Tag 729: Buddha und die Hupe

von Heiko Gärtner
29.12.2015 21:38 Uhr

Am Morgen trafen wir uns mit dem Pfarrer noch einmal in seinem Büro. Er gab uns einen neuen Stempel in unsere Pilgerpässe und die Adresse eines befreundeten Bischofs in Sizilien. Dann brachen wir auf und wanderten immer tiefer in die Berge hinein. Es war unglaublich schön hier, wenn auch ordentlich anstrengend. Auf halber Strecke durchquerten wir ein verlassenes Tal voller Weinfelder, das im Licht der Herbstsonne rot-gold schimmerte. Außer uns gab es hier nur einen einzigen Bauern, der mit seinem Traktor ein Feld umpflügte. Leider reichte dieser eine Motor aus, um das gesamte Tal mit einem recht unerfreulichen Knattern zu erfüllen. Auf dem Weg zur Stadt mussten wir dann wieder einen steilen Berg hinaufsteigen. Hier wurde das Knattern des Traktors von zwei Militärflugzeugen übertönt, die über der Stadt ein Manöver probten. Immer und immer wieder kreisten sie über unsere Köpfe, entfernten sich dann ein Stück und näherten sich dann wieder aufs Neue. Wieso mussten sie ihre Manöverübung ausgerechnet hier über der Stadt und über diesem Tal machen? Dreihundert Meter weiter hätten sie über dem offenen Meer fliegen können, wo es niemanden gestört hätte. Außerdem war es dort nicht so gefährlich, wenn bei der Übung etwas schief gehen sollte. Wenn sie hier bei ihren waghalsigen Manövern abstürzten, dann landeten sie direkt in den Häusern und rissen hunderte von Menschen in den Tod. Außerdem nervten sie ein ganzes Tal mit unzähligen Tieren und rund 100.000 Menschen. Denn die Stadt, in die wir gerade gingen war ja nicht die einzige, die in ihrem Schallradius lag. In Deutschland wäre so ein Verhalten des Militärs sicher nicht möglich gewesen. Nach dem ersten Versuch hätte es einen Volksaufstand gegeben und man hätte erwirkt, dass die Tests über unbewohntem Gebiet stattfinden müssten. Hier aber war Lärm ohnehin eine Normalität und so regte sich über die zusätzliche Lautstärke aus dem Himmel niemand mehr auf.

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Als Schlafquartier diente uns heute ein Cappuccino-Kloster, ganz oben ab höchsten Punkt des Dorfes auf dem Berggipfel. Der Superior war ein wenig unentspannt und verbreitete eine Hektik, für die man eigentlich keine Ursache erkennen konnte. Direkt neben der Eingangstür des Klosters hing ein Schild mit der Aufschrift: „Stille preist den Herren!“ Kein dummer Satz, aber die Mönche selbst schienen wohl nicht allzu viel davon zu halten. Leider gehörte es offenbar zur Pflicht aller Klosterinsassen, die Messe zu besuchen und so wie es aussah, konnten wir uns nicht davor drücken. Um 18:00 Uhr gingen wir daher hinunter in die Kirche und stellten uns unserer Verpflichtung. Zu unserer Überraschung war der Superior, der so sehr auf die Wichtigkeit des Gottesdienstes gedrängt hatte, selbst nicht anwesend. Er schien gewusst zu haben, dass sich der Besuch nicht lohnte. Es war grauenvoll! Auch die Mönche, die den Gottesdienst abhielten waren so unmotiviert, dass es kaum auszuhalten war. Wie ein Kaugummi zog sich die Zeit in die länge und wollte einfach nicht enden. Als wir es dann doch geschafft hatten, mussten wir feststellen, dass man uns aus unserem Wohnkomplex ausgesperrt hatte. Zum Dank dafür, dass wir so fromm in die Kirche gegangen waren, mussten wir nun auch noch in der Kälte stehen. Für uns stand damit fest: Das machen wir nicht noch einmal mit. Wir waren, was Gottesdienste anbelangte erst einmal wieder geheilt. Auch das Abendessen war wieder so abstrakt, wie wir es von anderen Klöstern her gewohnt waren. Es gab zwar keine vergorenen Salate und auch kein knüppelhartes Brot, für das man einen Waffenschein brauchte, wie damals bei den Orthodoxen in Bosnien, aber ein wirklicher Genuss war es auch hier nicht. Der Speisesaal war eine große Halle in der sich die Mönche gleichmäßig in die Ecken verteilt hatten, so dass man schreien musste, wenn man sich unterhalten wollte. Zum Essen gab es winzige Portionen, die von der Köchin am Mittag zubereitet worden waren und die sich die Mönche nun in der Mikrowelle wieder aufgewärmt hatten. Wie sie bei dem Essen so dick werden konnten war uns ein Rätsel. Wahrscheinlich hatte jeder in seinem Zimmer ein geheimes Lager eingerichtet, das bis unter die Decke mit Süßigkeiten gefüllt war.

