Tag 726: Unser zweites Weltreiseweihnachten - Teil 3

von Heiko Gärtner
27.12.2015 23:27 Uhr

Fortsetzung von Tag 725:

Ich hatte mir in den letzten Wochen oft die Frage gestellt, ob ich zu Weihnachten den Kontakt zu meinen Eltern wieder aufnehmen wollte. Zumindest ein kleines bisschen. Nur hatte ich dabei eher an eine freundliche und gefühlvolle SMS gedacht, die mehr enthielt als nur "Frohe Weihnachten!" Doch für ein richtiges Telefongespräch war ich offenbar noch nicht bereit. Dafür war unser Verhältnis noch immer zu angespannt und ich war noch immer zu unsicher über die Absichten, die meine Mutter damit verfolgte. Ging es wirklich darum, einen herzlichen und ehrlichen Kontakt aufzunehmen, oder nur darum, die alte, oberflächliche und manipulative Beziehung wieder aufzunehmen? Ich weiß es nicht und wahrscheinlich war dies genau der Grund, warum ich so eine Angst vor dem Gespräch hatte. Was war, wenn wir damit nur wieder in die gleichen Schleifen gerieten? Wenn sich nichts verändert hatte und das ganze Spiel wieder von vorne begann? Wollte ich das wirklich? War das wirklich die Art von bereicherndem Kontakt, die ich mir vorstellte? Mein eigenes Energielevel, das ich nach dem Beinahegespräch fühlte, sagte da etwas anderes. Stress, Herzrasen, Schweißausbrüche, Nervösität und Handlungsunfähigkeit waren wohl kaum Anzeichen für einen positiven und bereichernden Kontakt. Vieleich war es einfach noch immer zu früh für einen zweiten Versuch. Ich antwortete mit einer SMS, in der ich das Problem mit unserem Handy schilderte und schickte sie ab. Zunächst wollte sie überhaupt nicht rausgehen und als es schließlich klappte, bekam ich kurz darauf eine SMS zurück. Meine Nachricht musste unzählige Male hintereinander angekommen sein, so als spielte nun das komplette Handynetz verrückt. Von einer entspannten, lockeren Athmosphäre zwischen uns kann man also wohl eher nicht sprechen. Aber was immer da auch ist, es scheint genug Kraft zu haben, um eine ganze Telefongesellschaft aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wir nahmen diesen etwas ungewöhnlichen Austausch von Weihnachtsgrüßen als Anlass, um noch eine weitere und letzte Fonduerunde einzulegen, bevor wir uns dann erneut hinlegten. Kurz vor zwölf begann ein lautes, verstörendes Glockengebimmel, das die Mitternachtsmesse einleutete. Wenige Minuten später gab es ein lautes Gepolter vor unserem Fenster. Es klang als würden Stahlträger herumgeworfen. Menschen schrien durcheinander und dann schlug jemand wie verrückt gegen unsere Scheibe. Was war denn jetzt wieder los? Konnte man hier nicht einmal am Heiligen Abend seine Ruhe haben, ohne von irgendwelchen Verrückten gestört zu werden? Als wir hinaussahen erblickten wir den Bürgermeister und einen seiner Helfer. Jeder von ihnen hatte einen Kuchen in der Hand, die sie uns zur Feier des Tages schenken wollten. Der Gehilfe balancierte dabei auf einigen Stahlstangen, um näher an unser Fenster zu kommen. "Ist alles in Ordnung bei euch?" fragte der Bürgermeister, "gefällt euch der Platz?" Ich nickte und bedankte mich für den Kuchen. Es war ja nett gemeint, wenngleich es eine wirklich abstrakte Art war, jemandem einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. "Gefällt euch der Platz?" Was für eine Frage? Nach einer Stunde Wartezeit hatte er uns eine alte, verfallene und eiskalte Ruine aufgetrieben, die so dreckig war, dass man den Boden nicht einmal mit seinen Schuhen berühren wollte. Eine Glanzleistung war es also nicht gewesen und die Idee, dafür noch eine direkte Belobigung einzufordern kam uns doch etwas übertrieben vor. Andererseits hatten wir hier unsere Ruhe, mussten mit niemandem reden, mit dem wir nicht reden wollten, hatten keinerlei Verpflichtungen und konnten machen was wir wollten. Also ja, im Großen und Ganzen gefiel uns dieser Platz. Außerdem passte er ein bisschen zu dem vom letzten Jahr und somit hatten wir eine weitere Weihnachtsreisetradition, die aufrecht erhalten wurde.

