich viel über das Leben und über uns selbst erkannt hatten, vieles jedoch noch nicht anwenden konnten. Wir hatten das Gefühl, viel weiter sein zu müssen, als wir es waren und dieses Gefühl sorgte für die Unzufriedenheit. Nach dem Essen gingen wir raus in den Hof und verteilten die riesige Kiste mit Müll auf die Container in der Umgebung. Dann bauten wir unser Nachtlager auf und legten uns schlafen. Es war fünf Uhr in der Früh.

Spruch des Tages: Vielen Dank an alle Helfer, Spender und Sponsoren!

Höhenmeter: 560 m Tagesetappe: 32 km Gesamtstrecke: 12.883,27 km Wetter: sonnig Etappenziel: Zeltplatz in den Bergen hinter 98047 Saponara, Sizilien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.