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In der Früh brachen wir bereits lange vor dem Klingeln unseres Weckers auf. Nach den vielen Monaten, die wir im Balkan in vollkommener Freiheit gelebt hatten, fühlte sich dieses Kloster mit seinen sonderbaren Regeln seltsam beengend an. Es kam uns fast ein bisschen wie ein Gefängnis vor, weshalb wir froh waren, es wieder verlassen zu können. Außerdem lag eine Etappe mit 27km und einigen Steigungen vor uns, so dass es insgesamt nicht verkehrt war, ein bisschen früher zu starten. Das Wetter war angenehm und es wurde eine richtig schöne Wanderung. Oben auf den Hügelketten kamen wir wieder an mehreren Windrädern vorbei. Dieses mal gingen wir sogar in unmittelbarer Nähe darunter hindurch. Die Turbinen in den Windradköpfen machten ein lautes Surrgeräusch, deutlich lauter und intensiver als wir es je bei deutschen Windkrafträdern gehört hatten. Es schien extra so gebaut worden zu sein, damit es dieses Geräusch macht, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre. Es wirkte, als müsste man die Italiener durch dieses Geräusch davon überzeugen, dass im Inneren des Windrades auch wirklich etwas passiert. Ähnlich wie Menschen ja auch laute Staubsauger brauchen, damit sie glauben, dass ihr Teppich durch sie wirklich sauber wird. Als wir in der Kirche eintrafen war der Pfarrer zunächst nicht da. Einige Handwerker und eine Frau, die den Kirchenplatz fegte, gaben uns jedoch seine Nummer und organisierten uns einen Schlafplatz in einem Gemeinderaum. Gerade als wir uns hier eingerichtet hatten, kam der Pfarrer nach hause und lud uns in sein eigenes Haus ein. Zunächst wollten wir ablehnen, weil wir uns hier ja schon eingerichtet hatten, doch als er uns mitteilte, dass es in einer knappen halben Stunde nur so vor Kommunionskindern wimmeln würde, waren wir mehr als bereit für einen Umzug. Er zeigte uns zwei Gästezimmer mit je einem eigenen Bad und meinte, wir sollten uns wie zuhause fühlen. Er selbst habe noch einiges vor und könne deshalb nicht bleiben. Dann verschwand er und ließ uns für den Rest des Nachmittages allein. Was für ein Vertrauen! Allein auf der Anrichte im Flur lagen rund 1000€ in großen Scheinen herum und er machte sich nicht einmal Gedanken, ob er sie vielleicht wegnehmen sollte. Erst spät am Abend kehrte er zurück. „Ich habe bereits mit der Kommunionsgruppe gegessen, aber wenn ihr wollt, dann könnt ihr euch in meiner Küche etwas kochen!“ sagte er, „Fühlt euch einfach wie zuhause!“ Erst am nächsten Morgen kamen wir dann etwas tiefer ins Gespräch. Wir unterhielten uns fast eine Stunde lang und kamen leider erst im nachhinein auf die Idee, dass wir in dieser Zeit nebenbei auch hätten frühstücken können. So verließen wir das haus dann erst am späten Vormittag und mit vollkommen leerem Magen. Anders als gestern war die Wegstrecke heute leider nicht besonders schön und wir mussten an mehreren Hauptstraßen, Zuglinien und Autobahnen entlang. Auch dies war eine Eigenheit von Süditalien. Man konnte zwar immer wieder auf Nebenstrecken ausweichen, aber an bestimmten Punkten lief alles wieder zusammen, so dass man dann keine Wahl mehr für seinen Weg hatte.