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1. Weihnachtstag Unser erster Weihnachtsfeiertag wurde schon fast wieder ein tag wie jeder andere. Wir wanderten durch die Berge und bewegten uns immer weiter auf die Flachebene zu, die wir vor einigen Tagen verlassen hatten. Es war eine ruhige und schöne Strecke und sie war angenehm kurz und unanstrengend. Auch mit dem Schlafplatz hatten wir heute wieder mehr Glück. Nach der Mittagsmesse trafen wir einen Pfarrer, der uns einen Kommunionsschulungsraum zur Verfügung stellte. Die Sache müsse zwar noch mit dem Hauptpfarrer abgeklärt werden, aber fürs erste könnten wir hier bleiben. Im unwahrscheinlichen Fall, dass der Vorgesetzte nein zu unserer Anwesenheit sagte, würde uns der Pfarrer dann bei sich zu hause aufnehmen. Wir waren also in guten Händen. Eigentlich wären wir zum Mittagessen auch noch von einer alten Dame eingeladen worden, die uns in ihre Familie mit aufnehmen wollte. Doch wir waren froh, etwas Zeit für uns zu haben und wir hatten noch immer reichlich Essen von gestern übrig. So verbrachten wir den Nachmittag alleine für uns genossen unsere Abgeschiedenheit. Unser heutiges Quartier war weit sauberer und ordentlicher als das letzte, obwohl auch dieses einige Features hatte, bei denen man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen musste. Wie konnte man beispielsweise Fenster konstruieren, unter denen ein Spalt von über einem Zentimeter war? Oder ein Badezimmer, dass aus einer Klo-Dusche bestand und das gut zwanzig Zentimeter höher lag, als der Rest der Etage. Wenn man hier duschen wollte überflutete man nicht nur die Toilette, sondern gleich alles. Passenderweise lag der Abfluss, durch den das Wasser im Duschklo eigentlich hätte abfließen sollen hinter der Toilette versteckt an einer Stelle, die etwa drei Zentimeter höher war, als der Rest des Fußbodens. Das Wasser musste also unter der Tür durch in den Flur fließen. Selbst wenn es das selber gar nicht wollte. Das Badezimmerfenster hingegen bestand lediglich aus einem vergitterten Loch in der Wand. Offensichtlich hatten die Bauherren verstanden, dass sie einfach kein Talent dafür hatten, dichte, funktionsfähige Fenster zu verbauen und so hatten sie es hier nicht einmal mehr versucht. Langsam wurde uns bewusst, warum man auf der Welt so selten von der legendären, hochqualitativen, italienischen Handwerkskunst hörte. Ihr Talent in Sachen Baukunst war wohl mit dem römischen Reich untergegangen. Vor dem Einschlafen merkten wir, dass auch die Elektriker nicht gerade Helden sein konnten. Zum einen wurden Stecker, die man in eine Steckdose steckte so heiß, dass man sich die Finger daran verbrennen konnte und zum anderen gab es hier drei Lampen, für die es keinen passenden Lichtschalter gab. Bei zweien war das kein Problem. Sie waren aus und man konnte sie einfach nicht nutzen. Die dritte jedoch war an und es gab keine Möglichkeit, sie auszuschalten. Wirklich keine! Auch keine die gut versteckt war und die man erst ewig suchen musste. Die einzige Möglichkeit unser Zimmer doch noch abzudunkeln war es auf einen wackeligen Klappstuhl zu klettern, von dort aus auf einen noch wackligeren Holzbock zu steigen und dann die Glühbirne mit den Fingerspitzen herauszudrehen. Es ging doch nichts über einen kleinen Nervenkitzel vor dem Einschlafen, vor allem wenn es sich bei der Glühbirne um eine Quecksilberlampe handelt. Wer hätte gedacht, dass in diesem Land sogar das Lichtausschalten zu einem Abenteuer werden kann.

[AFG_gallery id='239'] 2. Weihnachtstag Jede Kultur hat so ihre eigenen traditionellen Abläufe, mit denen sie die Weihnachtsfeiertage gestaltet. In Deutschland sind der erste und zweite Weihnachtstag meist Familientage, an denen man sich gegenseitig Besucht, reichlich isst und zwischendurch ein bisschen spazieren geht, auf der Terrasse beisammen sitzt, wenn es das Wetter erlaubt oder einen Schneemann baut, wenn die Weihnachten weiß sind. Die Vormittage verbringt man meist mit der Vorbereitung des Mittagessens und der Nachmittage oder man schläft aus, weil die Feier am Vortag doch wieder länger gedauert hat. In Italien läuft das etwas anders ab. Hier verbringt man seine Weihnachtstage ruhig und besinnlich mit den Dingen, die man am liebsten tut. Beim Orangenpflücken zum Beispiel, oder bei der Olivenernte, beim Baumschneiden, Rasenmähen, Autowaschen oder mit der Jagd auf Vögel und andere potentielle Weihnachtsbraten. Der Familie scheint man hier so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen und beschäftigt sich lieber mit Dingen, die auch anderen Familien die Weihnachtstimmung bestmöglich ruinieren. Ein alter Mann, der uns auf dem Weg begegnete, führte gerade seine laufende Kettensäge spazieren. Es war kein Baum in der Nähe, den er hätte fellen können und er wirkte auch nicht wie ein brutaler Schlächter. Er war einfach ein Mann, der die Botschaft von Weihnachten ernst nahm und sich die Frage gestellt hatte: "Mit wem möchtest du deine Feiertage am liebsten verbringen? Wen magst du am meisten? Zu wem hast du eine wahre, tiefe und echte Seelenverbinung?" Die Antwort war einfach: Seine Kettensäge! Und so machte er sich auf einen Spaziergang mit ihr und zeigte ihr die Welt außerhalb seines kleinen Olivenhains. Ein weiter Mann ging da etwas anders vor. Er schien sich nicht mehr recht an den Sinn von Weihnachten erinnert zu haben und es spukten ihm nur noch vereinzelte Gedanken im Kopf herum. "Irgendetwas besonderes war doch an diesem Tag! Irgendetwas mit Bäumen! Was war denn das? Achja, richtig! Man geht raus und schneidet seine Bäume zurecht!" Genau das tat er dann auch. Auf unserem Weg in unsere Zielortschaft sahen wir noch einige weitere sonderbare Weihnachtsbeschäftigungen. Es wirkte fast, als hätten die Menschen hier beschlossen, die alten Traditionen umzukehren und an allen Arbeitstagen Urlaub zu machen, um dann an den Feiertagen zu arbeiten. Der Vorort von Rosarno bestand aus einem Container-Dorf, das ausschließlich von afrikanischen Männern bewohnt war. Frauen sahen wir keine. Viele der Männer kamen uns auf Fahrrädern entgegen und schauten uns zunächst missmutig an. Wenn wir sie jedoch grüßten und damit zu erkennen gaben, dass wir keine Italiener waren, dann wurden sie plötzlih freundlich und ihre Augen leuchteten auf. Sie schienen mit den Einheimischen hier genauso abgeschlossen zu haben wie wir und mieden den direkten Augenkontakt um den nervraubenden Smalltalk-Gesprächen aus dem Weg zu gehen. Später fragten wir den jungen Mann, der uns unseren Schlafplatz zeigte, was es mit dem vorgelagerten, afrikanischen Dorf hier auf sich hatte. "Die leben hier nicht, die arbeiten hier nur!" meinte er abfällig, "Sie wohnen ja auch nicht richtig in der Stadt, sondern davor. In der Stadt haben wir genügend andere Ausländer aus Rumänien und so, die uns schon genug Probleme bereiten. Die Afrikaner machen keine Probleme. Das sind nur Arbeiter." Doch seine ablehnende Haltung gegenüber Ausländern bezog sich nicht nur auf Rumänen und Afrikaner. Wir kamen ebenfalls nicht viel besser dabei weg. Der Mann war nicht der Hauptspfarrer, sondern nur irgendein Gehilfe, der das Pfarrhaus verwaltete. Als ich mit ihm sprach wollte er mich zunächst wieder auf den späten Nachmittag vertrösten, da er alleine nichts entscheiden dürfe. Er konnte ja nicht einfach irgendwelche Fremden hier ins Haus lassen. Es kostete mich eine knappe halbe Stunde und all meine Überredungskünste um ihn dazu zu bewegen, seinen Chef auch nur einmal anzurufen. Der Hauptpfarrer lebte in Seminaria, also in dem Ort, an dem wir Heilig Abend verbracht hatten. Selbst wenn wir ihn persönlich nicht getroffen hatten, kannte er uns also zumindest vom Hörensagen und so sollte er ja eigentlich kein großes Problem sein. Doch der Gehilfe wandt sich wie ein Aal, bis er sich endlich erbahmen konnte, den Höher in die Hand zu nehmen. Zwei Minuten später hatten wir das OK. Einen Raum konnten wir bekommen. Der Haken war nur, dass er zwischen vier und acht von den Kindern der Stadt als Spielwiese verwendet wurde. Das bedeutete vier Stunden Terror und Kleinkrieg. Mit etwas Glück bekommen wir für diese Zeit noch einen anderen Raum vom Pfarrer pesönlich. Wenn nicht, dann haben wir wohl kaum eine Chance, auf einen stillen, friedlichen und heiligen Ausklang des Weihnachtsfestes.