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Kurz bevor wir aus dem lauten Tal wieder nach oben in die Berge aufsteigen wollten, hielt ein Auto neben uns an. Wir dachten schon, dass es auf das übliche Angequatsche a´la „Wo kommt ihr her, wo wollt ihr hin?“ hinauslaufen würde, doch dieses Mal war es anders. Der Fahrer hielt uns eine große Papiertüte hin und meinte: „Ihr seht aus, als könntet ihr etwas Stärkung brauchen, bevor ihr euch diesen Berg hinauf wagt! Keine Angst, es sind lauter frische Sachen! Guten Appetit!“ Dann fuhr er weiter. Die Tüte enthielt verschiedenste Gebäckstücke, die tatsächlich genau das waren, was wir jetzt als Stärkung brauchten. Denn auch hier gab es wieder einmal keine Serpentinen sondern nur eine gerade Straße, die fast senkrecht 200 Meter nach oben führte. Dort suchten wir uns einen schönen Platz unter einem Olivenbaum und machten erst einmal eine ausführliche Verschnaufpause. Hinter einem der Bäume lugte vorsichtig eine kleine Katze hervor. Sie schaute uns neugierig an, zog sich aber immer wieder zurück, wenn wir sie bemerkten. Wie entspannt doch so eine Katze war, im Vergleich zu den vielen Hunden, die keine Chance ausließen um jeden Fremden anzubellen. Es dauerte einen Moment, bis sie sich an uns gewöhnt hatte, dann verlor sie ihre Angst und ihr Interesse und legte sich neben uns in die Sonne zum Dösen. Wir machten es ihr gleich und schlossen ebenfalls eine Weile unsere Augen. Dann wurden wir jäh durch ein schrilles Hupen aus dem Halbschlaf gerissen. „Ganz genau!“ sagte ich ärgerlich in Richtung des Autofahrers, „das ist es, worüber sich jeder Mensch auf dieser Erde freut: Ordentlich angehupt werden, wenn man gerade ein Schläfchen unter einem Olivenbaum macht. Mann, was hatte Buddha damals für ein Glück, dass es zu seiner Zeit noch keine Autos und Hupen gab! Stell dir mal vor, wie es ihm ergangen wäre, wenn er in der heutigen Zeit gelebt hätte. Er wäre wahrscheinlich vollkommen durchgedreht. Da sitzt er wochenlang vollkommen regungslos, ohne einen Schluck Wasser oder etwas zu Essen unter einem Baum wie diesem hier und ist endlich kurz davor, die Erleuchtung zu finden. Und dann kommt so ein dahergelaufener Autofahrer, drückt ordentlich auf die Hupe und alles ist beim Teufel! Das muss einen doch fertig machen! Erleuchtung hin oder her, ich bin mir sicher, er wäre dem Kerl erst einmal an die Gurgel gesprungen, bevor er einen zweiten Versuch unternommen hätte!“

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Der unsanfte Weckruf hatte aber auch etwas Positives. Denn die kleine Katze hatte unsere Unaufmerksamkeit genutzt um sich an Heikos Wagen zu schleichen, auf dem sich unsere gesamten Essensvorräte befanden. Nun konnten wir gerade noch sehen, wie sie mit einem eleganten Sprung auf dem Wagen landete und eine kleine Beute ergatterte, die sie mit sich nach unten zerrte. Ich wollte schon aufspringen und sie aufhalten, doch Heiko hielt mich zurück. „Keine Angst“, meinte er, „Sie hat sich bloß das Stück Papier geklaut hatte, in dem der Käse eingewickelt war, den wir schon aufgegessen haben! Ich weiß zwar nicht, was sie damit will, aber wenn sie es möchte, kann sie es gerne haben.“ Das Zieldorf, das wir heute erreichen wollten, lag nur knapp oberhalb von der Position, an der wir unsere Pause gemacht haben. Doch es gab eine weitere Eigenheit in diesem Teil von Italien, die einem das Wandern erschwerte. Vor so gut wie jedem Dorf gab es eine Schlucht oder ein Tal. Es war meist versteckt, so dass man es erst in letzter Sekunde sehen konnte, doch es war jedes Mal das gleiche. Immer wenn man glaubte, man habe sein ziel fast erreicht, musste man noch einmal tief hinabsteigen und dann auf steilen Pfaden ganz nach oben kraxeln. Erst oben auf dem Gipfel begann dann das eigentliche Dorf.

Spruch des Tages: In der ruhe liegt die Kraft. Höhenmeter: 190 m Tagesetappe: 11 km Gesamtstrecke: 13.026,27 km Wetter: sonnig Etappenziel: Pfarrhaus, 89900 Vibo Valentia, Italien
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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