Nachtrag: Es ist nun 17:36 Uhr. Der Pfarrer ist zunächst nicht aufgetaucht und auch die Kinder blieben aus. Eine halbe Stunde nach der angekündigten Startzeit des Kinderprogramms tauchte der junge Mann mit einem kleinen Mädchen auf und begannen damit, Zuckerwatte für die ganze Kinderschar zu machen. Vorsorglich riss der Mann auch schonmal alle Fenster auf, die Heiko so feinsäuberlich geschlossen hatte. Innerhalb von Sekunden sank die Raumtemperatur um etwa acht Grad. Bereits zuvor hatten wir uns schon in all unsere Jacken gehüllt und uns Plastikflaschen mit heißem Wasser unter die Pullover gestopft, um nicht zu erfrieren. Jetzt war es so kalt, dass unsere Finger auf der Tastatur festfroren. Wir traten deshalb den Rückzug an und setzten uns in die Kirche. Doch auch dort konnten wir nicht lange bleiben, denn kurze Zeit später begann der Rosenkranz. Erst vor ein paar Minuten tauchte der Pfarrer auf und gab uns einen Raum hinter der Kirche, in dem wir bleiben können, bis die Kinder unser Schlafquartier wieder freigeben.

Zweiter Nachtrag: Um kurz vor acht waren noch immer alle Kinder da. Wir spielten Frisbee auf dem Hof um die Zeit zu überbrücken, bis wir wieder für uns sein konnten. Damit lockten wir die Kinder nach und nach zu uns, die alle rlativ gelangweilt waren. Wenn man ihnen Angebote machte und ihnen zeigte, dass man sich auch freudig mit etwas beschäftigen konnte, dann konnten sie sogar recht erträglich sein. Sie wussten nur einfach nichts mit sich anzufangen. Erschreckend war jedoch, dass sie keinerlei Körperspannung und auch keine Aufmerksamkeit besaßen. Mehrfach hatten wir Angst, dass wir sie mit der Frisbee erschlagen würden, weil sie einfach ohne zu schauen in sie hineinliefen. Um acht sollte eigentlich Feierabend sein, doch bis um halb neun geschah gar nichts. Dann fiel dem Betreuer ein, dass er gemeinsam mit den Kindern und mit uns noch zu Abend essen wollte. So wurde es schließlich halb zehn, bis wir endlich unsere Ruhe hatten. Davor drehten die Kinder noch einmal voll auf, schrien, kreischten und heizten auf Rollschuhen durch die Hallen, die Küche und die Toiletten. Wir waren nur noch genervt und wollten unsere Ruhe haben. Doch am meisten ärgerten wir uns darüber, dass wir schon von der ersten Sekunde an gewusst hatten, dass es genau so enden würde und das wir uns trotzdem darauf eingelassen hatten.

Spruch des Tages: Und da ist Weihnachten auch schon wieder vorbei.

Höhenmeter: 110 m Tagesetappe: 15 km Gesamtstrecke: 12.988,27 km Wetter: sonnig Etappenziel: Oratorio, 89025 Rosarno, Italien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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